Weibliche Genitalverstümmelung in Sierra Leone

m westafrikanischen Sierra Leone sind nach Angaben von UNICEF 86 Prozent der Mädchen und Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren von Weiblicher Genitalverstümmelung (englisch: Female Genital Mutilation, kurz: FGM) betroffen. Es wird geschätzt, dass ca. 50.000 Beschneiderinnen (sogenannte „Soweis“) im Land tätig sind. Die meisten von ihnen sind in „Frauengeheimbünden“ (in Sierra Leone „Bondo Society“ genannt) landesweit organisiert. FGM ist Teil des Übergangsrituals vom Mädchen- zum Frausein und Voraussetzung für die Aufnahme in den Frauengeheimbund. In der Öffentlichkeit werden FGM und seine lebensgefährlichen Folgen immer noch größtenteils tabuisiert. PolitikerInnen in Sierra Leone fürchten den starken gesellschaftlichen Einfluss der Geheimbünde und beziehen daher nur selten öffentlich Stellung gegen FGM. Bis heute ist die schädliche Praktik in Sierra Leone nicht gesetzlich verboten. Das Maputo-Protokoll (Protokoll für die Rechte von Frauen in Afrika) wurde erst 2015 und nur unter Vorbehalt ratifiziert: Die Forderung, FGM abzuschaffen, wurde durch ein Mindestalter von 18 Jahren ersetzt. Eine nationale Strategie zur Einhaltung des Mindestalters lässt seit 2015 auf sich warten. Im Jahr 2018 wirkte AIM an einer zivilgesellschaftlichen Arbeitsgruppe zur Entwicklung eines Nationalen Aktionsplans zum Abbau von FGM mit, der das Konzept „ritual without cutting“ (Initiationsritual ohne FGM) priorisiert. Eine Reaktion der Regierung auf den Aktionsplan blieb aus. Dies scheint nicht verwunderlich, brüskierte Fatima Bio, First Lady von Sierra Leone, doch im Mai 2019 mit der Forderung, die Regierung solle Vergewaltigung, nicht aber FGM ahnden. Dass FGM Frauen schade, müsse erst einmal nachgewiesen werden. Heftige Kritik hagelte es darauf von AktivistInnen und betroffenen Frauen.

FGM während der Corona-Pandemie

Die Pandemie wirkte sich auch in Sierra Leone drastischer auf Frauen als auf Männer aus. Rund einem Drittel der Haushalte in Sierra Leone stehen Frauen allein vor. Ihre Männer sind aufgrund von Scheidung, Migration oder Tod nicht (mehr) präsent. Diese Haushalte sind durchschnittlich ärmer und haben weniger Land- und Viehbesitz inne. Ihre Ernährungssicherheit ist häufig gefährdet. Wirtschaftliche Einbrüche wie zu Pandemiezeiten treffen sie übermäßig hart. Zudem ließen die Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung des Virus akute Probleme wie geschlechtsspezifische Gewalt außen vor. Auch in Sierra Leone mussten öffentliche Einrichtungen, wie Schulen, mehrere Monate lang schließen. In Ermangelung dieser Schutzräume und externer Vertrauenspersonen wie LehrerInnen kam es zu einem deutlichen Anstieg von sexueller und häuslicher Gewalt, Teenager-Schwangerschaften und FGM. Einer Umfrage des International Growth Centre der London School of Economics zufolge gaben 40 Prozent der Befragten in Sierra Leone an, geschlechtsspezifische Gewalt komme in ihrer Gemeinde häufig vor. 23 Prozent berichteten, diese habe während des Lockdowns noch zugenommen. Nicht zuletzt lag der Fokus der medizinischen Versorgung auf Corona-PatientInnen. Einrichtungen wie Frauenhäuser konnten wegen der Hygienemaßnahmen noch weniger Plätze als ohnehin vorhanden anbieten. Zwar erließ die Regierung im Rahmen des Lockdowns ein Verbot für Versammlungen der „Bondo Society“, jedoch wurde FGM, AktivistInnen und Erhebungen wie der des britischen Orchid Project zufolge, weiter praktiziert, teils in größerem Ausmaß als zuvor.

© TDF/AIM

Amazonian Initiative Movement (AIM)

In diesem Kontext arbeitet die Organisation Amazonian Initiative Movement (AIM), eine unabhängige Frauenrechtsorganisation, die sich das Ziel gesetzt hat, Weibliche Genitalverstümmelung abzuschaffen. Darüber hinaus engagiert sich AIM auch gegen Zwangsverheiratung und sexualisierte Gewalt. Ihren Hauptsitz hat AIM in Port Loko, etwa 80 km nordöstlich von der Hauptstadt Freetown. Dies ist auch der Heimatort der Frauenrechtsaktivistin Rugiatu Turay. Nach ihrer Rückkehr aus dem Bürgerkriegsexil im Nachbarland Guinea im Jahr 2003 gründete Turay dort zusammen mit Gleichgesinnten die Organisation AIM, um FGM in Sierra Leone den Kampf anzusagen.

Als die Organisation ihre Arbeit aufnahm, brach sie mit der öffentlichen Thematisierung von FGM ein Tabu. Mittlerweile ist das Wissen um den Tatbestand der Menschenrechtsverletzung, die gravierenden Schmerzen und langfristigen negativen Folgen von FGM in der Bevölkerung des Distrikts Port Loko weiter verbreitet. Der Name „Amazonen“ bleibt dennoch aktuell, denn ein Engagement bei AIM erfordert nach wie vor Mut und Durchhaltevermögen. Drohungen gegen Anti-FGM-AktivistInnen und ihre öffentliche Bloßstellung sind immer noch üblich.

Gegenwärtig arbeiten ca. 15 Frauen und Männer für AIM. Daneben gibt es zahlreiche ehrenamtliche UnterstützerInnen. Rugiatu Turay ist durch ihre federführende Arbeit bei AIM und ihr politisches Engagement weit über Port Loko hinaus als Frauenrechtlerin bekannt. Von 2016 bis 2018 war sie stellvertretende Ministerin für Soziales, Gender und Kinder. In dieser Funktion hat sie das Thema FGM immer wieder auf die politische Agenda gesetzt und für Mädchenschutz und -Bildung mobilisiert. 2020 wurde Rugiatu Turay für ihren unermüdlichen Einsatz gegen FGM mit dem Menschenrechtspreis der Stadt Esslingen am Neckar ausgezeichnet. Vonihrem Ziel, FGM in Sierra Leone gesetzlich verbieten zu lassen und vollständig abzuschaffen, ist sie trotz aller Widerstände nie abgerückt. Doch die schädliche Praktik ist traditionell verwurzelt und gesellschaftlich noch akzeptiert. Ein Umdenken findet langsam statt. Aber es ist ein weiter Weg, bis FGM auch in Sierra Leone Vergangenheit sein wird.

AIM verfolgt einen integrativen Ansatz und versucht, alle an der Genitalverstümmelung beteiligten AkteurInnen, wie Beschneiderinnen, Kinder und Jugendliche, Eltern und LehrerInnen, Gesundheitspersonal, sowie politische, traditionelle und religiöse Führungspersonen in die Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit mit einzubeziehen. Dieser Ansatz hat sich als sehr fruchtbar und wirkungsvoll erwiesen.

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