• 13.07.2023

Offener Brief an die AutorInnen des Berichts „Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz 2023“: Pauschalisierte und verzerrte Darstellungen von TERRE DES FEMMES und Dr. Necla Kelek

Sehr geehrte AutorInnen des Berichts „Muslimfeindlichkeit – eine deutsche Bilanz 2023“,

TERRE DES FEMMES begrüßt das Anliegen, Muslimfeindlichkeit in Deutschland zu untersuchen und Missstände aufzuzeigen. Ihr Bericht „Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz“, wurde am 21.06.2023 veröffentlicht und vom Bundesministerium des Inneren und für Heimat in Auftrag gegeben. In diesem Bericht wird die Position von TERRE DES FEMMES (TDF) im Kapitel 4 Öffentliche Debatte: Fallbeispiele von Muslimfeindlichkeit, Unterkapitel 4.1. Debatte über das Kopftuch (Hijab) pauschalisiert und verzerrt dargestellt.

Sie, die AutorInnen, gehen davon aus, dass Frauen mit Kopftuch als einheitliche Gruppe konstruiert und angesprochen werden. Daher gälte dies auch für die Thematisierung und Kritik, die sie durch feministische Organisationen wie TERRE DES FEMMES, als eine der prominentesten Frauenrechtsvereine, erfahren würden (vgl. S. 79). Sie verweisen auf unser Positionspapier zum Kopftuch im Staatsdienst aus dem Jahr 2006, in dem TERRE DES FEMMES darauf hinweist, dass die Besetzung öffentlicher Ämter mit kopftuchtragenden Frauen dem Neutralitätsgebot des Staates widerspricht. Hierbei ist bereits problematisch, dass impliziert wird, TDF würde pauschal Frauen mit Kopftuch kritisieren. Das stimmt so nicht. TDF respektiert selbstverständlich die individuelle Selbstbestimmung von volljährigen Frauen als Privatperson. Jedoch, der deutsche Staat hat sich zur Neutralität verpflichtet. Wer für den Staat in Verwaltung, Justiz oder im Schuldienst arbeitet, sollte sich mit dieser Neutralität identifizieren und diese ausstrahlen. Das Tragen von Kopftuch, Kippa oder Kreuz verkörpert für uns keine Neutralität.

Ferner hat TERRE DES FEMMES 2017 ein weitergehendes Positionspapier für minderjährige Mädchen in öffentlichen Bildungseinrichtungen (Schule und Kita) verabschiedet. In diesem Positionspapier fordern wir ein Verbot des sogenannten Kinderkopftuchs und sehen hierbei die Wichtigkeit für ein gleichberechtigtes Lernen und selbstbestimmtes Aufwachsen an erster Stelle. Damit steht TDF auch nicht allein, viele Lehrkräfte und SchulsozialarbeiterInnen sowie Musliminnen, die als Schülerinnen das Kopftuch tragen mussten, vertreten diese Auffassung. Die Rechtsgutachten von Prof. Dr. Nettesheim und Prof. Dr. Schwarz konstatieren die Verfassungskonformität bei einem möglichen Verbot bis zur Religionsmündigkeit.

Im gleichen Absatz des Berichtes ist zu lesen, dass „Kritik an patriarchalen Strukturen bei Muslim*innen in besonders verschärfter Art und Weise [bei TDF] stattfindet“ (S. 80). Als säkulare Frauenrechtsorganisation ist unser Selbstverständnis die Ebenbürtigkeit der Geschlechter – ohne Wenn und Aber.

Unser Ziel ist die Überwindung von patriarchalen Strukturen - wo immer sie sich noch oder wieder zeigen. Wir wenden uns deshalb auch gegen jeden Kulturrelativismus: frauenfeindliches Brauchtum ist auch bei Minderheiten in unserer Gesellschaft, die sich dabei auf kulturell-religiöse Gründe berufen, nicht zu tolerieren. Menschenrechte gelten ohne Einschränkung. Im Weiteren wird von den AutorInnen das Ausblenden von verschiedenen Glaubensrichtungen und ihrer Diversität kritisiert, die zu einer pauschalisierten Wahrnehmung von MuslimInnen führen würde und sie zu „Opfern einer mutmaßlich von Männern dominierten Religionsgemeinschaft“ (S. 79) stilisieren würde. Wir möchten hier die Falschdarstellung einer „Opfer-Stilisierung“ und dem damit verbundenen dichotomen Weltbild widerlegen. Für TERRE DES FEMMES ist das Kopftuch Symbol einer patriarchalen Geschlechterhierarchie. Wenngleich es vielfältige und unterschiedliche Interpretation gibt, lässt sich eine übergeordnete Intention des Kopftuchs skizzieren: Die Frau muss ihre Haare vor den Blicken der Männer verbergen (Verhüllung sexueller Reize) und die Bedeckung des Haars steht für sexuelle Nichtverfügbarkeit, die also nicht vorausgesetzt wird, sondern äußerlich sichtbar gemacht werden muss. Erstens spiegelt dies ein Menschenbild wider, wobei Männer ihre Triebe angeblich nicht beherrschen können. Zweitens impliziert diese Sichtweise die Schuld für (sexualisierte) Übergriffe liege bei der Frau. Drittens kann hieraus eine Unterteilung in „ehrenhafte“ und „un-ehrenhafte“ Frauen abgeleitet werden. Diese patriarchal fundierte Geschlechterhierarchie wird sowohl von Männern als auch von Frauen aufrechterhalten.

Unverständlich ist die Aussage der AutorInnen, dass es sich bei der Diskussion zum Kopftuch um eine „Stellvertreterdebatte“ handelt, in der es eigentlich um Fragen zum Geschlechterdiskurs und Säkularität geht (vgl. S. 79). Diese Argumentationslinie der AutorInnen bedeutet, dass das Kopftuch eine reine Privatsache sei, die nicht mit den oben genannten Diskursen verknüpft sei. Hier entsteht der Eindruck, dass die Diskurse zum Kopftuch möglichst rein auf der Mikroebene angesiedelt werden sollen, und ihre Bedeutung für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, für Fragen zur staatlichen Neutralität und zum Säkularismus nicht thematisiert wird. TERRE DES FEMMES hingegen geht es genau um diese Makroebene. Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung bringt eine inhärente Normenkollision mit sich. Auch das müssen wir als Gesellschaft und in der Politik aushalten und in den Diskurs gehen.

Wenngleich eine detaillierte Analyse des knapp 400-seitigen Berichtes an dieser Stelle nicht erfolgen kann, ist der Grundton des Berichts scharf zu kritisieren. Einseitig wird die positive Religionsfreiheit als verfassungsrechtliche Garantie überbetont, zugleich findet die Normenkollision innerhalb unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung kaum Beachtung. Die verfassungsrechtliche Gleichberechtigung von Frau und Mann, die Freiheit (z. B. religiös zu sein oder nicht) und Selbstbestimmung (z. B. über den eigenen Körper und die eigene Sexualität selbst zu bestimmen) gehören zu den wichtigsten Errungenschaften in unserer Demokratie. Diese dürfen nicht aus einer falsch verstanden Toleranz ausgehöhlt werden.

Nachdrücklich kritisieren wir die diffamierende Darstellung über Dr. Necla Kelek, unsere Vorständin. Die Ausführungen lassen die Professionalität vermissen, die eine Leserschaft von einem sogenannten unabhängigen ExpertInnenkreis erwarten kann. Es findet kein inhaltlicher Diskurs zu Dr. Keleks langjährigen wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten zum politischen Islam, Migrationsforschung und Frauenrechte statt. Vielmehr wird sie für angebliche „pauschale Urteile“ über MuslimInnen kritisiert und als „Ready-made-Expertin“ verunglimpft (vgl. S. 191).  

Wenngleich Dr. Keleks scharfe, inhaltliche Kritik am patriarchalen Herrschaftssystem in Namen des Islams der Position der AutorInnen widersprechen sollte, wäre eine sachlich-inhaltliche Kritik besser platziert und dem Bericht angemessen anstatt eines pauschalisierten Urteils. Insbesondere, da den Autorinnen immens wichtig ist Pauschalisierungen zu vermeiden.

Wir begrüßen Frau Faesers Aussagen, dass Hass und Hetze kein Raum gegeben werden darf, Tendenzen der Ausgrenzung und Spaltung frühzeitig aufgehalten sowie entschieden für den Fortbestand unseres freiheitlichen demokratischen Zusammenlebens eingetreten werden muss (vgl. Vorwort). Dies bedeutet, dass alle Geschlechter in Deutschland gleichberechtigt, selbstbestimmt und frei aufwachsen, sich entfalten und leben können ohne kulturell-religiöse Einschränkungen ihrer Menschenrechte. Unsere Kritik an patriarchalen Geschlechterhierarchien wird seitens Ihnen, den AutorInnen, pauschalisiert und verzerrt dargestellt. Für einen konstruktiven Dialog stehen wir gerne bereit.

Mit freundlichen Grüßen

Christa Stolle

Bundesgeschäftsführerin

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