Kadriye
Hanife
Aylin
KADRIYE
Kadriye versucht, ihrem Bruder zu entkommen. Doch sie hat keine Chance, weil sie im fünften Monat schwanger ist. Ihr Bruder holt sie ein, verletzt sie auf offener Straße mit einem Säbel und erschlägt sie dann mit einem Stein. Kadriye hat die Ehre ihrer Familie verletzt, weil sie von einem Verwandten vergewaltigt und danach schwanger wurde. Nachdem der Vergewaltiger es abgelehnt hatte, Kadriye zu heiraten und somit die Ehre der Familie zu retten, sah ihr Bruder keinen anderen Ausweg, als Kadriye mit dem Einverständnis der gesamten Familie zu töten.
Kadriye musste sterben da sie in einer traditionell geprägten, patriarchalischen Gesellschaft lebt, in der die Ehre der gesamten Familie abhängig vom "richtigen" Verhalten der weiblichen Familienangehörigen ist. Verhält sich ein Mädchen oder eine Frau nicht dem traditionellen Frauenbild gemäß keusch und zurückhaltend, verletzt sie die Ehre der gesamten Familie nachhaltig.
Den Männern fällt in patriarchalischen Gesellschaften die Aufgabe zu, ihre weiblichen Familienangehörigen zu überwachen. Gelingt ihnen dies nicht, trifft die Schande in erster Linie sie. Daher sind sie diejenigen, die die Familienehre notfalls mit Gewalt wieder herstellen müssen. Männer sind dabei Täter wie Opfer zugleich, da häufig minderjährige Brüder der Frau vorgeschoben werden, die Tat zu begehen. Dem gesellschaftlichen Druck können auch sie sich häufig nicht entziehen.
Auch in Europa leben viele Familien mit Migrationshintergrund, die diesen Ehrenkodex verteidigen. Nicht alle Ehrverbrechen kommen ans Licht. Viele "Ehrenmorde" werden als Unfall oder Selbstmord getarnt. Auch werden die wenigsten Fälle vor Gericht gebracht. Außenstehende mischen sich selten ein: Die Bereinigung der Familienehre wird als Familiensache angesehen. Auch die Polizei schaut häufig weg. Die Täter haben mit geringen Strafen zu rechnen, wenn sie überhaupt gefasst und verurteilt werden. In einigen Ländern wie etwa Jordanien existieren spezielle Gesetze, die eine starke Strafmilderung oder sogar Freispruch für "Ehrenmörder" ermöglichen. Diese Gesetze gelten allerdings nur für Männer. Frauen, die einen männlichen Verwandten töten, haben mit langen Gefängnisstrafen oder mit der Todesstrafe zu rechnen.
HANIFE

Hanife G. wurde mit 17 Jahren im Kosovo zwangsverheiratet, sie sah ihren zukünftigen Ehemann Latif Z. erst einen Tag vor der Hochzeit. Für Latif war es selbstverständlich, dass er das Sagen hatte, und dass seine Frau gehorchen und sich unterordnen musste. Seinen Machtanspruch innerhalb der Familie setzt Latif mit Zwang, Unterdrückung und körperlicher Gewalt durch. Er schlägt seine Frau, später auch die Töchter.
Hanife und Latif kommen 1989 nach Deutschland, die älteste Tochter Ulerika ist 2 Jahre alt. Die anderen 3 Töchter werden in Deutschland geboren. Latif arbeitet in einem Installationsbetrieb, Hanife in einer Bäckerei. Latif weigert sich zunächst, seiner Frau den Besuch von Deutschkurse zu erlauben und eine Ausbildung als Altenpflegerin zu machen. Sie setzt sich jedoch gegen seinen Willen durch. Hanife G. ist auf dem Weg sich zu emanzipieren. Sie zieht sogar mit ihren Kindern aus dem gemeinsamen Haus in Kusterdingen aus. Vor Gericht wird ein partielles Hausverbot für Latif ausgesprochen. Weil sie ohne das Geld ihres Mannes keine Existenz für sich und ihre Töchter bestreiten kann und aus Angst, er könnte ihr und den Kindern etwas antun, zieht Hanife mit den Kindern zurück in das gemeinsame Haus. Latif darf ihr Stockwerk eigentlich nicht mehr betreten. Er fügt sich scheinbar, das Jugendamt zieht sich zurück. Latif ist nur noch ein Geduldeter, er fühlt sich wie ein gedemütigter Patriarch im eigenen Haus.
Der Konflikt in der Familie eskaliert. Im Frühjahr 2003 tötet Latif seine 16-jährige Tochter Ulerika. Er kann die ständigen Ehrverletzungen nicht mehr ertragen. In seinen traditionellen Ansichten war er noch immer stark von seiner kosovarischen Heimat geprägt. Weil sich Ulerika verhalten hat wie jedes andere Mädchen in Deutschland in ihrem Alter, musste sie sterben: Sie schminkte sich, trug modische Kleidung und hatte seit kurzem einen Freund. Ihr Vater konnte ihr Verhalten nicht akzeptieren und versuchte immer wieder, seine Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen. Er nutzte die Abwesenheit der Mutter, um Ulerika in den Keller zu locken. Dort erdrosselte er seine Tochter mit Klebeband.
Der Vater von Ulrika wurde von einem Tübinger Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt.
Hanife, Gashi (mit Sylvia Rizvi): Mein Schmerz trägt deinen Namen. Ein Ehrenmord in Deutschland. Rowohlt-Verlag. Hamburg 2005 Das Buch jetzt bestellen: Zum TDF-Online-Shop
AYLIN

Aylin Korkmaz wurde im November 2007 von ihrem Ex-Mann Mehmet mit 26 Messerstichen niedergestochen und überlebte nur knapp. Weil er nicht ertragen konnte, dass sie sich scheiden ließ und ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben führen wollte, sollte sie sterben.
Aylin litt schon lange unter den patriarchalischen Strukturen ihrer Ehe, auch weil ihr Mann Mehmet ihr verbieten wollte, arbeiten zu gehen. Häufig wurde er gewalttätig. Im Jahr 2003 ließ sich Aylin scheiden, lebte aber auf Druck seiner Familie und wegen finanzieller Schwierigkeiten bis Juni 2007 wieder mit ihm zusammen. Dann trennte sie sich endgültig. Ihr Ex-Mann fühlte sich durch dieses Verhalten in seiner Ehre verletzt. Fünf Monate später versuchte er, sie an ihrem Arbeitsplatz in einer Autobahnraststätte umzubringen. Aylins Wunden mussten mit 250 Stichen genäht werden, die Ärzte räumten ihr eine Überlebenschance von 30 Prozent ein. Aylin überlebte.
Trotz der Verletzungen, die Aylins Ex-Mann ihr zugefügt hat, geht sie mutig in die Öffentlichkeit. Sie zeigt dem Mann, der ihr Leben zerstören wollte, dass er es nicht geschafft hat, ihren Willen zu brechen und dass sie sich ihren Wunsch auf ein freies und unabhängiges Leben trotz allem erfüllt. Es zeugt von großer Stärke, wie sie mit ihrem Engagement auch anderen Frauen Mut macht, endlich aufzustehen und sich gegen Gewalt zu wehren.