• 05.07.2023

Offener Brief an die Gesundheitsministerkonferenz: Setzen Sie jetzt reproduktive Selbstbestimmungsrechte um und unterstützen Sie Frauen und Mädchen, die von Gewalt betroffen sind!

Sehr geehrter Herr Bundesminister,

Sehr geehrte GesundheitsministerInnen der Länder,

anlässlich der diesjährigen Gesundheitsministerkonferenz (GMK) am 5. und 06. Juli möchte TERRE DES FEMMES (TDF) die Gelegenheit nutzen und eindringlich an die Umsetzung reproduktiver Selbstbestimmungsrechte sowie die verpflichtende Umsetzung von Maßnahmen der Istanbul Konvention appellieren, um Frauen und Mädchen vor Gewalt zu schützen und sie frei und selbstverantwortlich über ihren Körper entscheiden können.

Als Frauenrechtsorganisation begrüßt TERRE DES FEMMES die von der Bundesregierung einberufene Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin, die unter anderem eine Streichung der Paragrafen 218/219 aus dem Strafgesetzbuch prüfen wird.

In Deutschland ist die reproduktive Selbstbestimmung von Frauen noch immer eingeschränkt, das zeigt sich auch im Bereich der Verhütung. Verhütung in Deutschland ist vor allem Frauensache. Eine Wahl zwischen mehreren Verhütungsmethoden gibt es streng genommen nur für Frauen, ihnen wird damit die Hauptverantwortung für Verhütung aufgelastet. Da die Abgabe von verschiedenen Verhüttungsmitteln in Deutschland nicht kostenlos ist und kein gleichberechtigter Zugang zu Verhütungsmethoden besteht, müssen darüber hinaus oftmals Frauen die Kosten aufbringen.

TERRE DES FEMMES fordert daher einen verstärkten Einsatz der GesundheitsministerInnen im Bereich der reproduktiven Selbstbestimmungsrechte, wie beispielsweise die Entwicklung von Verhütungsmitteln für Männer, um einen gleichberechtigten Zugang zu Verhütungsmitteln in Deutschland zu schaffen. Zudem fordern wir, dass Verhütungsmittel für alle Menschen kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Dies muss auch für die Abgabe der sogenannten „Pille danach“ gelten. Damit eine wirksame Aufklärung über diese rezeptfreie Notfallverhütung erfolgen kann, muss überdies das seit 2015 gesetzlich verankerte Werbe- bzw. Informationsverbot ersatzlos gestrichen werden. Auch im Jahr 2023 wissen nicht alle Menschen, dass es die „Pille danach“ gibt. Erst kürzlich wurde dazu eine Umfrage veröffentlicht.

Als Frauenrechtsorganisation beobachten wir seit Jahren einen Anstieg der Zahl der offiziell registrierten Fälle häuslicher Gewalt, im vergangenen Jahr in Deutschland sogar um fast 10 Prozent. Die psychischen Folgen häuslicher Gewalt und die Umstände, in denen sich Frauen mit Gewalterfahrung oft befinden, wie finanzielle Abhängigkeit, gemeinsame Kinder, soziale Isolation und Angst vor Vergeltung durch den Partner, erschweren es ihnen sich aus ihrer Situation zu befreien. Oft dauert es Jahre, bis ihnen dies gelingt. Die Tatsache, dass in Deutschland durchschnittlich jeden dritten Tag eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners getötet wird, zeigt, dass ihre Angst nicht unbegründet ist. Aus diesen Gründen müssen bestehende Barrieren im Gesundheitssystem, die den Befreiungsprozess für hilfesuchende Betroffenen zusätzlich erschweren könnten, wie beispielsweise die mangelnde Erreichbarkeit und Zugänglichkeit im Beratungs- und Interventionsbereich umgehend beseitigt werden. TERRE DES FEMMES fordert daher die flächendeckende und adäquate Ausstattung mit Interventions- und Beratungsstellen sowie die flächendeckende Errichtung von Gewaltschutzambulanzen für Betroffene von häuslicher Gewalt.

Wir fordern außerdem den Ausbau dezentraler und ständig verfügbarer Angebote für die vertrauliche Spurensicherung und medizinische Versorgung nach sexualisierter und körperlicher Gewalt. Nicht nur Kliniken, sondern auch niedergelassene ÄrztInnen sollten die vertrauliche Spurensicherung anbieten. Wir möchten darauf hinweisen, dass die mangelnde Verfügbarkeit und die Gefahr der unqualifizierten oder unsensiblen Ausführung der vertraulichen Spurensicherung und medizinischen Versorgung eine Retraumatisierung der Betroffenen zur Folge haben kann. Es ist sehr bedauerlich, dass dieser Umstand für Frauen, die nach dem Erleben sexueller Gewalt/einer Vergewaltigung in Deutschland Hilfe suchen, so oft Realität wird. Die Geschehnisse im Nachgang der Gewalterfahrung können unter Umständen die Intensivierung psychischer und gesundheitlicher Folgebeschwerden verursachen. Die Betroffenen sind in dieser Situation besonders vulnerabel und das Gesundheitssystem muss diesem Umstand Rechnung tragen.

Auch Kinder sind in Deutschland von Gewalt betroffen. Es wird davon ausgegangen, dass statistisch gesehen in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder von häuslicher oder sexualisierter Gewalt betroffen sind. Die zuletzt veröffentlichten Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik bestätigen dies und zeigen, dass 2022 die Zahlen erneut angestiegen sind. TERRE DES FEMMES fordert daher die Einführung bundesweit verpflichtender ärztlicher Vorsorgeuntersuchungen (U-Untersuchungen) für Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr und die Kostenübernahme dieser Untersuchungen durch die Krankenkassen. Es ist wichtig, dass dieses bereits bestehende Präventionsinstrument bundesweit konsequent angewandt wird. Die Teilnahme an U-Untersuchungen nimmt nach dem zweiten Lebensjahr stark ab. Erinnerungs- und Einladungsverfahren erreichen viele Familien, insbesondere solche mit sozialen Belastungen, nicht. Auswertungen von Fällen, in denen Kinder aufgrund von Misshandlung und Vernachlässigung zu Tode gekommen sind, zeigen, dass die Eltern in den meisten Fällen die Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrgenommen hatten.  Der deutsche Staat ist dazu verpflichtet Kinder vor Gewalt zu schützen und ihnen ein sicheres, geborgenes und freies Heranwachsen in Würde zu ermöglichen. Verpflichtende U-Untersuchungen ermöglichen ein frühes Eingreifen und bietet die Chance Kinder effektiv zu schützen. Gleichzeitig kann so ein Beitrag zum Ausbruch aus der Gewaltspirale geleistet werden. Denn wer in der Kindheit Gewalt und Vernachlässigung erlebt, hat später selbst eine höhere Wahrscheinlichkeit, sowohl Opfer von weiterer Gewalt, als auch selbst Täter zu werden.

 

TERRE DES FEMMES fordert daher u.a.:

  • Bereitstellung kostenloser Verhütungsmittel für alle und die kostenlose Abgabe der „Pille danach“
  • die Streichung des Werbe- und Informationsverbots für Notfallkontrazeptiva
  • flächendeckende und adäquate Ausstattung mit Interventions- und Beratungsstellen sowie die flächendeckende Errichtung von Gewaltschutzambulanzen
  • Ausbau dezentraler und ständig verfügbarer Angebote für die vertrauliche Spurensicherung und medizinische Versorgung nach sexualisierter und körperlicher Gewalt
  • Einführung bundesweit verpflichtender ärztlicher Vorsorgeuntersuchungen(U-Untersuchungen) für Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr und die Kostenübernahme dieser Untersuchungen durch die Krankenkassen

Sie als Bundesminister für Gesundheit und als GesundheitsministerInnen der Länder können bewirken, dass wichtige reproduktive Rechte umgesetzt werden und dass Mädchen und Frauen, die von Gewalt betroffen sind, umfassend und adäquat im Gesundheitssystem unterstützt und versorgt werden. TERRE DES FEMMES appelliert daher an Sie: Setzen Sie diese wichtigen Forderungen um!

Mit freundlichen Grüßen

Christa Stolle

Bundesgeschäftsführerin

 

Der Offene Brief als PDF

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