Was ist Zwangsverheiratung?

Zwangsverheiratungen liegen dann vor, wenn mindestens einer der Eheleute durch die Ausübung von Gewalt oder durch Drohungen zum Eingehen einer formellen oder informellen (also durch eine religiöse oder soziale Zeremonie geschlossenen) Ehe gezwungen wird. Eine mögliche Weigerung einer der Ehepartner hat entweder kein Gehör gefunden oder der/die Betroffene hat es nicht gewagt, sich zu widersetzen. Auch die Bedrohung der Betroffenen mit existentiellen finanziellen oder ausländerrechtlichen Konsequenzen kann zu einer Zwangsverheiratung führen.

Abgrenzung zur arrangierten Ehe

Eine klare Abgrenzung zu arrangierten Ehen ist in der Praxis manchmal schwer. Im Zweifel orientieren wir uns nach der Perspektive der Betroffenen. Danach ergibt sich folgende Definition: Arrangierte Heiraten liegen dann vor, wenn die Heirat zwar von Verwandten, Bekannten oder von Ehevermittlern bzw. -vermittlerinnen initiiert, aber im vollen Einverständnis der Eheleute geschlossen wird.

Sind auch Männer von Zwangsverheiratung betroffen?

Männer sind von Zwangsverheiratungen ebenso betroffen wie Frauen. Allerdings sind sie zum Zeitpunkt der Verheiratung in der Regel älter. Auch ergeben sich für sie andere soziale Konsequenzen: Männer haben in einer Zwangsehe oftmals mehr Freiheiten als betroffene Mädchen und Frauen.

Welche Gründe gibt es für eine Zwangsverheiratung?

Die Motive, die einer Zwangsverheiratung zu Grunde liegen, sind vielfältig. Ein Grund kann sein, dass die Familie der Betroffenen sicherstellen will, dass die Tochter einen Mann aus demselben kulturellen, sozialen, religiösen und/oder ethnischen Umfeld heiratet, aus dem die Familie stammt. Manche Familien begründen die Heirat ihrer Söhne auch mit dem Versuch, sie zu "disziplinieren". Zum anderen spielen in einigen Fällen finanzielle Gründe eine Rolle, vor allem dann, wenn es in einer Kultur üblich ist, einen Brautpreis zu zahlen. Das Motiv für eine Zwangsverheiratung kann außerdem in der Erlangung eines Aufenthaltstitels in Deutschland für den nachziehenden Ehemann bzw. die nachziehende Ehefrau liegen. Die Mädchen und jungen Frauen, die als so genannte "Importbräute" nach Deutschland kommen, gelten bei patriarchalen Familien oftmals als weniger "westlich" und somit besser geeignet für eine Ehe nach ihren Vorstellungen.

Diesen Spot gegen Zwangsheirat haben Hanna Salzer und Eva Thron in Zusammenarbeit mit Jugendlichen aus Berlin im Rahmen ihres Studiums an der HFF Konrad Wolf, Potsdam 2009 entwickelt.

Zwangsheirat - Best Practice in anderen europäischen Ländern

Wie viel in Deutschland noch geschehen muss, zeigt der Blick in andere europäische Länder. Dort wird erfolgreich auf Prävention gesetzt. In Großbritannien gibt es mittlerweile einheitliche Leitlinien für Polizei, Schule und Sozialarbeit, wie im Falle drohender Zwangsheirat vorgegangen werden soll. Bei einer zentralen Anlaufstelle können sich Opfer von Zwangsheirat oder davon Bedrohte melden. Die Anlaufstelle bemüht sich auch, verschleppte Frauen aus dem Ausland wieder zurück nach England zu bringen.

Im Mai 2007 wurde in Zusammenarbeit mit der britischen Nichtregierungsorganisation Karma Nirvana, ein Netzwerk für Betroffene von Zwangsheirat ("Survivor's Network") gegründet. Außerdem wurde eine 24-Stunden-Hotline für Betroffene eingerichtet.

Zusätzlich wurde ein Hilfsleitfaden für Opfer veröffentlicht ("Survivor Handbook"). Der Hilfsleitfaden wurde mit Betroffenen von Zwangsverheiratungen ausgearbeitet und enthält eine Zusammenstellung von praktischen Tipps, die Betroffenen helfen sollen, ihre Erfahrungen zu verarbeiten. In Schweden werden alle staatlichen Schulen mit pädagogischem Material gegen Gewalt im Namen der Ehre und Zwangsheirat versorgt. In Deutschland dagegen hängt es noch immer von der Initiative einzelner engagierter LehrerInnen ab, die Schülerinnen und Schüler zu informieren.

In Österreich hat das Bundesministerium für Gesundheit und Frauen (BMGF) im Jahr 2006 eine Meldedatenbank über Fälle u.a. von Zwangsheirat erstellt. ÄrztInnen, PädagogInnen, SozialarbeiterInnen, PolizistInnen, StaatsanwältInnen und weitere MultiplikatorInnen sind angehalten, ihnen bekannte Fälle von Zwangsverheiratung an das BMGF zu melden. Das anonymisierte Datenmaterial soll zum besseren Verständnis der Problematik dienen um Aufklärungs- und Bekämpfungsstrategien zu entwickeln. Weiter plant das österreichische Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten eine Sensibilisierung der österreichischen Vertretungsbehörden im Ausland zum Thema traditionsbedingte Gewalt.

Zwangsheirat - Zahlen

In Deutschland sind vor allem Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund von Zwangsheirat betroffen. Wie viele Fälle es hierzulande tatsächlich gibt, ist ungeklärt.
Im Moment können nur verschiedene Umfragen Anhaltspunkte über die Anzahl von Betroffenen bieten:

  • Im Sommer 2009 hat TERRE DES FEMMES zusammen mit der Lawaetz-Stiftung, Hamburg, und Torsten Schaak - Büro für Sozialpolitische Beratung, Bremen begonnen, eine Erhebung über die Ausmaße von Zwangsheirat zu erstellen. Sie wird von einem Beirat begleitet. Die Ergebnisse liegen wahrscheinlich im Herbst 2010 vor.
     
  • Umfrage des BMFSFJ (2008)
    Eine im Sommer 2008 durchgeführte Umfrage des BMFSFJ unter 250 türkischen Frauen, von denen 150 Angaben zu dem Thema machten, ergab, dass bei etwa der Hälfte der Frauen der Partner von Verwandten ausgewählt worden war. 75% von diesen Frauen waren mit der Wahl einverstanden, etwa ein Viertel der Frauen waren nicht nach ihrer Meinung zum zukünftigen Partner gefragt worden und 17% der Frauen gaben an, dass sie sich zur Ehe gezwungen fühlten.
    (Download des Sammelbandes als PDF-Datei)
     
  • Auswertung Erhebung Hannover (2008)
    Eine Erhebung zum Thema Zwangsheirat der AG–Zwangsheirat des Runden Tisches des Hannoverschen Interventionsprogrammes gegen Männergewalt in der Familie
    (Download der Auswertung als PDF-Datei)
     
  • Berliner Studie (2007)
    Nach einer Umfrage in etwa 200 Einrichtungen aus dem Jugendhilfe- und Migrationsbereich in Berlin gab es im Jahr 2004 allein 300 Fälle, in denen ein Mädchen oder eine junge Frau Beratung wegen einer drohenden oder bereits vollzogenen Zwangsheirat gesucht hat. Weitere 30 Fälle drehten sich um drohende oder erfolgte Zwangsverlobung. In 130 Fällen lagen Angaben zum Alter der Betroffenen vor: 40 % sind zwischen 16 bis 18, 32 % zwischen19 bis 21, knapp 18 % zwischen 22 und 25 und immer noch 10 % zwischen 13 und 15 Jahren alt. In 10 Fällen waren die Betroffenen männlich. Darüber hinaus ergab die Umfrage, dass Zwangsverlobungen und -verheiratungen überwiegend im Ausland stattfinden und Braut und Bräutigam nicht selten miteinander verwandt sind.
    (Download als PDF-Datei)
  • Umfrage Hamburg (2007)
    Im Februar 2007 hat die Stadt Hamburg die Ergebnisse einer Umfrage, der von der Stadt Hamburg beauftragten Lawaetz-Stiftung, bekannt geben. Die Umfrage erfolgte von Juli bis September 2006. Es wurden insgesamt 61 Hamburger Einrichtungen sowie die Jugend- und Sozialdezernenten der Bezirksämter angeschrieben. In den befragten Einrichtungen lagen im Jahr 2005 insgesamt 210 Beratungsfälle zu einer erfolgten oder angedrohten Zwangsheirat vor. Am häufigsten genannt wurde eine Zwangsheirat zwischen in Deutschland lebenden Familienmitgliedern (53 Nennungen), gefolgt von der Heirat mit so genannten "Importbräuten" aus dem Heimatland (45 Nennungen), der Heirat im Rahmen einer so genannten "Ferienverheiratung" (42 Nennungen) und der "Verheiratung für ein Einwanderungsticket" (39 Nennungen). Die meisten Betroffenen waren zwischen 18 und 21 Jahre alt.
    (Download des Berichts als PDF-Datei)
  • Befragung Justizministerium Baden-Württemberg (2005)
    In Baden-Württemberg hat das Justizministerium eine Fachkommission einberufen, die bis zum Herbst 2005 einen umfassenden Handlungsplan gegen Zwangsheirat entwickelt hat. Innerhalb der Fachkommission wurde eine Befragung verschiedener Einrichtungen in Baden-Württemberg durchgeführt, die folgende Ergebnisse lieferte: Von Januar bis Oktober 2005 suchten 213 Frauen und zwei Männer Hilfe wegen drohender oder erfolgter Zwangsverheiratung. 105 der Betroffenen waren bereits zwangsverheiratet worden, 110 Betroffene waren von Zwangsheirat bedroht. 40 % der Betroffenen waren bei der Zwangsheirat minderjährig.
    (Download des Berichts als PDF-Datei)

 

Zwangsheirat – Aktuelle Rechtslage

Neuregelung des Zuwanderungsgesetzes im Bezug auf Zwangsheirat, August 2007

Mit der im August 2007 in Kraft getretenen Änderung im Zuwanderungsgesetz hat der Gesetzgeber die Möglichkeit verpasst, wichtige Verbesserungen für die Betroffenen von Zwangsheirat zu erwirken.

Einzig die Heraufsetzung des Mindestalters für die Beteiligten beim Ehegattennachzug von 16 auf 18 Jahre begrüßt TERRE DES FEMMES. Durch diese Regelung werden so genannte "Importehen" mit Minderjährigen verhindert.

Auch die neue Voraussetzung von Deutschkenntnissen vor der Einreise begründet die Bundesregierung als Schutzmaßnahme gegen Zwangsheirat. Allerdings gilt dies nur für bestimmte Länder. Nachziehende Ehegatten aus Ländern wie den USA, Australien oder Japan sind davon ausgenommen.

Die Forderung von TERRE DES FEMMES nach der Verbesserung des eigenständigen Aufenthaltsrechts von zwangsverheirateten Frauen wurde zudem nicht berücksichtigt. In Deutschland kann ein Ehegatte erst nach Ablauf von zwei Jahren eine vom Ehepartner unabhängige Aufenthaltserlaubnis beantragen, außer es liegt eine "besondere Härte" gemäß § 31 Abs. 2 AufenthG vor. Bisher wird Zwangsheirat in den seltensten Fällen als "besondere Härte" anerkannt.

Vor der Reform wurde immer wieder auf die Problematik des begrenzten Rückkehrrechtes von ins Ausland verschleppten Mädchen und Frauen zum Zweck einer Heirat verwiesen. Auch in diesem Bereich zeigt sich die Bundesregierung beratungsresistent.

Werden Mädchen und Frauen mit befristeter und unbefristeter Aufenthaltserlaubnis ins Ausland verheiratet, erlischt laut § 51 Nr. 6 und 7 AufenthG die Aufenthaltserlaubnis nach sechs Monaten. Ein Rückkehrrecht ist nach § 37 AufenthG an bestimmte Bedingungen geknüpft. So ist beispielsweise ein gesicherter Lebensunterhalt nachzuweisen, was für Betroffene nahezu unmöglich ist.

Zwangsheirat – Formen

Zwangsehen in Deutschland treten in unterschiedlichen Konstellationen auf. Wir unterscheiden vier typische Formen (gilt natürlich auch für betroffene Männer):

  • Zwangsehen in Deutschland zwischen Deutschen mit Migrationshintergrund oder MigrantInnen
  • Heiratsverschleppung ins Ausland, z.B. beim Sommerurlaub: In Deutschland aufgewachsene Mädchen und junge Frauen müssen einen Mann im Herkunftsland der Familie heiraten und fortan dort leben.
  • Verheiratung für ein "Einwanderungsticket": Ein Mann aus dem Ausland erhält dabei über eine Eheschließung eine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland.
  • "Importehen": Junge Frauen aus dem Ausland werden nach Deutschland geholt und mit einem hier lebenden Mann verheiratet.

Die vierte Form der Zwangsheirat wurde jüngst von Ahmet Toprak ("Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer") untersucht, der sich intensiv mit der Lebenssituation männlicher Migranten beschäftigt. 15 junge türkische Männer, alle in Deutschland aufgewachsen und später per "Importehe" verheiratet, interviewte er zu ihrem Eheleben. Seine Studie ist Anfang 2006 erschienen. Seinen Ergebnissen zufolge ist Gewalt in den Ehen an der Tagesordnung. Dass Vergewaltigung in der Ehe strafbar ist, war für die jungen Männer nur ein Beispiel einer skurrilen deutschen Gesetzgebung.

Einige Zwangsheiraten werden per "Imamehe" geschlossen. Solche Ehen sind zwar nicht rechtskräftig, sozial sind sie dennoch absolut verbindlich. Das berichtet jedenfalls Shirin (Name geändert). Shirin stammt aus einer binationalen Familie, ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Als sie gerade 14 war, vereinbarte ihre Mutter einen Termin mit dem Imam in der nächsten Kleinstadt und verheiratete sie. "Ich wusste damals gar nicht, dass ich verheiratet werden sollte. Ich sollte nachsprechen, was der Imam sagte. Weil es hocharabisch war, verstand ich nicht, um was es überhaupt ging" berichtet sie. Nach der Eheschließung zog ihr Ehemann bei ihrer zuhause ein. Und als er merkte, dass Shirin nicht bereit war, die Rolle einer gefügigen Ehefrau zu spielen, wurde er gewalttätig. Shirin ist heute 17 Jahre alt. Die Ehe ist für sie Vergangenheit, die Ehepapiere des Imam hat sie einfach zerrissen. Formal wäre die Auflösung der Ehe zwar nur mit der Zustimmung der damals anwesenden Zeugen möglich. Doch die sind gar nicht mehr alle in Deutschland. Shirin ist sich sicher: "Ich heirate nur noch einen Mann, den ich mir selbst aussuche." Die Bücher von Serap Cileli, Fatma Bläser, Sabatina und Seyran Ates hat sie allesamt gelesen. Vielleicht möchte sie sich auch einmal gegen Zwangsehen engagieren.

Exemplarische Beispiele

Kadriye

Hanife

Aylin

 

KADRIYE 

Kadriye versucht, ihrem Bruder zu entkommen. Doch sie hat keine Chance, weil sie im fünften Monat schwanger ist. Ihr Bruder holt sie ein, verletzt sie auf offener Straße mit einem Säbel und erschlägt sie dann mit einem Stein. Kadriye hat die Ehre ihrer Familie verletzt, weil sie von einem Verwandten vergewaltigt und danach schwanger wurde. Nachdem der Vergewaltiger es abgelehnt hatte, Kadriye zu heiraten und somit die Ehre der Familie zu retten, sah ihr Bruder keinen anderen Ausweg, als Kadriye mit dem Einverständnis der gesamten Familie zu töten.

Kadriye musste sterben da sie in einer traditionell geprägten, patriarchalischen Gesellschaft lebt, in der die Ehre der gesamten Familie abhängig vom "richtigen" Verhalten der weiblichen Familienangehörigen ist. Verhält sich ein Mädchen oder eine Frau nicht dem traditionellen Frauenbild gemäß keusch und zurückhaltend, verletzt sie die Ehre der gesamten Familie nachhaltig.

Den Männern fällt in patriarchalischen Gesellschaften die Aufgabe zu, ihre weiblichen Familienangehörigen zu überwachen. Gelingt ihnen dies nicht, trifft die Schande in erster Linie sie. Daher sind sie diejenigen, die die Familienehre notfalls mit Gewalt wieder herstellen müssen. Männer sind dabei Täter wie Opfer zugleich, da häufig minderjährige Brüder der Frau vorgeschoben werden, die Tat zu begehen. Dem gesellschaftlichen Druck können auch sie sich häufig nicht entziehen.

Auch in Europa leben viele Familien mit Migrationshintergrund, die diesen Ehrenkodex verteidigen. Nicht alle Ehrverbrechen kommen ans Licht. Viele "Ehrenmorde" werden als Unfall oder Selbstmord getarnt. Auch werden die wenigsten Fälle vor Gericht gebracht. Außenstehende mischen sich selten ein: Die Bereinigung der Familienehre wird als Familiensache angesehen. Auch die Polizei schaut häufig weg. Die Täter haben mit geringen Strafen zu rechnen, wenn sie überhaupt gefasst und verurteilt werden. In einigen Ländern wie etwa Jordanien existieren spezielle Gesetze, die eine starke Strafmilderung oder sogar Freispruch für "Ehrenmörder" ermöglichen. Diese Gesetze gelten allerdings nur für Männer. Frauen, die einen männlichen Verwandten töten, haben mit langen Gefängnisstrafen oder mit der Todesstrafe zu rechnen.

HANIFE 

Mein Schmerz trägt  keinen Namen

Hanife G. wurde mit 17 Jahren im Kosovo zwangsverheiratet, sie sah ihren zukünftigen Ehemann Latif Z. erst einen Tag vor der Hochzeit. Für Latif war es selbstverständlich, dass er das Sagen hatte, und dass seine Frau gehorchen und sich unterordnen musste. Seinen Machtanspruch innerhalb der Familie setzt Latif mit Zwang, Unterdrückung und körperlicher Gewalt durch. Er schlägt seine Frau, später auch die Töchter.

Hanife und Latif kommen 1989 nach Deutschland, die älteste Tochter Ulerika ist 2 Jahre alt. Die anderen 3 Töchter werden in Deutschland geboren. Latif arbeitet in einem Installationsbetrieb, Hanife in einer Bäckerei. Latif weigert sich zunächst, seiner Frau den Besuch von Deutschkurse zu erlauben und eine Ausbildung als Altenpflegerin zu machen. Sie setzt sich jedoch gegen seinen Willen durch. Hanife G. ist auf dem Weg sich zu emanzipieren. Sie zieht sogar mit ihren Kindern aus dem gemeinsamen Haus in Kusterdingen aus. Vor Gericht wird ein partielles Hausverbot für Latif ausgesprochen. Weil sie ohne das Geld ihres Mannes keine Existenz für sich und ihre Töchter bestreiten kann und aus Angst, er könnte ihr und den Kindern etwas antun, zieht Hanife mit den Kindern zurück in das gemeinsame Haus. Latif darf ihr Stockwerk eigentlich nicht mehr betreten. Er fügt sich scheinbar, das Jugendamt zieht sich zurück. Latif ist nur noch ein Geduldeter, er fühlt sich wie ein gedemütigter Patriarch im eigenen Haus.

Der Konflikt in der Familie eskaliert. Im Frühjahr 2003 tötet Latif seine 16-jährige Tochter Ulerika. Er kann die ständigen Ehrverletzungen nicht mehr ertragen. In seinen traditionellen Ansichten war er noch immer stark von seiner kosovarischen Heimat geprägt. Weil sich Ulerika verhalten hat wie jedes andere Mädchen in Deutschland in ihrem Alter, musste sie sterben: Sie schminkte sich, trug modische Kleidung und hatte seit kurzem einen Freund. Ihr Vater konnte ihr Verhalten nicht akzeptieren und versuchte immer wieder, seine Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen. Er nutzte die Abwesenheit der Mutter, um Ulerika in den Keller zu locken. Dort erdrosselte er seine Tochter mit Klebeband.

Der Vater von Ulrika wurde von einem Tübinger Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt.

Hanife, Gashi (mit Sylvia Rizvi): Mein Schmerz trägt deinen Namen. Ein Ehrenmord in Deutschland. Rowohlt-Verlag. Hamburg 2005 Das Buch jetzt bestellen: Zum TDF-Online-Shop

AYLIN

Aylin Korkmaz

Aylin Korkmaz wurde im November 2007 von ihrem Ex-Mann Mehmet mit 26 Messerstichen niedergestochen und überlebte nur knapp. Weil er nicht ertragen konnte, dass sie sich scheiden ließ und ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben führen wollte, sollte sie sterben.

Aylin litt schon lange unter den patriarchalischen Strukturen ihrer Ehe, auch weil ihr Mann Mehmet ihr verbieten wollte, arbeiten zu gehen. Häufig wurde er gewalttätig. Im Jahr 2003 ließ sich Aylin scheiden, lebte aber auf Druck seiner Familie und wegen finanzieller Schwierigkeiten bis Juni 2007 wieder mit ihm zusammen. Dann trennte sie sich endgültig. Ihr Ex-Mann fühlte sich durch dieses Verhalten in seiner Ehre verletzt. Fünf Monate später versuchte er, sie an ihrem Arbeitsplatz in einer Autobahnraststätte umzubringen. Aylins Wunden mussten mit 250 Stichen genäht werden, die Ärzte räumten ihr eine Überlebenschance von 30 Prozent ein. Aylin überlebte.

Trotz der Verletzungen, die Aylins Ex-Mann ihr zugefügt hat, geht sie mutig in die Öffentlichkeit. Sie zeigt dem Mann, der ihr Leben zerstören wollte, dass er es nicht geschafft hat, ihren Willen zu brechen und dass sie sich ihren Wunsch auf ein freies und unabhängiges Leben trotz allem erfüllt. Es zeugt von großer Stärke, wie sie mit ihrem Engagement auch anderen Frauen Mut macht, endlich aufzustehen und sich gegen Gewalt zu wehren.