Dokumentationsstelle

SOS – femmes en détresse: Frauen in Not

Solidarität mit algerischen Frauen

Im Mai 1990 sieht sich TERRE DES FEMMES veranlasst, dringend zur Solidarität mit algerischen Frauen aufzurufen.[1]
Liest man den Anlass des Aufrufes, drängen sich unweigerlich Parallelen zu der Situation des von den Taliban beherrschten Afghanistan von 2022 auf:

„Parapolizeiliche Männergruppen der „islamischen Rettungs-front“ (FIS) versuchen Frauen gewaltsam an der Teilnahme am öffentlichen Leben, Studium und Politik zu hindern. Jeglicher Ausgang nach 18 Uhr soll Frauen untersagt werden.“

Gemeinsam mit dem Aktionszentrum Arme Welt und der Arbeitsgruppe Nordafrika Tübingen protestierte TDF mit einer Unterschriftenaktion gegen „die Einschränkung der Grundrechte in Algerien.“[2]

Als die FIS, die „Islamische Heilsfront“ 1990 die Kommunalwahlen gewann, wurde sie von ihren AnhängerInnen als Hoffnungsträger gefeiert, als Alternative zu dem bestehenden, korrupten Regime, welches das Land in eine wirtschaftliche Krise geführt hatte.[3]

Die Fundamentalisten zauderten nicht, ihren „göttlichen Gesetze“ mit Gewalt Geltung zu verschaffen und Frauen in die für sie vorgesehenen Schranken zu verweisen.

Ich werde meinen Blick nicht senken

Mit einer Veranstaltung am 14. Dezember 1990 in Tübingen sollte die Solidaritätsaktion, bei der immerhin 1600 Unterschriften zusammenkamen, beendet werden.

Mit der algerischen Feministin Salima Baraka wurde eine unmittelbare Zeugin der Zustände in Algerien eingeladen. Sie berichtete von Brigaden muslimischer Fundamentalisten, die z.B. Wohnheime von Studentinnen abends überwachten. Jedes Fehlverhalten – z.B. das Tragen kurzer Röcke – würde mit Schlägen geahndet.

In kleinen Städten würden vor allem geschiedene, alleinlebende Frauen angegriffen. Baraka erzählt, dass sogar das Haus einer geschiedenen Frau in Brand gesteckt worden sei. Ihr Kind sei in den Flammen gestorben.

Aber schon das algerische Familiengesetz, 1984 von der damals regierenden Einheitspartei FLN verabschiedet, birgt den Nährstoff für die Angriffe der Islamisten.

Gegen dieses Gesetz, den Code de la Famille, hätten algerischen Feministinnen (zuletzt) am 8. März demonstriert, so Baraka auf dem Podium in Tübingen: Auf der Scharia gründend, beschneidet es die Frauen wesentlich in ihren Rechten, stellt sie unter die Vormundschaft männlicher Familienmitglieder. Alleinstehende und geschiedene Frauen haben in diesem System keine Daseinsberechtigung.

Nachdem Salima Baraka am Ende des Abends Lieder der kabylischen Schriftstellerin Taos Amrouche interpretierte, wird sie ein bewegtes Publikum zurückgelassen haben.

Pogrome gegen algerische Frauen

Der Ausbruch des Bürgerkrieges 1992 verschlimmerte die Situation der Frauen.

Mit einem Militärputsch wurde die Machtübernahme der FIS, die bei den Parlamentswahlen im Dezember 1991 als Wahlsiegerin hervorgegangen wäre, verhindert. Aber auch das Verbot der „Islamischen Front“ im März 1992, sollte den Eifer der Fundamentalisten nicht stoppen können[4]. Teile der FIS radikalisierten sich immer mehr. Ihr Terror wurde vielen Frauen zum Verhängnis.

„Abweichlerinnen“ von islamistischen Wertevorstellungen, werden immer brutaler ins Visier fundamentalistischer Terroristen genommen. Auf einem am 8. März 1995 von Feministinnen veranstalteten Tribunal, wurde von über hundert ermordeten Frauen gesprochen.[5]

TERRE DES FEMMES gedenkt in einem Artikel Nabila Diahin, einer führenden algerischen Feministin: Die 35-jährige starb am 15. Februar 995 durch eine Gewehrsalve, die von einer islamistischen Gruppe abgefeuert wurde.[6]

Tragisches Beispiel der grauenhaften Behandlung alleinstehender Frauen ist der Pogrom in Hassi Messaoud: angestachelt von religiösen Hetztiraden eines Imams stürmten in der Nacht vom 13. auf den 14. Juli 2001 hunderte junge Männer die Unterkünfte der in den Ölraffinerien arbeitenden Frauen. TDF-Referentin Rahel Volz schreibt in einem Artikel erschüttert, dass viele Frauen „zu Tode verprügelt, erstochen und vergewaltigt“ worden seien, manche der fliehenden Frauen seien beinahe lebendig vergraben worden. Der Imam hatte die Frauen (Witwen und Geschiedene) als unmoralisch bezeichnet. Sie hatten es gewagt, ohne Begleitung bei den ausländischen Ölkonzernen als Köchinnen, Putzfrauen oder Sekretärinnen für sich und ihre Kinder den Lebensunterhalt zu verdienen.[7]

SOS – Femmes en détresse – Hilfe für Frauen in Not

Im April 1999 beschließt die Mitfrauenversammlung mit dem Frauenzentrum SOS – Frauen in Not (SOS – Femmes en détresse) eine Kooperation einzugehen. Eine Mitfrau mit algerischen Wurzeln übernimmt die ehrenamtliche Koordination.[8]

Der Verein SOS wurde 1991 in Algier gegründet. Er bietet von ihren Ehemännern verstoßenen Frauen oder unehelich Schwangeren eine Bleibe. Die Frauen erhalten juristische Beratung, haben die Möglichkeit Alphabetisierungs- und Weiterbildungskurse zu besuchen. Mit Seminaren über Gewalt gegen Frauen leistet der Verein auch politische Arbeit.[9]

2004 organisierte TERRE DES FEMMES mit Mériem Blâala, der Präsidentin von SOS - femmes en détresse, eine Rundreise durch Deutschland. Eines ihrer Herzensthemen: Das Algerische Familiengesetz.[10]

2005 wurde das Familienrecht zwar reformiert. Im Scheidungsfall muss der Ehemann jetzt Unterkunft und Unterhalt bezahlen. Aber die Frauen bleiben weiterhin unter der Vormundschaft der Männer. Für algerische Frauenrechtlerinnen, ein „Kniefall vor Islamisten.“ [11]

Stand: Juli 2022

Aktuelle Infos zu Frauenrechten in Algerien:

https://freedomhouse.org/country/algeria/freedom-world/2022

Letzter Zugriff am 07.07.2022

https://www.amnesty.org/en/location/middle-east-and-north-africa/algeria/report-algeria/

Letzter Zugriff am 07.07.2022

 

[1] TERRE DES FEMMES-Rundbrief 2/1990 S. 31f.

[2] ebd.

[3] Tobias Mayer: Das Verbot der „Islamischen Heilsfront“ (FIS) in Algerien und die Folgen
https://www.deutschlandfunk.de/vor-25-jahren-das-verbot-der-islamischen-heilsfront-fis-in-100.html

Letzter Zugriff am 07.07.2022

[4] 4. März 1992 - Verbot der "Islamischen Heilsfront" (FIS) in Algerien
https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag6426.html

Letzter Zugriff am 07.07.2022, 17:46 Uhr

[5] TERRE DES FEMMES-Rundbrief 2/1995 S. 36

[6] ebd.

[7] Rachel Volz: Gegen das Vergessen. Ein Jahr nach den Pogromen in Hassi Messaoud (Algerien). In: TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau 3/2002, S. 10

[8] M’Brouka Gadouche: SOS – Femmes en détresse – SOS – Frauen in Not. In: TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau 2/1999, S. 11

[9] M’Brouka Gadouche: Förderprojekt bei TERRE DES FEMMES: Frauenhaus in Algier. SOS – Femmes en détresse – SOS – Frauen in Not. In: TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau 2/2002, S. 15f.

[10] Elisa Rossberger: Das Frauenhaus in Algier. Das Familiengesetz treibt Frauen in die Armut. In: TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau 3/$/2002, S. 10f.

[11] Reiner Wandler: Algeriens Frauen bleiben Fräulein In: taz am Wochenende vom 19.3.2005
https://taz.de/!633768/

Letzter Zugriff am 07.07.2022

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/ehrenmord-in-hamburg-das-lange-leiden-der-morsal-obeidi-a-556404.html

 

Stand: 3. Mai 2022

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