• 15.05.2023

VOICE-Erhebung zur humanitären Lage der Frauen in der Ukraine nach Kriegsausbruch

Es war kein positives Fazit, das das Bündnis VOICE, ein Zusammenschluss von 87 in der internationalen Humanitären Hilfe tätigen europäischen Nichtregierungsorganisationen, und die jüdisch-amerikanische Organisation HIAS (Hebrew Immigrant Aid Society), in ihrer am 26. Mai 2022 veröffentlichten Erhebung „Waiting for the Sky to Close: The Unprecedented Crisis Facing Women and Girls Fleeing Ukraine“ (zu Dt.: „Warten, dass sich der Himmel schließt: Die beispiellose Krise von Frauen und Mädchen auf der Flucht aus der Ukraine“) zur humanitären Lage von Frauen und Mädchen in und aus der Ukraine zogen. Die Berichte wurden von einem 10-köpfigen Team verfasst, das vier Wochen lang mit Frauenrechtsorganisationen, RegierungsrepräsentantInnen, der UN sowie Binnenvertriebenen und Geflüchteten in Ungarn, Moldawien, Polen, Rumänien und der Slowakei sprach. Zudem fanden virtuelle Interviews v.a. mit Frauenrechtsgruppen in der Ukraine statt. Für TDF von besonderem Interesse war der Bericht zur Lage in der Ukraine, da wir seit März 2022 ein Frauenschutzhaus im westukrainischen Chernowitz unterstützen.

HUMANITÄRE HILFE DREI MONATE NACH KRIEGSBEGINN

Das Fehlen humanitärer Korridore habe vor allem in den ersten Kriegsmonaten dazu geführt, dass sehr viele Menschen in der Ukraine festsaßen oder auf ihrer Flucht völlig schutzlos waren. VOICE wirft in diesem Zusammenhang vor allem den UN, aber auch den internationalen Nichtregierungsor-ganisationen (NROs), Versagen vor.  Gerade der Zugang zu den östlichen Regionen des Landes, die am stärksten von den anhaltenden Kämpfen betroffen sind, sei praktisch nicht vorhanden gewesen. Ausschließlich ukrainische NROs hätten dort humanitäre Hilfe geleistet, wenn sie auch zumindest finanziell von internationalen NROs dabei unterstützt worden wären.

Wie von VOICE ermittelt, lag die Zahl der Binnenvertriebenen in der Ukraine zum 26. Mai 2022 bei 7,7 Millionen Menschen, 5,7 Millionen Menschen hatten sich in die Nachbarländer geflüchtet. Bis Februar 2023 hat sich dieses Verhältnis aufgrund des dynamischen Kriegsgeschehens verschoben: laut UNHCR sind 18,6 Millionen Menschen aus der Ukraine geflüchtet. 5,4 Millionen Menschen gelten als innerhalb der Ukraine Vertriebene. Auch, weil Männer im wehrpflichtigen Alter das Land nicht verlassen dürfen bzw. an der Front eingesetzt werden, ist die große Mehrzahl der Binnenvertriebenen und Geflüchteten weiblichen Geschlechts. Zum 26. Mai 2022 waren 90 Prozent der auf humanitäre Hilfe Angewiesenen Frauen und Kinder.

SITUATION FÜR FRAUEN

VOICE zufolge waren die am häufigsten von Frauenrechtsorganisationen thematisierten Herausforderungen die starke Zunahme von Gewalt in Paarbeziehungen, die Schwierigkeiten der Grundbedürfnisdeckung von Frauen, v.a. mit Blick auf den Zugang zu Nahrungsmitteln und Unterkunft, sowie die Nichteinbindung der eigenen Expertise und Erfahrung als Frauenrechtsorganisationen in die Planung und Realisierung humanitärer Hilfsmaßnahmen. Entsprechend wenig geschlechtersensibel und gewaltpräventiv sei die humanitäre Hilfe gerade in den ersten Kriegsmonaten gewesen. Auch der Zusammenbruch staatlicher Schutzleistungen v.a. im Bereich häusliche Gewalt wurde problematisiert: einige Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt hätten sich an die Polizei in ihrer Stadt gewandt, die Reaktion der BeamtInnen sei allerdings gewesen, dass sie aktuell „größere Probleme“ hätten.

Frauen selbst gaben an, die gravierendsten Probleme für sie seien die Bedrohung der physischen Sicherheit durch die ständigen Bombardierungen und Kampfhandlungen, die unsichere Ernährungslage und der fehlende Zugang zu Gesundheitsdiensten, vor allem im Bereich der reproduktiven Gesundheit, der Versorgung von Vergewaltigungsopfern und der psychischen Gesundheit gewesen.

EMPFEHLUNGEN

In jedem bewaffneten Konflikt nimmt die Gewalt an Frauen und Mädchen rapide zu und bleibt noch lange nach Beendigung der akuten Kampfesphase bestehen. Deshalb muss die Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt ein essenzieller Teil aller humanitärer Hilfsmaßnahmen sein. VOICE spricht sich in diesem Zusammenhang u.a. für die Finanzierung von Programmen aus, die auf die spezifischen Bedürfnisse von Frauen und Mädchen auf der Flucht sowie in den Aufnahmegemeinschaften zugeschnitten sind.  Auch sollten alle Programme so angelegt sein, dass die beteiligten Frauen keine un- oder unterbezahlte Arbeit leisten müssen. Deutlich mehr Befugnisse sollten an frauengeführte NROs übertragen werden, da sie über besondere Expertise und Erfahrung in der Ermittlung und Berücksichtigung der Bedürfnisse von Frauen und Mädchen verfügen.

TDF beherzigt diese Empfehlungen in der Kooperation mit der frauengeführten NRO Misto Dobra in der Westukraine. Bei allen humanitären Hilfsmaßnahmen wird vorrangig auf den Schutz, die vollständige, faire Teilhabe und aktive Gestaltung durch Frauen und Mädchen geachtet.

Stand: 02/2023

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