• 04.04.2023

Konflikte offen und besonnen ansprechen - Parlamentarisches Frühstück zum Thema "Kinderkopftuch"

Aus einer westlichen Perspektive mag das sogenannte Kinderkopftuch harmlos wirken, doch es stellt aus frauenrechtlicher Perspektive eine geschlechtsspezifische Diskriminierung innerhalb patriarchaler Strukturen dar. Vor diesem Hintergrund fand am 29.03.2023 das digitale Parlamentarische Frühstück zum Thema „Kinderkopftuch“ statt. Konzipiert wurde die Veranstaltung um verschiedene Perspektiven (Schulpraxis, Wissenschaft, Frauenrechtsorganisation) sowie Betroffene näher kennenzulernen, sich zu informieren und gemeinsam zu diskutieren. Gemeinsam mit Frau Linda Teuteberg MdB (FDP, Mitglied im Ausschuss für Inneres und Heimat) erfolgte die Einladung. Über 30 PolitikerInnen aus Bundestag und Landesparlamenten sowie SprecherInnen für Vielfalt, Gleichstellung oder Bildungspolitik sowie Integrationsbeauftrage zweier Bundesländer sind der Einladung gefolgt. Bis auf Bremen waren alle Bundesländer vertreten.

Gesa Birkmann, Abteilungsleiterin Themen, Projekte bei TERRE DES FEMMES, begrüßte die Teilnehmenden zu früher Morgenstunde und gab einen kurzen Überblick zu den Referentinnen und warum das „Kinderkopftuch“ ein wichtiges Anliegen für TERRE DES FEMEMS (TDF) ist. Im Anschluss sprach Frau Teuteberg MdB und schildert ihre Sichtweise als Politikerin. Sie betont, dass Politik auch die Chancengleichheit für alle Mädchen sicherstellen müsse. Aus Sicht von Frau Teuteberg ist eine offene und besonnene Diskussion über Definition und Gelingensbedingungen von Integration notwendig. Das schließt ein, Probleme und Konflikte in der Einwanderungsgesellschaft anzusprechen.

Seit 2010 ist Detlef Pawollek Schulleiter einer Sekundarschule in Berlin-Neukölln, Er skizzierte eindrucksvoll den Bezirk und seine spezifische Problemlage: Knapp 28% der EinwohnerInnen Neukölln sind armutsgefährdet, über 50% der eingeschulten Kinder haben individuellen Förderbedarf (Sprache/ Motorik), 39% seiner Schülerschaft erhalten eine sonderpädagogische Förderung. In Berlin und besonders in Neukölln steigt die Anzahl der Moscheen und Gebetsräume. Herr Pawollek beschreibt einen Bezirk, in dem Religion und der Anspruch auf Religionsfreiheit genutzt wird, um politische Ziele durchzusetzen. Die GegnerInnen des Neutralitätsgesetzes sind auf Bezirks- und Landesebene gut vernetzt. Schule ist laut Pawollek ein Ort der Sozialisation für die SchülerInnen und ein Ort der Neutralität. Schule dient als neutrale Zone zwischen der Mehrheitsgesellschaft und einer Parallelgesellschaft.

Im Anschluss präsentierte Stephanie Walter, TDF-Referentin Gleichberechtigung und Integration, die beiden Verfassungsgutachten von Prof. Dr. Nettesheim und Prof. Dr. Schwarz. Beide konstatieren, dass eine gesetzliche Regelung in öffentlichen Bildungseinrichtungen bis zur Erreichung der Religionsmündigkeit verfassungskonform ist. Da es keine validen Daten und Studien gibt, führte TDF 2019 eine LehrerInnen-Umfrage durch. Einige Ergebnisse wurden kurz präsentiert. Zum Beispiel sind 75% der Lehrkräfte der Ansicht, dass eine Regelung einen Vorteil für die gleichberechtigte und freie Entwicklung von Mädchen bietet.

Nach den Impulsvorträgen aus Schulpraxis und aus dem Blick einer Frauenrechtsorganisation, schloss sich Herr Michael Hammerbacher mit seinem Vortrag aus wissenschaftlicher Perspektive an. Er ist Leiter und Bildungsreferent beim Berliner Verein für Demokratie und Vielfalt in Schule und beruflicher Bildung (kurz DEVI e.V.). Ende 2021 wurde die „Bestandsaufnahme Konfrontative Religionsbekundungen in Neukölln“ von DEVI e.V. veröffentlicht. Er berichtet von religiösem Mobbing in Schulen, die Nicht-Teilnahme von Schülerinnen an schulischen Aktivitäten sowie Schülerinnen muslimischen Glaubens starken Anpassungsdruck von anderen muslimischen SchülerInnen erfahren. Das Thema wird seines Erachtens hoch emotionalisieret geführt, auch weil es politische, rechtliche und pädagogische Fragen aufwerfe, die beantwortet werden müssen.

Im Anschluss an die wissenschaftliche Perspektive, berichtet Frau K., die auf eigenen Wunsch anonym bleiben möchte, aus der Perspektive einer Betroffenen. Sie hat selbst ab 9 Jahren ein sogenanntes Kinderkopftuch getragen. Eindrücklich und einfühlsam schildert sie ihre Schulzeit und ihr Aufwachsen in Ihrem Elternhaus. Sie zeigt Bilder aus Kindheit und Jugend, wie sie zuerst „spielerisch“ an das „Kinderkopftuch“ herangeführt wurde und später mit „Kinderkopftuch“, das auch Schultern und Brust bedeckt, sowie langen Mantel. Die Bilder können Sie hier anschauen. Mit dem „Kinderkopftuch“ endete ihre Kindheit, so Frau K. Sie durfte nicht mehr laut lachen, herumalbern, am Schwimmunterricht teilnehmen. Es gab keinen offensichtlichen Zwang im Elternhaus, stattdessen hat sie die Erwartungshaltung ihrer Eltern früh internalisiert. In der Schule machte sie die Erfahrung, dass die Lehrkräfte entweder überfordert waren oder Angst hatten das „“Kinderkopftuch“ zu thematisieren. Sie wurde gemobbt und war sehr einsam. Sie verlor ihre FreundInnen, da sie nicht mehr das gleiche freundliche, aufgeschlossene Mädchen war, dass mit den anderen Kindern spielte und herumalberte. Sie berichtet wie sie aus Angst und Einsamkeit die Pausen auf der Toilette verbrachte. Zugleich schilderte sie wie ihre Schwestern, die unter Neurodermitis litten, noch mehr unter dem „Kinderkopftuch“ und dem „sittsamen“ Tragen langer, körperbedeckender Kleidung litten. Sie schlussfolgert daher: „Das „Kinderkopftuch“ war und ist Kindeswohlgefährdung, denn ich als Betroffene konnte mich damals körperlich und psychisch nicht altersentsprechend entwickeln“.

In der folgenden Frage- und Diskussionsrunde entwickelte sich eine lebhafte Diskussion zu den Themen der staatlichen Neutralität, Rassismus -und Islamophobievorwürfen sowie der Frage wie Bildungs- und Chancengleichheit für alle Mädchen sichergestellt werden kann. Eine anwesende Politikerin äußerte ihre Meinung, dass die Politik das Thema dringlich behandeln sollte. Sie richtete ihre Frage an Frau K. welche Möglichkeiten betroffene Mädchen haben sich zusammen zu finden. Frau K. antworte ihr, sie hätte als Kind gerne eine Person gehabt, die ihr zuhört. Auch Ayse Basal, Jugendbotschafterin bei TERRE DES FEMMES, berichtete von ihren Erfahrungen und ihrer Kindheit. Sie sagt: „Ich dachte damals ich wäre allein, denn es gehört sehr viel Mut dazu darüber zu sprechen.“ Sie erzählt wie in ihrer community abwertend über Mädchen und Frauen gesprochen wird, die kein „Kinderkopftuch“ oder Kopftuch tragen. Einer ihrer Beweggründe ein „Kinderkopftuch“ anzulegen war daher, dass sie nicht zu den Mädchen gehören wollte, über die die community „schlecht spricht“. Auch sie trug ab 9 Jahren ein sogenanntes Kinderkopftuch: „Ich hatte nie eine Wahl mich für oder gegen ein „Kinderkopftuch“ zu entscheiden, es war nur eine Frage der Zeit ab wann ich es tragen würde.“. Daher fordern wir von TERRE DES FEMMES, dass Kinder Zeit haben sich frei entwickeln zu können. Prof. Dr. Nettesheim konstatiert in seinem Rechtsgutachten, dass „Kinder zuerst eine intellektuelle Reife entwickelt haben müssen, bevor ihre Handlungen als Ausdruck selbstbestimmter und verantwortlicher Ausübung der Religionsfreiheit angesehen werden“.

Teilnehmende berichten, wie eine Positionierung zur Reglementierung einer Religionsausübung schnell von einem Rassismusvorwurf gefolgt wird. Ein Anwesender einer säkularen Landesarbeitsgemeinschaft äußert die Meinung, die Notwendigkeit einer stichhaltigen rechtlichen Begründung zur Reglementierung des „Kinderkopftuches“ gegeben sei. Ein kurzes Stimmungsbild zeigt während der Veranstaltung, dass es verschiedene Hürden für eine breite politische Diskussion für eine Regelung von „Kinderkopftüchern“ in öffentlichen Bildungseinrichtungen gibt. 12 Personen entschieden sich für „Vorwurf der Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus“, 1 Person für „Regelung wird als Eingriff in das Elternrecht bewertet“ und 4 weitere für „Unkenntnis über negative Auswirkungen/ Nichtwissen, dass überhaupt eine Problematik vorliegt (Mehrfachnennungen waren möglich, nicht alle Anwesenden nahmen teil). Unter den Teilnehmenden herrscht Einigkeit über die Wichtigkeit einer Studie zum Thema „Kinderkopftuch“.

Das Parlamentarische Frühstück bot allen Beteiligten die Möglichkeit sich zu informieren und gemeinsam zu diskutieren. Die vier Perspektiven beleuchteten vielfältige Herausforderungen und Konfliktpotenziale, die politisch wie gesellschaftlich besser und breiter diskutiert werden müssen. Damit alle Mädchen, unabhängig ihrer Herkunft und Religion, gleiche Bildungs- und Chancengleichheit erhalten, müssen offene Debatten geführt werden. TERRE DES FEMMES fordert den Schutz minderjähriger Mädchen vor patriarchaler Indoktrination und für ein freies, gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Aufwachsen. Schule muss ein säkularer und neutraler Raum sein, in dem Wissen neutral und wertfrei vermittelt wird und alle Kinder auf ein Leben in Freiheit, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung vorbereitet.

Quotes der TeilnehmerInnen:

„Das ´Kinderkopftuch` war und ist Kindeswohlgefährdung, denn ich als Betroffene konnte mich damals körperlich und psychisch nicht altersentsprechend entwickeln. Heute noch sind die Mädchen mit Kopftuch in ihrer gesunden Entwicklung gefährdet.” A. K.

„Ich dachte damals ich wäre allein, denn es gehört sehr viel Mut dazu darüber zu sprechen. Ich hatte nie eine Wahl mich für oder gegen ein ´Kinderkopftuch` zu entscheiden, es war nur eine Frage der Zeit ab wann ich es tragen würde.“ Ayse Basal, TDF-Jugendbotschafterin

„Wird das ´Kinderkopftuch` in der Schule getragen, ruft das einen hohen Anpassungsdruck bei anderen muslimischen SchülerInnen hervor, dabei sollte die Schule ein Ort für eine freie und individuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sein.“ Michael Hammerbacher, Leiter DEVI e.V.

"Wir müssen eine offene Diskussion über das Thema "Kinderkopftuch"  führen, um Selbstbestimmung und Gleichberechtigung für alle Mädchen zu ermöglichen." Linda Teuteberg, MdB

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