• 06.05.2022

Versorgungslücken bei der vertraulichen Spurensicherung: Zu wenig Unterstützung für Betroffene von sexualisierter Gewalt

Im Jahr 2021 wurden 9.903 Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung in Deutschland in der polizeilichen Kriminalstatistik erfasst. Dabei ist zu beachten, dass diese Anzahl lediglich die angezeigten Straftaten abbildet. Es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer deutlich höher liegt.

Die vertrauliche Spurensicherung ist für Betroffene von sexualisierter Gewalt ein unabdingbares Verfahren, bei dem gerichtsfeste Beweise gesichert werden, ohne dass sofort eine polizeiliche Anzeige erstattet oder ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden muss. Betroffene von sexualisierter Gewalt können oft nicht sofort entscheiden, ob sie Anzeige erstatten und damit ein Strafverfahren in Gang setzen wollen.

Seit dem 01.03.2020 übernehmen gesetzliche Krankenversicherungen die Finanzierung der vertraulichen Spurensicherung für Betroffene von sexualisierter und körperlicher Gewalt (SGB V § 27 und § 132k). Finanziert wird eine vertrauliche Spurensicherung nach erlebter Gewalt einschließlich Dokumentation, Laboruntersuchungen und Aufbewahrung der Befunde. Das Gesetz muss in Deutschland allerdings auf Länderebene umgesetzt werden, daher ist der Stand in den einzelnen Bundesländern diesbezüglich sehr unterschiedlich.

An dem bestehenden Gesetz gibt es jedoch hinreichende Probleme. Für privat Versicherte, AsylbewerberInnen und Minderjährige ohne Zustimmung der Eltern gibt es bisher auch keine Lösung. Sie können die vertrauliche Spurensicherung nicht in Anspruch nehmen. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die medizinische Versorgung nach Misshandlung und sexualisierter Gewalt bereits adäquat geregelt und ausreichend finanziert sei. Erfahrungen aus der Gesundheitsversorgung, aus Fachberatungsstellen und durch Betroffenenberichte belegen jedoch immer wieder das Gegenteil. Zu wenig Kliniken und Praxen wissen Bescheid oder bieten eine umfassende Ersthilfe inklusive Gespräch, Aufklärung, Klärung von Schutzbedarf und Vermittlung an weiterführenden Hilfen (z.B. an Fachberatungsstellen) an. Erschwerend kommt hinzu, dass die vertrauliche Spurensicherung nicht flächendeckend angeboten wird und in vielen Einrichtungen am Abend und an den Wochenenden gar keine Versorgung stattfinden kann.

In diesem Fall wären Rettungsstellen in Krankenhäusern die einzige Anlaufstelle für betroffene Mädchen und Frauen. Die medizinischen ErstversorgerInnen und AnsprechpartnerInnen für betroffene Frauen sind nicht ausreichend sensibilisiert und geschult. Kliniken, aber auch niedergelassene Ärzte und Ärztinnen, sind schlecht informiert, und verweisen betroffene Frauen auf die polizeiliche Anzeige, die erst erstellt werden müsse, was schlicht und ergreifend falsch ist. Dies zeigte auch eine nicht repräsentative, aber dennoch ernüchternde Stichprobe, die TERRE DES FEMMES in einigen Berliner Krankenhäusern gemacht hat.  In den meisten der kontaktierten Rettungsstellen wurde Sprache verwendet, die betroffene Frauen zudem stark triggern oder zusätzlich belasten kann.

Die Kosten für die Qualifizierung der Fachkräfte und für die Bereitstellung von Spurensicherungskits werden nicht über das bestehende Gesetz geregelt. Die Kits zur Spurensicherung werden aktuell entweder von Fachberatungsstellen oder den Kliniken selbst finanziert. Kliniken haben zudem Finanzierungsprobleme bei der Versorgung von betroffenen Mädchen und Frauen. Sie können nach einer Vergewaltigung nur Notfallpauschalen abrechnen.

Bisher sind Notfallkontrazeptiva nur bis zum 22. Lebensjahr kostenfrei. Danach müssen Betroffene selbst dafür zahlen. Auch Laboruntersuchungen wie zum Beispiel wichtige Tests auf Chlamydien oder eine HIV-Infektion sind nicht abrechenbar in Krankenhäusern. Lange Wartezeiten und ungeklärte Abläufe in Rettungsstellen oder geschlossene Gewaltschutzeinrichtungen am Abend oder Wochenende verzögern zudem wichtige Untersuchungen.  Eine K.O. Tropfen Analyse sollte beispielsweise innerhalb von 6-8 Stunden erfolgen. Bei einer HIV-Prophylaxe ist das Zeitfenster ebenso klein: Sie sollte bestmöglich innerhalb von 2 Stunden begonnen werden, spätestens aber nach 48 Stunden.

Unsere Recherchen haben außerdem ergeben, dass Informationen zu Akutversorgung und zur vertraulichen Spurensicherung nur schwer zugänglich und nicht leicht verständlich sind. Zudem fehlt es an ausreichenden Übersetzungen in andere Sprachen und SprachmittlerInnen. Betroffene von sexualisierter Gewalt werden in einer schwer traumatischen Situation extremen bürokratischen und finanziellen Hürden gegenübergestellt. Sie müssen Öffnungszeiten von Einrichtungen und Telefonsprechzeiten im Hinterkopf behalten und Termine vereinbaren und das in einer Situation, in der sie körperlich und seelisch verletzt sind, missbraucht wurden und unter Umständen gar nicht in der Lage sind klare Gedanken zu fassen.

Das muss sich ändern. TERRE DES FEMMES setzt sich dafür ein, dass vertrauliche Spurensicherung flächendeckend und niedrigschwellig für alle Betroffenen von sexualisierter Gewalt zugänglich ist. Versorgungslücken müssen identifiziert und geschlossen werden, um eine unnötige zusätzliche Belastung für Betroffene zu vermeiden und ihnen einen traumasensible, qualitativ hochwertige und vertrauenswürdige Betreuung gewährleisten zu können.

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