• 01.04.2022

„Je früher wir eingreifen, desto besser!“ Interview mit Maria Macher – Projekt Stadtteilmütter in Neukölln

Was motiviert die Stadtteilmütter bei Euch mitzumachen?

Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Viele sagen, sie seien schon vertraut damit, anderen Familien aus der Community zu helfen oder zu begleiten, unter anderem aufgrund ihrer guten Deutschkenntnisse. Weil viele Frauen sowieso auf Arbeitssuche sind, können sie die bekannte Tätigkeit auch beruflich machen und Geld verdienen. Insbesondere weil viele Stadtteilmütter keinen Schul- oder Berufsabschluss haben, ist das sehr ansprechend. Außerdem ist es für viele Frauen anziehend in einem Frauenprojekt zu arbeiten. Zudem sind viele, gerade alleinerziehende, Mütter sehr isoliert, wenn sie noch nicht lange in Deutschland leben und hier keine Familie haben. Diese Frauen blühen durch die sozialen Kontakte im Projekt regelrecht auf. Andere reizt die Vorstellung durch die Qualifizierung eine bessere Mutter zu sein und dann zusätzlich auch den anderen Kindern im Kiez eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

Wie finden die Stadtteilmütter die Familien, die sie dann betreuen?

In erster Linie finden die Stadtteilmütter die Familien über Mundpropaganda, wenn sie durch bereits bekannte Familien weiterempfohlen werden. Zudem begleiten die Stadtteilmütter oft SozialarbeiterInnen zu Erstbesuchen zu Familien, nachdem ein Kind geboren wurde. Zusätzlich erreichen uns Anfragen von Schulen und Kitas, die die Stadtteilmütter zu Elternabenden einladen oder an Familien weitervermitteln möchten. Außerdem ist jede Stadtteilmutter für eine Kita und eine Grundschule in ihrem Kiez zuständig, wo sie einmal die Woche eine Art Sprechstunde hat.

Gibt es einen Wunsch an die Politik oder an Organisationen, um das Thema nochmal anders zu platzieren oder anders aufzuklären?

Grundsätzlich ist die Nutzung verschiedener Muttersprachen oder der leichten deutschen Sprache wichtig, sodass Familien eher erreicht werden können. Abgesehen davon, betroffene Mädchen und junge Frauen zu erreichen, ist es uns wichtig, auch Erwachsene zu informieren und für Früh- und Zwangsheirat zu sensibilisieren.

Inwiefern begegnet Dir das Thema Früh- und Zwangsheirat bei der täglichen Arbeit?

Früh- und Zwangsheirat ist ein Teilthema der Basisqualifizierung, sodass alle Stadtteilmütter dafür sensibilisiert sind und betroffene Personen oder Eltern unterstützen können. Die Stadtteilmütter sprechen das Thema in allen Familien an, so können auch die bereits verheirateten Frauen über ihren Lebensweg sowie mögliche Alternativen reflektieren und werden über die Gesetzeslage in Deutschland aufgeklärt.

Schlussendlich sind die Stadtteilmütter aber nur für 10 Besuche bei den Familien. Es wird über Früh- und Zwangsheirat geredet und eventuell auch darüber, wie man betroffenen Mädchen helfen könnte. Dann werden Broschüren und Beratungsmöglichkeiten angeboten. Der Erfolg ist generell oft sehr kleinteilig. Man verändert nicht vom einen auf den anderen Tag das Leben oder die Denkweise einer Familie. Die Stadtteilmütter müssen ihre Erwartungen zügeln, denn es ist ein langer Weg. Viele kleine Veränderungen führen aber zum Ziel.

Sind Mütter unter Euch, die früh- oder zwangsverheiratet wurden? Geht Ihr davon aus, dass Töchter in den Familien früh- und zwangsverheiratet werden?

Es sind immer Mütter dabei, die die Erfahrung gemacht haben und sehr offen darüber reden. Wir haben viele alleinerziehende Mütter, die sich von ihren Ehemännern getrennt haben. Aber auch Frauen, die immer noch glücklich mit ihrem Partner zusammen sind. Grundsätzlich gehen wir nicht davon aus, dass alle Mädchen aus Familien mit Migrationsgeschichte zwangsverheiratet werden, aber weil es das Problem heutzutage noch gibt, ist es für uns wichtig, dass die Mütter darüber nachdenken, wo die Grenzen ihrer Unterstützung im Rahmen der erzieherischen Aufgabe liegen.

Eine Stadtteilmutter erzählte, dass sie aus dem Ausland kommt, bei der Hochzeit „schon“ etwa 22 Jahre alt war und bereits berufstätig. Nachdem ihr Vater starb, war ihre Mutter besorgt, was mit ihrer alleinstehenden Tochter passieren soll, falls sie auch versterben sollte. Die Tochter wurde also mit einem fremden Mann aus einem anderen Land verheiratet und musste sich in dem fremden Deutschland mit der fremden Sprache zurechtfinden. Obwohl sie letztendlich eingewilligt hat, hätte es wohl nicht die Option gegeben „nein“ zu sagen. Sie lebt heute noch mit ihrem Ehemann zusammen und obwohl es eine Herausforderung war, hätten sie sich aneinander gewöhnt und seien glücklich. Sie hat heute drei erwachsene Söhne, die alle studieren. Wegen ihrer eigenen Erfahrung möchte sie sich nicht in die Partnerinnenwahl ihrer Söhne einmischen. Allerdings würde sie sich über eine Ehe innerhalb ihrer Kultur freuen, weil sie sich in der Familie ihres Mannes immer sehr allein gefühlt hat.

Wie geht Ihr mit Müttern um, die sagen: „Ich wurde selbst zwangsverheiratet, werde das auch mit meinen Kindern machen“?

Da ist die Herausforderung, einen Mittelweg zu finden. Zum Beispiel, wenn sich eine Frau gegenüber einer Stadtteilmutter öffnet und berichtet, dass für die Tochter ein Partner, eventuell im Ausland, gefunden wurde. Die zukünftigen Eheleute hätten sich vielleicht online kurz kennengelernt, natürlich sei die Tochter auch einverstanden und das sei ja ein entfernter Verwandter… dann muss sich die Stadtteilmutter kultursensibel verhalten. Erstmal werden Glückwünsche ausgesprochen, um als nächstes weitere Hintergründe zu erfahren, wie das Alter der Tochter und ob diese mit der Verlobung bzw. Verheiratung einverstanden ist.

Angenommen eine Stadtteilmutter kommt zu einer Familie und wird zu der Verlobungsfeier der 15-jährigen Tochter eingeladen. Wie geht Ihr damit um?

In dem Fall gibt es wenig Handlungsspielraum. Die Stadtteilmutter müsste über Gesetzeslage und Strafbarkeit informieren und das Jugendamt alarmieren. Dieser Prozess erfolgt anonym, damit die Familien die Meldung nicht nachverfolgen und die Stadtteilmütter ihr Vertrauen in der Community aufrechterhalten können. 

Vertrauen aufzubauen, bzw. kontinuierlich im Gespräch bleiben, ist sehr wichtig in diesen Fällen, da Entscheidungen nicht von einem Tag auf den anderen gefällt werden und auch Erwachsene müssen die Gelegenheit bekommen, sich weiterzuentwickeln und ihren Horizont zu erweitern.

Aber es gibt auch andere Möglichkeiten: Eine ehemalige Stadtteilmutter stammte aus einer sehr konservativen, religiösen Familie. Sie berichtete stolz, dass ihre 15-jährige Tochter im Sommer im Libanon einen Verwandten heiraten sollte. Die Verlobten hätten sich schon gesehen und seien sehr verliebt. Die Koordinatorin konnte die Mutter nach vielen Gesprächen überzeugen, die Hochzeit erstmal zu verschieben, bis die Tochter die Schule abgeschlossen hatte. Als danach die Frage einer Ausbildung im Raum stand entschied sich die Mutter dazu, die Hochzeit nochmals zu verschieben. Währenddessen verliebte sich die Tochter allerdings in einen anderen Mann, mit anderer Hautfarbe und ohne Verbindung zu ihrer Community. Obwohl die Situation anfangs eine Herausforderung für die Mutter war, ist sie jetzt sehr zufrieden und liebt ihre Enkelkinder, die sich rührend um sie kümmern. Schlussendlich wäre dieses Happyend ohne Unterstützung und positives Zureden nicht passiert. Deswegen finde ich es gut, dass wir Früh- und Zwangsheirat mit allen Familien besprechen, egal wie alt die Kinder sind. Wenn man sich schon 15 Jahre mit dem Thema auseinandergesetzt hat, ist man womöglich flexibler und offener, weshalb wir immer sagen: „je früher wir eingreifen, desto besser“.

Wie reagiert Ihr auf junge Mädchen, die es normal finden früh zu heiraten und früh Kinder zu bekommen?

Wir haben in der Regel keinen direkten Kontakt zu Mädchen oder jungen Frauen, aber erreichen diese über Gespräche mit ihren Eltern oder Verwandten. Natürlich gibt es Eltern, die wollen, dass bis zum 18. Geburtstag der Tochter gewartet wird, bis sie heiraten darf. Oft sind die Familienstrukturen aber recht unterstützend, wenn ein Mädchen früh heiraten möchte. Ich weiß auch nicht, ob dann die Schule oder eine Jugendfreizeiteinrichtung viel bewirken kann. Es ist schwierig, diese Mädchen zu erreichen und davon abzubringen, denn sie sind oft überzeugt davon keinen Schulabschluss zu brauchen, um hauptberuflich Mutter zu werden.

Hast Du das Gefühl, dass es eine Art Unrechtsbewusstsein gibt, wenn Eltern ihre Kinder zwangs- oder frühverheiraten?

Die Familien wissen meist, dass wenn sie erwischt werden, sie mit Sanktionen rechnen müssen. Zudem ist ihnen bewusst, dass ihre Töchter Unterschlupf und Hilfe bei Beratungsstellen bekommen können. Die Geschichten werden ziemlich schnell in der Community verteilt. Allerdings gibt es einen starken Rückhalt in der Familie und der Verwandtschaft und einige Moscheen oder Geistliche, die diese Trauungen durchführen.

Welche Methoden oder Argumente nutzt Ihr, um nicht nur Eltern davon abzuhalten ihre Kinder zu verheiraten, sondern um die Familien zu überzeugen, den Kreislauf zu brechen und die folgenden Generationen vor Früh- und Zwangsheirat zu bewahren?

Ein wirksames Argument ist, dass die Mädchen die Schule beenden und/oder eine Ausbildung abschließen sollen, um später nicht von den Ehemännern finanziell abhängig zu sein. Viele Frauen leiden heute darunter und können den Vorteil davon nachvollziehen. Die Töchter können danach immer noch heiraten, allerdings sind sie dann vielleicht volljährig und so weit gestärkt, dass sie eher „nein“ sagen können. Des Öfteren kommen positive Rückmeldungen der Familien, die froh sind, dass ihre Töchter nun beruflich erfolgreich sind. Der zweite Punkt ist, dass mit der Heirat schnell auch das Kinderkriegen einhergeht. Hier argumentieren wir, dass Minderjährige womöglich mehr Schwierigkeiten mit der Kindererziehung haben als Volljährige. Dadurch hätten auch die Enkelkinder später schlechtere Chancen im Leben. Allerdings ist diese Argumentation wenig erfolgreich, weil oft erwidert wird, dass sie viel Übung und Erfahrung haben, weil sie mit vielen Kindern aufgewachsen sind und notfalls seien Mutter und Schwiegermutter zur Unterstützung da.

Es geht grundsätzlich nicht darum, dass Mädchen nicht heiraten oder keine Familie gründen sollen, sondern, dass ein späterer Zeitpunkt gewählt wird und die Freiwilligkeit gewährleistet werden kann. Deshalb muss man den Familien mit Respekt und Verständnis entgegentreten.

Vielen Dank für das Gespräch!

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