• 20.03.2022

Ein Schritt in die richtige Richtung: TERRE DES FEMMES begrüßt die Veröffentlichung der „Bestandsaufnahme Konfrontative Religionsbekundungen in Neukölln“ des Vereins DeVi

Grafik: © Miriam Barton © Miriam Barton

Der Verein für Demokratie und Vielfalt in Schule und beruflicher Bildung (kurz: DeVi e.V.)[1] hat eine Bestandsaufnahme sowie ein Konzept für eine Anlauf- und Dokumentationsstelle konfrontativer Religionsbekundungen veröffentlicht. Von Mitte Oktober bis Ende Dezember 2021 wurden dazu qualitative Befragungen mit Lehrenden und SozialpädagogInnen an zehn Neuköllner Schulen durchgeführt.

Die Bestandsaufnahme geht auf konfliktive Vorfälle an Schulen ein. Insbesondere wird der Fokus auf die Verknüpfung von konfrontativen Religionsbekundungen und Islamismus gelegt. Religiös begründete menschenrechts- und demokratiefeindliche Tendenzen, z. B. durch den politischen Islam, werden kritisch betratet. Der Stadtteil Berlin-Neukölln wirkt mit seinen teils segregierten Milieus, sogenannten „Brennpunktschulen“ und einer fast homogenen SchülerInnenschaft an den Schulen als verstärkender Faktor.

„Religion ist eine Form von Machtinstrument.“

Die Bestandsaufnahme hat drei Hauptkonfliktfelder identifiziert: Elternhäuser, konfrontative Religionsbekundung sowie Geschlechterrollen sowie geschlechtliche Identität und Sexualität.

Befragten zufolge sei bei den SchülerInnen eine stark zementierte Geschlechterrolle sowie die Vorstellung eines traditionellen Rollenbildes der Frau zu beobachten, wie etwa dass diese Zuhause bleibt, die Kinder betreut und keinen Beruf ausführt. Die Mutterrolle wird extrem aufgewertet sowie die Heirat, die eine große „Ehre“ für die Familie darstellt und durch Anerkennung geprägt ist. Des Weiteren werden Mädchen teilweise der Schwimm- und Sexualkundeunterricht oder auch der Fahrradführerschein von ihren Eltern verwehrt. Diese geschlechtsspezifische Diskriminierung hat zur Folge, dass die Mädchen in ihrer freien Persönlichkeitsentfaltung eingeschränkt werden und das Erlernen neuer Fähigkeiten erschwert wird. Häufig seien Konflikte nicht zwangsweise religiöser Natur. Eine Lehrkraft erzählt: „Religion ist eher eine Form von Machtinstrument, mit der man versucht, seine persönlichen Sichtweisen (...) mit Nachdruck in den Vordergrund zu schieben.“.

Durch die Einhaltung gewisser konservativer-islamischer Werte erfahren die Jungen und Mädchen innerhalb ihres Umfeldes eine hohe Wertschätzung. Dies hat einen Einfluss auf den Umgang der Jungen mit ihren Klassenkameradinnen und Lehrerinnen. Immer wieder kommt es zu Konflikten bezüglich Kleidungsvorschriften, Gebets- und Fastenregeln. Ebenso berichten mehrere Lehrende von religiösem Mobbing nicht nur unter muslimischen SchülerInnen, sondern auch zwischen muslimischen und nicht-muslimischen SchülerInnen. Besonders betroffen von religiösem Mobbing sind alevitische Kinder.

„Das Kopftuch macht stiller.“

Eine Interviewte erzählt, dass ein Schüler syrischer Herkunft eine Mitarbeiterin mit muslimischem Migrationshintergrund angegriffen und erklärt habe, er könne sie nicht respektieren, weil sie kein Kopftuch trage. Mädchen legen das sogenannte Kinderkopftuch an, um nicht ausgeschlossen zu werden oder um mehr Anerkennung zu erhalten. „Das Kopftuch macht stiller.“, beobachtet eine Lehrkraft. Mädchen würden sich demnach stärker zurückziehen und weniger lebhaft am Unterricht teilnehmen.

TERRE DES FEMMES fordert deshalb eine bundesweite Regelung zum sogenannten Kinderkopftuch in öffentlichen Bildungseinrichtungen. Öffentliche Schulen müssen allen SchülerInnen eine selbstbestimmte und freie Persönlichkeitsentwicklung ermöglichen und als staatliche Institutionen religiös-weltanschauliche Neutralität garantieren.

Das Fasten und Gebetszeiten werden zum Problem, wenn diese als Ausrede genutzt werden, um nicht am Unterricht teilzunehmen. Zudem werden moralische Vorstellungen benutzt, um sozialen Druck bei MitschülerInnen zu erzeugen. „Nur der ist ein richtiger Moslem, der auch fastet.“ Gebetszeiten werden strikt eingehalten, sodass dem Unterricht ferngeblieben wird.

„Im schlimmsten Fall verleugnen sie sogar die eigenen kulturellen Wurzeln.“

Die konfrontativen Religionsbekundungen beziehen sich neben den Lebensregeln des politischen Islams auf den Umgang mit anderen Religionen und Minderheiten und weisen vereinzelte Radikalisierungstendenzen auf. Der geplante Besuch von Kirchen oder Synagogen wird häufig von Eltern und SchülerInnen abgelehnt. Das Judentum wird als „Reizthema“ betitelt. SchülerInnen anderer Religionszugehörigkeit verhalten sich zurückhaltend, wenn sie im Klassenverbund stark unterrepräsentiert sind. Eine Lehrkraft äußerte sich dazu besorgt: „Im schlimmsten Fall verleugnen sie sogar die eigenen kulturellen Wurzeln.“. Homosexualität und Transsexualität werden von vorneherein abgelehnt und sind mit Stigmata behaftet.

Eine wachsende Einflussnahme der konservativ geprägten Moscheen auf die SchülerInnen wird als bedenklich von den Interviewten geäußert. Werte wie Selbstbestimmung, Offenheit und Gleichberechtigung werden durch patriarchale Strukturen und traditionelle Denkweisen ersetzt. Auch die Kommunikation zwischen den Schulen und Elternhäusern wird oft als schwierig bewertet. Ein grundsätzliches Bildungsdefizit und Sprachbarrieren führen dazu, dass Schulen sich weitestgehend alleingelassen fühlen.

„Es muss sich etwas verändern.“

Im letzten Teil der Befragung wurde nach Wünschen und Verbesserungsvorschlägen gefragt. Eine oft genannte Forderung war die nach ausreichend ausgebildeten LehrerInnen und ErzieherInnen mit interkulturellen Kompetenzen. Nur mit einer angemessenen Unterstützung vonseiten der Politik könne eine Veränderung geschehen, so eine Lehrkraft. Externe Projekte müssten langfristiger gestaltet werden, da die Lehrkräfte meist nicht die Kapazitäten aufbringen können Nachbereitungen durchzuführen. Weiterhin wird der Wunsch nach der Förderung eines interreligiösen Dialoges geäußert, der sich mit Toleranz und Religion auseinandersetzt.

Auch TERRE DES FEMMES wünscht, dass Schulen Orte der Toleranz und religiösweltanschaulichen Neutralität sind. Deshalb fordert TDF die Einführung von dem Pflichtfach Ethik als integratives und wertevermittelndes Fach anstelle eines konfessionell gebundenen Religionsunterrichts.

Die Lehrkräfte verwiesen zudem auf die Erhaltung des Neutralitätsgesetzes, die für ihre Arbeit unabdingbar sei. TDF fordert die Beibehaltung des Berliner Neutralitätsgesetztes und die bundesweite Erweiterung für alle weiteren Länder. Staatliche Institutionen und dessen Bedienstete, die sich der Durchsetzung demokratischer Grundwerte verpflichtet haben, müssen weltanschauliche Neutralität garantieren. Schulen im Besonderen müssen Orte der weltanschaulichen Neutralität bleiben.

„Interkulturelle Bildung spielt eine große Rolle.“

Eine Besonderheit in der Bestandsaufnahme hat die Flieder-Schule dargestellt. Nach Aussagen der Schulleitung zeichnet sich die Flieder-Schule durch eine hohe Heterogenität des Sozialraumes aus, bei der die interkulturelle Bildung eine große Rolle spiele. Konflikte treten selten auf, es herrsche ein offener Diskurs zu Fragen der Vielfalt oder Anti-/Diskriminierung. Die Schule hat zudem ein ausgebautes Beratungssystem. Das positive Schulklima führt die Schulleitung auf die heterogene SchülerInnenschaft zurück, die sich durch ein hohes Maß an Toleranz auszeichnet.

Damit Schulen Orte der Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, Toleranz und Vielfalt bleiben fordert TERRE DES FEMMES:

  • dass sich Mädchen frei von sozialem oder familiärem Druck entfalten können,
  • ein Ende der geschlechtsspezifischen Diskriminierung durch das sogenannte Kinderkopftuch sowie eine gesetzliche Regelung in allen öffentlichen Bildungseinrichtungen bis zum 18. Lebensjahr,
  • die Teilnahme von Mädchen am Schwimm- und Sportunterricht,
  • ein integratives, wertevermittelndes Fach „Ethik“ an allen öffentlichen Schulen als Pflichtfach anstelle eines konfessionell gebundenen Religionsunterrichts,
  • die Beibehaltung des Berliner Neutralitätsgesetztes und die bundesweite Erweiterung für alle weiteren Länder.

 


Unsere TERRE DES FEMMES Positionen zum Weiterlesen:

Quellen und weiterführende Informationen:

Stand: März 2022

 

[1] Der DeVi e. V. wurde 2012 gegründet und ist ein Träger, der Schulen bei der Demokratiebildung sowie der Rechtsextremismusprävention unterstützt. DeVi e. V. engagiert sich des Weiteren gegen Diskriminierung und religiös begründeten Extremismus.

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