• 11.05.2022

Presserecherche von TERRE DES FEMMES zu mutmaßlichen „Ehren“-Morden (inkl. Versuche) 2021 und 2022

Jedes Jahr anlässlich des Gedenkens an Hatun Sürücü betreibt TERRE DES FEMMES eine intensive Presserecherche zu mutmaßlichen versuchten oder vollzogenen sog. Ehrenmorden in Deutschland. TERRE DES FEMMES möchte damit auf diese Gewaltform aufmerksam machen und aufzeigen, dass die Zahl der von tödlichen Ehrverbrechen betroffenen Personen unvermindert hoch ist.

Für das Jahr 2021 hat sich die Zahl der Opfer von versuchten oder vollzogenen „Ehren“-Morden von zunächst 10 auf 19 erhöht. Gerichtsprozesse oder öffentliche Äußerungen der Staatsanwaltschaft zu möglichen Hintergründen und Motiven erfolgen oft erst mehrere Monate nach der Tat, sodass ein vermeintliches Ehrmotiv erst spät publik wird. Näher aufgeschlüsselt ergibt sich folgendes Bild:

2021 endeten 10 „Ehren“-Morde tödlich, bei 9 blieb es beim Versuch bzw. die Opfer überlebten teils schwer verletzt. Nach Geschlechtern aufgeteilt befinden sich 9 Männer und 10 Frauen unter den Opfern eines (versuchten) „Ehren“-Mordes.

Im Jahr 2022 sind bislang 7 Opfer bekannt geworden, 3 Männer und 4 Frauen – 3 Personen starben, 4 überlebten. Für 2022 ist jedoch auch zu erwarten, dass durch Ermittlungen und Prozesse weitere Fälle mit einem vermeintlichen Ehrmotiv bekannt werden und sich die Zahl der mutmaßlichen „Ehren“-Morde demnach rückwirkend noch erhöhen könnte.

Liest man sich die Tatabläufe oder vorangegangenen Ereignisse durch, fallen zahlreiche Parallelen ins Auge: In den meisten Fällen, in denen Frauen tödlich verletzt wurden, lebten sie bereits viele Jahre in einer von Gewalt, Demütigung und Unterdrückung geprägten Ehe. Teilweise ist von einer Zwangsverheiratung zu lesen, von zuvor ausgesprochenen Todesdrohungen seitens des späteren Täters oder von dessen Bemühen, innerhalb der Familie oder der Community die Frau für ihr vermeintliches Fehlverhalten in Misskredit zu bringen. Der Tat vorangegangen sind dann laut Presseberichten eine vollzogene, geplante oder seitens des Ehemanns lediglich befürchteten Trennung.

Das bedeutet, der selbstbestimmte Weg in ein Stück persönliche Freiheit kann für Frauen tödlich enden. Ebenso zeigen die recherchierten Fälle, dass viele Frauen sich zuvor Hilfe geholt haben, teilweise waren Annäherungsverbote verhangen worden oder Frauen suchten Zuflucht in einem Frauenhaus. Es ist alarmierend, dass diese Maßnahmen nicht wirksam vor einer (versuchten) Ermordung schützen konnten.

Das verdeutlicht, welches Gewaltpotenzial eine – aus Tätersicht – verletzte Ehre entfalten kann. Auch ist auffällig, dass in einigen Fällen bekannt wurde, dass die Tat unmittelbar nach dem Geschehen im Bekanntenkreis oder durch Social Media teilweise öffentlich gemacht wurde. Im Kontext von Ehrverbrechen stellt dies einen Versuch dar das Umfeld wissen zu lassen, dass der Täter durch den (versuchten) „Ehren“-Mord seine Ehre gereinigt bzw. wiederhergestellt hat. Nicht selten finden die Taten daher in der Öffentlichkeit statt: Dies zeigt sich auch in den recherchierten Fällen: 6 von 7 versuchten oder vollzogenen „Ehren“-Morden erfolgten 2022 an einem öffentlichen Ort.

Ein „Ehren“-Mord kann auch ein Femizid sein, nicht jeder Femizid aber auch ein „Ehren“-Mord. Dies verdeutlicht auch die vergleichsweise hohe Zahl an männlichen Betroffenen. Allerdings stellen sog. Ehrenmorde nur den Gipfel patriarchaler, ehrbedingter Gewalt dar, von der vor allem Mädchen und Frauen betroffen sind. Wie in den aufgezeigten Fällen deutlich wurde, gehen der Tat oft eine Vielzahl von Gewaltformen an weiblichen Betroffenen voraus, die statistisch nicht oder kaum erfasst werden können und häufig im Verborgenen bleiben.

Mädchen und Frauen sind innerhalb streng patriarchaler Strukturen von früh an in ihrer Lebensgestaltung größer eingeschränkt, sie werden stärker kontrolliert und von (männlichen) Verwandten fremdbestimmt. Früh- und Zwangsverheiratungen, eine Form von Gewalt im Namen der Ehre, betraf laut der letzten Studie (2011) in Deutschland zu 93% Mädchen und Frauen. Frauen gelten innerhalb dieser patriarchalen Strukturen als „Besitz“ des Mannes (zunächst des Vaters, dann bei Heirat des Ehemannes), ihre Sexualität unterliegt starken Reglementierungen. Halten sie sich nicht an die der Gemeinschaft zugrunde liegenden Sitten- und Moralvorstellungen, kann die Familienehre als beschmutzt gelten. Dann kann es als Aufgabe der Männer angesehen werden, die Ehre wiederherzustellen – die äußerste Form dabei ist die Tötung der als für den vermeintlichen Ehrverlust verantwortlich angesehenen Person.

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