Bewegende Preisverleihung in Esslingen an Rugiatu Neneh Turay

OB Dr. Jürgen Zieger begrüßt das Publikum und Rugiatu Turay zu Beginn der Preisverleihung. Foto: © Stadt EsslingenOB Dr. Jürgen Zieger begrüßt das Publikum und Rugiatu Turay zu Beginn der Preisverleihung. Foto: © Stadt Esslingen„Rugiatu, my sister from another mother. Congratulations! I am following you closely, I am following in your footsteps. Together we will be able to end FGM“ („Rugiatu, meine Schwester einer anderen Mutter. Herzlichen Glückwünsch! Ich verfolge deine Arbeit genau und ich trete in deine Fußstapfen. Zusammen werden wir es schaffen, FGM zu beenden“) - so die ganz persönliche Ansprache der Laudatorin Beryl Magoko an Rugiatu Neneh Turay, die Preisträgerin des Theodor-Haecker-Preises 2020.

Turay wurde am 24. Oktober 2020 für ihr langjähriges, unermüdliches Engagement gegen die weibliche Genitalverstümmelung (FGM) in Sierra Leone mit dem Menschenrechtspreis der Stadt Esslingen am Neckar ausgezeichnet. Es war eine mitreißende Veranstaltung, die rund 100 Menschen in Präsenz im Neckar Forum und viele weitere Hunderte an ihren Bildschirmen im Livestream verfolgten. Corona bedingt konnte Turay nicht nach Deutschland reisen, war aber live zugeschaltet.

Die Übertragung der Veranstaltung zur Preisverleihung in einer Aufzeichnung des Live-Streams.

Magoko, als Regisseurin und Autorin des Dokumentarfilms „In Search“ über weibliche Genitalverstümmelung, dem gleichen Ziel wie Turay verpflichtet - der Aufklärung über FGM und seiner Abschaffung - gab in ihrer Laudatio einen Einblick in die Arbeit der 2003 von Turay gegründeten Organisation Amazonian Initiative Movement (AIM); einer unerlässlichen Arbeit in einem Land, in dem immer noch 90 Prozent aller Frauen und Mädchen über 15 Jahren von dieser schweren Menschenrechtsverletzung betroffen sind und kein Gesetz davor schützt.

AIM – Ansätze, Erfolge und Hürden

Besonders im Fokus stand das von AIM und TDF gemeinsam errichtete Schutzhaus, in dem Run-Away-Girls unterkommen: Mädchen, die von zu Hause fliehen, um einer Zwangsverstümmelung zu entgehen. Gewürdigt wurde auch AIM’s neuester Ansatz: „ritual without cutting“, ein alternatives Initiationsritual am Übergang vom Mädchen- zum Frausein, bei dem alle traditionellen Zeremonie-Elemente beibehalten werden - außer FGM.

Die Hürden, mit denen Turay und ihr Team beim Einsatz gegen FGM kämpfen, beschrieb Magoko eindrücklich: so erhalten die AktivistInnen keine finanzielle oder andere Unterstützung durch die sierra-leonische Regierung, sind mit der Ablehnung durch die Frauengeheimbünde konfrontiert und werden sogar immer wieder mit dem Tod bedroht. All dem begegnet Turay jedoch nicht mit Aggression oder Angriff, sondern nutzt ihren Intellekt und ihr Gespür, um Menschen langfristig zu überzeugen und trotz aller Widerstände ins Boot zu holen.

Dokumentation der Reden

TDF – Engagement in Europa und weltweit

Übrigens war das Ziel, Mädchen und Frauen eine Zukunft ohne FGM zu ermöglichen, nicht nur für Turay Anlass zur Gründung einer Frauenrechtsorganisation. Auch TDF entstand vor allem aus diesem Grund. TDF-Bundesgeschäftsführerin Christa Stolle informierte in ihrer Rede über die Hintergründe und Folgen von FGM. Zur Sprache kam auch das Engagement von TDF gegen FGM - von der Erhebung der jährlichen Dunkelzifferstatistik über EU-Projekte zur Ausbildung von Menschen aus FGM-Prävalenzländern, die in europäischen Diaspora-Communities über FGM aufklären, bis hin zu internationalen Kooperationen.

Vision von Rugiatu Neneh Turay

Turay betonte in ihrer Rede, dass es letztlich nicht darum ginge, Traditionen oder afrikanische Identitäten zu verraten oder zerstören, sondern einzig und allein um die Frage, welche Welt und Zukunft sich Menschen in ihrem Land für Mädchen und Frauen wünschten. Sie selbst habe die Vision, Mädchen und Frauen unversehrt und selbstbestimmt leben, die Gesellschaft mitgestalten und Führungspositionen übernehmen zu sehen. Ihren Dank sprach Turay vielen wichtigen MitstreiterInnen, ganz besonders aber ihrem Ehemann und ihrem Vater, aus.

Der Oberbürgermeister von Esslingen, Dr. Jürgen Zieger, rief abschließend dazu auf, auch in Deutschland entschieden gegen FGM einzutreten, da - den Zahlen aus diesem Jahr zufolge – fast 75.000 von FGM betroffene Frauen hier lebten und über 20.000 Mädchen von der schädlichen Praktik bedroht seien. Dann überreichte Dr. Zieger Rugiatu Neneh Turay feierlich ihre Urkunde.

Ehrengabe 2020

Die Ehrengabe 2020 ging an das KOMMA - Jugend und Kultur, für ihre Einführung der Internationalen Wochen gegen Rassismus in Esslingen. Musikalisch untermalt wurde die Preisverleihung von der Stuttgarter Saxofonistin Nikola Lutz.

 

Informationstisch von TDF mit Flyern und Broschüren über FGM und die Arbeit von AIM. © TERRE DES FEMMES
Begrüßung durch die Moderatorin und SWR-Redakteurin Susanne Babila.. © Stadt Esslingen
OB Dr. Jürgen Zieger begrüßt die Theodor-Haecker-Preisträgerin 2020. © Stadt Esslingen
Christa Stolle gibt Einblicke in das Engagement von TDF gegen FGM. © Stadt Esslingen
Laudatorin und Filmressigeurin Beryl Magoko. © Stadt Esslingen
Rugiatu Neneh Turay während ihrer (vorab aufgezeichneten) Rede. © Stadt Esslingen
Musikalische Einlage durch die Saxofonistin Nicola Lutz. © Stadt Esslingen
Die Ehrengabe 2020 ging an das KOMMA - Jugend und Kultur aus Esslingen.© Stadt Esslingen
© Stadt Esslingen
© Stadt Esslingen
Auch in Sierra Leone wird über die Auszeichnung von Turay mit dem Theodor-Haecker-Preis berichtet. © AIM
Rugiatu Neneh Turay (3. v.l.) am Abend der Preisverleihung mit ihrer Schwester, ihrem Ehemann und ihrem Vater (v.l.n.r.) in Port Loko/Sierra Leone. © ...

 

Hintergrund des Theodor-Haecker-Preises

Der am 4. Juni 1879 geborene Philosoph, Kulturkritiker und Schriftsteller Theodor Haecker stritt leidenschaftlich gegen den Nationalsozialismus und bekam deshalb 1935 Redeverbot sowie 1938 Druckverbot. In dieser Zeit entstand sein wichtigstes Werk, die Tagebuchaufzeichnungen „Tag- und Nachtbücher“. Diese Tagebuchnotizen zählen zu den beeindruckendsten Reflexionen über den Faschismus. Der Theodor-Haecker-Preis wird von der Stadt Esslingen am Neckar seit 1995 alle zwei und seit 2017 alle drei Jahre an Personen vergeben, die sich durch „besonderen politischen Mut und Aufrichtigkeit“ auszeichnen.