Ex-Stipendiatin Juliette Gradín (ganz rechts) lauscht den Berichten der anderen Frauen. Foto: © TERRE DES FEMMESEin heißer Nachmittag in der Stadt Estelí im Norden Nicaraguas. 11 Frauen zwischen 19 und 50 Jahren treffen sich bei einer der ihren zu Hause. Zur Begrüßung werden Umarmungen und Küsschen vergeben. Stühle, Snacks und Getränke stellen die Frauen in den Innenhof – dort ist es kühler.
Ein Kaffeekränzchen unter Nachbarinnen? Keineswegs, denn diese elf Frauen verbindet Anderes: Sie haben häusliche Gewalt in ihren Familien oder Partnerschaften erlebt. Meist über Jahre hinweg. Sich eines Tages mit einem höheren Bildungsabschluss ein besseres Leben ermöglichen zu können schien ausgeschlossen. Weil das Geld fehlte. Bildung in der Familie nicht zählte. Oder der Partner es nicht wollte.
Und doch haben schließlich alle Frauen studiert oder studieren noch. Und sich Schritt für Schritt aus ihren gewaltvollen Beziehungen gelöst. Wie sie das geschafft haben? Durch die Unterstützung von MIRIAM, der Partnerorganisation von TDF in Nicaragua. Sie finanziert derzeit 10 jungen Frauen aus armen Verhältnissen in Managua, Matagalpa und Estelí das Universitätsstudium. Berücksichtigt wird neben guten schulischen Leistungen auch, ob eine Frau alleinerziehend ist oder bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen ist.
Mutige Schritte in ein selbstbestimmtes Leben
Alicia Lago gehört mit 23 Jahren zu den jüngsten. Sie ist seit 2017 im Stipendiatinnenprogramm von MIRIAM und studiert Erziehungswissenschaften. Zum fünften Mal nimmt sie heute an den Treffen aktueller und ehemaliger Stipendiatinnen teil, um Erfahrungen auszutauschen und frauenrechtliche Themen zu diskutieren. Alicia hatte es in ihrer Kindheit nicht leicht. Ihr Vater starb, als sie ein Jahr alt war. Die Beziehung zu ihrer Mutter war von Gewalt geprägt. Mit sieben Jahren kam Alicia zu ihrer Tante, wo sie nicht willkommen war und in der Familienhierarchie auf unterster Stufe stand: Anstelle zur Schule zu gehen musste sie den Haushalt besorgen. Erst mit neun Jahren wurde sie eingeschult. Sie freundete sich mit einer Klassenkameradin an und zog schließlich bei ihr ein, um der Ausbeutung durch die Tante zu entgehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Alicia nicht mehr alleine und fand endlich etwas Frieden. Sie fing an, in ihrer Freizeit an einer Schule zu unterrichten. Mit dem Eintritt in die Oberstufe merkte Alicia, dass sie im Haus der Klassenkameradin keine Ruhe fand, um sich auf ihre Prüfungen vorzubereiten. Sie arbeitete noch härter als zuvor und mietete sich ein kleines Zimmer. Dort lebt sie heute und studiert erfolgreich im ersten Jahr.
Die Finanzierung eines Universitätsstipendiums soll keine Einbahnstraße sein. MIRIAM will, dass die Frauen die Unterstützung, die sie selbst erhalten haben, weitergeben. Und sie so multiplizieren. Daher wird von jeder Stipendiatin freiwilliges soziales Engagement in der Organisation oder außerhalb erwartet. Alicia hilft bei der Verpflegung von Frauen, die an den Wochenenden ihre Schulbildung bei MIRIAM nachholen. Es muss für 50 – 80 Personen eingekauft, gekocht und abgewaschen werden.
Alicia‘s Familie weiß nicht, wie weit sie gekommen ist. Sie haben keinen Kontakt zueinander. Für Alicia sind die anderen Stipendiatinnen wie eine Familie: „Die monatlichen Treffen liegen mir sehr am Herzen. Andere Perspektiven kennenzulernen ist wichtig für mich, war ich doch die meiste Zeit meines Lebens auf mich selbst gestellt.“ Obwohl es ihr zu Beginn auch Angst machte, sich Anderen anzuvertrauen. Die Mitstipendiatinnen nicken bestätigend – anfänglich habe Alicia mit gesenktem Kopf und ganz leise gesprochen. Heute sitzt die junge Frau mit festem Blick und geradem Rücken im Stuhlkreis. Lichtjahre scheinen vergangen.
Warum es sich lohnt, Farbe zu bekennen
Stipendiatin Alicia Lago (links sitzend) denkt über die Anregung einer Mitstipendiatin nach. Foto: © TERRE DES FEMMES„Feministin in Nicaragua zu sein, ist nicht einfach“, seufzt Juliet Gradín, als sie an der Reihe ist, zu berichten, wie es ihr geht und was sich im letzten Monat in ihrem Leben ereignet hat. Mit Unterstützung von MIRIAM konnte die Dreißigjährige klinische Psychologie studieren. 2014 hat sie ihren Abschluss gemacht. „Oft ernte ich böse Reaktionen, wenn ich sage: Ich bin Feministin.“ Sie reichten von Beschimpfungen wie „feminazi“ (wortwörtlich etwa: „Hardcore-Emanze“, im Deutschen am ehesten vergleichbar mit „Kampflesbe“) bis hin zum Abdrängen ins soziale Abseits. „Besonders dann, wenn eine Frau für ihre Rechte einsteht“, schnaubt Juliet, die in ihrer Freizeit begeisterte Fußballerin ist.
Weil sie die Privilegien des Männerfußballs auch für ihre Frauenmannschaft der ersten Liga forderte, wurde sie aus dem Team ausgeschlossen. Dabei wollte sie lediglich, dass Frauen ebenfalls bezahlt und mit Sportkleidung und Fußbällen ausgestattet werden. Ein Jahr lang durfte sie nicht zum Training und war für alle Spiele gesperrt. Dann die überraschende Wende: Die Kritik an der Diskriminierung von Fußballerinnen wurde lauter und die Förderer der Erstlegisten in Estelí wollten keinen Image-Schaden riskieren. Nun werden Männer und Frauen gleichermaßen gesponsert. Juliet konnte wieder einsteigen. „Es hat sich gelohnt, Farbe zu bekennen“, triumphiert sie stolz. Und das wird sie auch weiterhin tun: So weigert sie sich bei gemischten Trainingseinheiten etwa, loszulaufen, wenn die Aufforderung „Vamos muchachos!“ („Auf geht’s, Jungs!“) lautet. Sie wartet dann einfach darauf, dass der Trainer auch die Frauen auffordert. „Diese kleinen Details brechen dem Machismo langsam, aber sicher das Genick. Sie verändern Denkstrukturen“, beharrt Juliet.
Die Psychologin hat als einzige in ihrer Familie einen Universitätsabschluss. Ihr Vater ist Alkoholiker, ihre Mutter hat die Kinder alleine durchgebracht. In ihrer Kindheit ging Juliet morgens zur Schule, nachmittags musste sie als Haushaltshilfe bei einer anderen Familie arbeiten. Abends spielte sie Fußball, um den Druck und die Sorgen des Alltags zu vergessen und nicht nach Hause gehen zu müssen. Was sie dort erwartete, waren Schläge, fast täglich. Zu Stipendienbeginn kontrollierte Juliets damaliger Partner sie auf Schritt und Tritt und rief sie bis zu 50 Mal am Tag an. Mit Trennung und Studium habe ihr neues Leben begonnen, sagt sie.
Heute hat Juliet eine eigene Sendung in einem kleinen nicaraguanischen Fernsehsender. Sie heißt „Consulta con tu psicóloga“: „Sitzung mit deiner Psychologin“. Sie lebt in einer Beziehung, in der sich ihr Partner und sie gegenseitig unterstützen. Ein emanzipiertes Paar zu sein, werde im Bekanntenkreis manchmal noch mit Unverständnis quittiert. Zum Beispiel, wenn ihr Partner bei Einladungen in die gemeinsame Wohnung für die Gäste koche – in Nicaragua wird das Erledigen häuslicher Arbeiten wie Kochen nach wie vor häufig von Frauen erwartet.
Seit neun Jahren ist Juliet ehrenamtlich für MIRIAM aktiv. Weit über ihre Studienzeit hinaus, wie die meisten der MIRIAM-Stipendiatinnen. Sie berät gewaltbetroffene Frauen psychologisch. Oft an mehreren Tagen in der Woche. „Das Stipendium ist nicht nur ein Wendepunkt in deinem eigenen Leben. Das, was du bei MIRIAM lernst, lebst du. In deiner Familie, in deiner Partnerschaft, im Freundeskreis und auf der Arbeit. Mit deinem Engagement gibst du es an Frauen weiter, die heute in der gleichen Situation sind wie du es einmal warst. Damit auch sie eines Tages frei von Gewalt leben können“, zieht Juliet Bilanz. Ob ihre Mutter stolz auf sie sei? „Sie würde mich nie direkt loben, aber ich freue mich, wenn sie beiläufig erwähnt: ‚Meine Freundinnen haben dich im Fernsehen gesehen und sagen, du kannst gut reden‘.“
Ihre Unterstützung hilft MIRIAM, noch mehr Frauen ein unabhängiges Leben frei von Gewalt zu ermöglichen.
Stand 08/2017