• 09.09.2022

Geflüchtete Frauen und Minderjährige aus der Ukraine in Deutschland: Unterstützungs- und Schutzmaßnahmen vor Menschenhandel und Ausbeutung

Seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine sind mehr als sieben Millionen Menschen – hauptsächlich Frauen und Minderjährige – nach Europa geflohen (UNHCR Regional Bureau for Europe, 2022). 1.008.635 geflüchtete Personen aus der Ukraine sind zwischen Ende Februar und 09. September 2022 im deutschen Ausländerzentrum (AZR) registriert worden (Mediendienst Integration, 2022). „Knapp 97 Prozent von den im AZR registrierten Geflüchteten sind ukrainische Staatsbürger*innen (Stand: 9. September). Rund 65 Prozent der Kriegsflüchtlinge sind Frauen, 36 Prozent Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, darunter sind die meisten im Grundschulalter“ (ebd.). Nach dem §24 Aufenthaltsgesetz haben geflüchtete Menschen aus der Ukraine[1], die bis zum 30. November 2022 einreisen, noch bis zum 28. Februar 2023 die Möglichkeit, sich ohne Visum oder einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland aufzuhalten. Wenn sie jedoch länger als 90 Tage bleiben, eine Arbeit aufnehmen oder Sozialleistungen in Anspruch nehmen wollen, müssen sie sich registrieren und einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis stellen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2022).

Als Mädchen- und Frauenrechtsorganisation setzt sich TERRE DES FEMMES für geflüchtete Frauen und Mädchen ein. Sie befinden sich auf der Flucht in einer vulnerablen Situation. Häufig haben Mädchen und Frauen bei ihrer Vertreibung bereits geschlechtsspezifische Gewalt und Diskriminierung erfahren und sind von den Kriegsereignissen traumatisiert. Spätestens bei ihrer Ankunft in Deutschland benötigt es Sicherheit durch flächendeckende, langfristige und barrierefreie Schutzräume.

Handlungsempfehlungen an die Justiz- und InnenministerInnen

TERRE DES FEMMES begrüßt die große solidarische Hilfs- und Spendenbereitschaft in der Bevölkerung. Gleichzeitig muss diese Hilfe von anerkannten Organisationen und den Behörden koordiniert und den Bedürfnissen der Minderjährigen und Frauen angepasst werden. Nach aktuellen Informationen gibt es noch keine offiziellen, bestätigten Fälle von Menschenhandel, Zwangsprostitution oder Ausbeutung. Jedoch sollten Behörden und staatliche Institutionen sowie soziale Einrichtungen weiterhin aufmerksam sein. Denn das Risiko für Frauen und Minderjährige, von Menschenhandel, geschlechtsspezifischer Gewalt und Ausbeutung im Kontext Flucht betroffen zu sein, ist hoch. MenschenhändlerInnen und ZuhälterInnen könnten die Not- und Zwangslage von geflüchteten Menschen aus der Ukraine ausnutzen. TERRE DES FEMMES begrüßt, dass bereits auf diese Risiken von der deutschen Regierung, den Fachberatungsstellen für Betroffene von Menschenhandel (FBS) und Behörden hingewiesen und erste Schutzmaßnahmen getroffen wurden. Dennoch muss weiterhin ein Signal gesendet werden, dass die Ausnutzung von Notlagen geflüchteter Menschen und aller Notleidenden in Deutschland strafrechtlich verfolgt wird. TERRE DES FEMMES erwartet, dass die Fachkommissariate finanziell ausgestattet werden, sodass flächendeckende Ermittlungen gegen Ausbeutung und Menschenhandel umgesetzt werden können.

Am 15. März 2022 wandte sich TERRE DES FEMMES an die Innen- und JustizministerInnen, damit folgende Maßnahmen zum Schutz potenzieller Betroffener von Menschenhandel und Zwangsprostitution umgesetzt werden:

  • Ausbau einer sicheren Ankunftsinfrastruktur, angepasst an die Bedürfnisse von Frauen und Minderjährigen;
  • Sensibilisierung und Aufklärung von Helfenden sowie geflüchteten Menschen auf dem Fluchtweg und bei der Ankunft zu möglichen Risiken von Menschenhandel;
  • Gewährleistung der Gesundheitsversorgung durch niedrigschwelligen und flächendeckenden Zugang zu Psychotherapie, ÄrztInnen sowie Test- und Impfzentren;
  • Betreuung, Unterstützung und Gewaltprävention bei der Unterbringung;
  • Unterrichtung aller geflüchteten Menschen über ihre Rechte sowie über Unterstützungsmöglichkeiten in ihrer Muttersprache durch ausgebildetes und kultursensibles Fachpersonal;
  • Die InnenministerInnen mögen darauf hinwirken, dass sich möglichst alle geflüchteten Menschen aus der Ukraine in Deutschland registrieren. Einerseits können dadurch Sozialleistungen bezogen und anderseits könnte eine verbesserte Nachverfolgung zum Schutze des Kindeswohls gewährleistet werden. Der Kriminalhauptkommissar a.D. Helmut Sporer weist darauf hin, dass Frauen und Minderjährige ansonsten unsichtbar bleiben und damit ein Risiko, Betroffene von Menschenhandel und Ausbeutung sein zu können, bestehe;
  • Registrierung und Überprüfung aller Helfenden und ihrer Unterstützungsangebote beispielsweise bei Angeboten der privaten Unterbringung und Mitfahrgelegenheiten;
  • Konsequentes Nachgehen der Polizei beim Verdacht auf Menschenhandel und Ausbeutung und die sofortige Aushändigung von Platzverweisen bei verdächtigen Personen;
  • Die Generalbundesanwaltschaft möge einen Schwerpunkt auf Ermittlungen im Rotlicht-Bereich legen mit dem Ziel, Menschenhandel wirksam zu verfolgen und zu unterbinden.
  • Das Innenministerium möge dafür Sorge tragen, dass der Bund Mittel für die entsprechenden Fachkommissariate der Länder bereitstelle, damit flächendeckende und umfassende Ermittlungen in der Rotlicht-Kriminalität gewährleistet werden können. Entsprechende Sonderkommissariate sollten aufgebaut oder um zusätzliche Stellen erweitert werden.
  • Die InnenministerInnen mögen anregen, dass auf kommunaler Ebene die Sperrbezirksverordnung so angepasst wird, dass SexkäuferInnen sanktioniert werden und die Prostituierten keine Sanktionen zu befürchten haben.

Reaktionen der Justiz- und InnenministerInnen

Zehn Justiz- und InnenministerInnen haben TERRE DES FEMMES bisher geantwortet. Aus den Antworten kann TERRE DES FEMMES herauslesen, dass die Notwendigkeit des Schutzes für geflüchtete Minderjährige und Frauen aus der Ukraine gesehen und erkannt wurde. Viele Bundesländer haben bereits sofortige Schutzmaßnahmen gegen u. a. Ausbeutung und Menschenhandel installiert:

Hessen hatte als eines der ersten Bundesländer einen detaillierten Aktionsplan zur Unterstützung der geflüchteten Menschen aus der Ukraine „Solidarität mit der Ukraine – Frieden in Europa – Hessen hilft“ vorgestellt, welcher u. a. konkrete Maßnahmen zur Sicherheit der geflüchteten Menschen enthält.

Bayern setze auf frühzeitige Prävention, z. B. mithilfe des bayerischen Schutzkonzepts der Unterbringungsverwaltung zur Prävention von Gewalt. Ein weiteres Beispiel ist das fortwährende Monitoring im Internet des Bayerischen Landeskriminalamtes in enger Zusammenarbeit mit FBS. Zudem sei Bayern bemüht, Sicherheitsbehörden in personeller, finanzieller und logistischer Hinsicht bestmöglich auszustatten, um alle Formen der Kriminalität adäquat zu bekämpfen. Die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität spiele dabei eine besondere Rolle. Im Bereich der Staatsanwaltschaft München I wurde zum 01. Oktober 2021 eine neue Spezialabteilung für Verfahren des Menschenhandels, der Zwangsprostitution und der Zuhälterei eingerichtet.

Die Berliner Polizei unterhält wiederum im Landeskriminalamt (LKA) ein eigenes Dezernat zur Bekämpfung des Menschenhandels und der Schleusungskriminalität mit einem Kommissariat speziell zur Bekämpfung des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution zum Nachteil von Minderjährigen. In Berlin wurden des Weiteren mobile Wachen für den Schutz von ankommenden geflüchteten Menschen am Hauptbahnhof eingerichtet. Mitarbeitende der Berliner Senatsverwaltung für Inneres, Digitalisierung und Sport sind gemeinsam mit der Berliner Polizei in der ressortübergreifenden Arbeitsgruppe zur Umsetzung des Bundeskooperationskonzepts „Schutz und Hilfen bei Handel und Ausbeutung von Kindern“ vertreten. Berliner FBS und die Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung tauschen sich über gemeinsam, bearbeitete Fälle aus.

Die Behörden in Rheinland-Pfalz führen im Rahmen der jeweiligen Zuständigkeiten eigene Kontrollmaßnahmen durch und beteiligen sich an überregionalen Kampagnen. Ferner beruhe die derzeitige Bekämpfungsstrategie der rheinland-pfälzischen Polizei auf dem seit 2006 bestehenden landesweiten „Konzept zur Intensivierung der Bekämpfung der Schleusung und des Menschenhandels“. Basierend darauf wurden Projektgruppen „Schleusungskriminalität/Menschenhandel“ in den regionalen Polizeipräsidien sowie ein eigener Arbeitsbereich im LKA 48 eingerichtet. Auf der rheinland-pfälzischen Internetseite des Programms polizeiliche Kriminalprävention (www.polizei-beratung.dewurden neben allgemeinen Informationen zum Themengebiet Menschenhandel und Loverboy-Methode zielgerichtete Hilfs- und Unterstützungsangebote sowie Hinweise zu FBS und Ansprechpersonen veröffentlicht.

Die Bundespolizei warnt vor Übernachtungsangeboten für geflüchtete Menschen aus der Ukraine. Das Programm Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes (ProPK) warnt darüber hinaus geflüchtete Menschen aus der Ukraine vor Ausbeutung und Menschenhandel.

TERRE DES FEMMES begrüßt die sofortigen, teils engen, Vernetzungen der Länder untereinander sowie die Vernetzung der Länder mit FBS, den Unterkünften für geflüchtete Menschen und/oder Kooperationen auf europäischer Ebene wie mit Europol. Zusätzlich existiert ein enger Austausch mit der Polizei, den Behörden, Ämtern (z. B. Bundespolizei, Deutsche Bahn, Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, Finanzkontrolle Schwarzarbeit) und mit Hilfsorganisationen. Entworfene Informationsflyer in russischer, ukrainischer, englischer und deutscher Sprache wurden von Nichtregierungsorganisationen (NROs) und FBS den Polizeidienststellen und ehrenamtlichen Helfenden zur Verfügung gestellt sowie an Bahnhöfen und relevanten Ankunftspunkten verteilt, um vor entsprechenden Gefahren zu warnen und um Handlungsempfehlungen vermitteln zu können. Darüber hinaus sind zahlreiche Schulungen und Sensibilisierungen über Menschenhandel für soziale Einrichtungen, Behörden, die Öffentlichkeit sowie für die geflüchteten Menschen selbst in den Ländern erwähnenswert. So seien u. a. GewaltschutzkoordinatorInnen in ANKER-Einrichtungen, Personal in Unterkünften und Sicherheitsdienste in Bayern geschult worden.

Auf der Internetseite der Polizei Nordrhein-Westfalen wurde eine Landesthemenseite „Kriminalität in Zusammenhang mit der aktuellen Lage in der Ukraine“ implementiert. Im Rahmen der EMPACT-Kooperation (European Multidisciplinary Platform Against Criminal Threats) von Europol beteiligen sich regelmäßig rheinland-pfälzische Polizeibehörden an den europaweiten Kontrolltagen. Das Ziel dieser Kooperation ist die Bekämpfung organisierter krimineller Netzwerke in Deliktsbereichen wie Menschenhandel und der Identifizierung potenzieller Betroffener.

Auf die Notwendigkeit einer Registrierung aller geflüchteten Menschen aus der Ukraine und der Registrierung wie Überprüfung aller Helfenden und ihrer Unterstützungsangebote zum Schutze vor Menschenhandel und Ausbeutung wurde in den Antwortschreiben nur geringfügig eingegangen. Laut dem bayerischen Staatsminister des Innern, für Sport und Integration, Joachim Herrmann, habe die Registrierung von geflüchteten Menschen aus der Ukraine aus sicherheitspolitischen Gründen eine hohe Priorität. Für die Erhöhung der Erfassungskapazität werden die Regierungen und Ausländerbehörden u. a. von der Bayerischen Polizei unterstützt. Das rheinland-pfälzische Ministerium des Innern und für Sport verwies auf das größere Gefahrenpotenzial bzgl. einer möglichen (Arbeits-)Ausbeutung insbesondere bei Privathaushalten. Örtliche Prostituiertenberatungsstellen hätten ebenfalls auf das erhöhte Risiko hingewiesen. Daher habe die Landesregierung die zuständigen Kommunen für die Unterbringung der geflüchteten Menschen aus der Ukraine auf mögliche unseriöse Wohnungsangebote hingewiesen und diese dahingehend bei der Auswahl der Unterkünfte sensibilisiert.

Aktuell fehlt es jedoch an flächendeckenden, bundesweiten Maßnahmen, mit denen geflüchtete Menschen, insbesondere Minderjährige und ihre Begleitperson, in nicht registrierten Privatunterkünften erreicht werden können, um rechtzeitig potenziellen Risiken entgegenwirken zu können.

Datenerhebungen zu Menschenhandel und Ausbeutung

Den Antwortschreiben einiger MinisterInnen nach zu urteilen, liegen bisher sehr geringe bis keine Erkenntnisse, bzw. Fälle in ihren Bundesländern vor, wonach geflüchtete Menschen aus der Ukraine Betroffene von Menschenhandel und Ausbeutung geworden sein könnten, Bezüge zu Menschenhandel und Ausbeutung vorliegen oder es zu einer Zunahme von Zwangsprostitution gekommen sei. Wenn Vermutungen vorlagen, resultierten bisher noch keine Strafverfahren daraus. Wichtig ist der Hinweis, dass es gerade einmal rund sechs Monate her ist, dass geflüchtete Frauen und Minderjährige aus der Ukraine in Deutschland angekommen sind und dies noch immer tun. TERRE DES FEMMES hofft, dass die starke Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit seitens der Bundesregierung, Behörden, NROs, Fachberatungsstellen und Medien ausreichend dazu beigetragen hat und noch weiter dazu beitragen wird.

Allgemein beruhen die Daten und die Faktengrundlage im Bereich Menschenhandel bisher nur auf den „Bundeslagebildern Menschenhandel“ vom Bundeskriminalamt (BKA), dessen Aussagen auf den Meldungen des LKA, des BKA, der Bundespolizei (BPol) und des Zolls zu den im Berichtsjahr in Deutschland abgeschlossenen polizeilichen Ermittlungsverfahren in den betreffenden Deliktsbereichen in Deutschland basieren. Der Bundesweite Koordinierungskreis gegen Menschenhandel in Deutschland (KOK e.V.) führt seit 2020 in Zusammenarbeit mit den FBS Datenerhebungen zu Menschenhandel und Ausbeutung in Deutschland durch. Der Bericht für 2022 wird im Jahre 2023 veröffentlicht und wird aufschlussreichere Daten in Verbindung mit dem Bundeslagebild des BKAs liefern können.

TERRE DES FEMMES begrüßt die vom Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) sich derzeit noch in Planungs- und Erprobungsphase befindenden Berichterstattungsstellen zu Menschenhandel und geschlechtsspezifischer Gewalt. Ab 1. November 2022 sollen diese ihre Arbeit beginnen. Die Berichterstattungsstelle zu Menschenhandel wird beim DIMR angesiedelt sein. Die Koordinierung wird bei der Bundesregierung liegen. Solche Berichterstattungsstellen oder vergleichbare Mechanismen werden von der Konvention des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels (Menschenhandelskonvention) und der EU-Richtlinie 2011/36/EU (Menschenhandelsrichtlinie) vorgegeben. Diese Berichterstattungsstelle hat die Aufgabe, „das Vorgehen staatlicher Institutionen bei der Bekämpfung des Menschenhandels, der Umsetzung innerstaatlicher Gesetzgebungserfordernisse und Entwicklungen im Menschenrechtsschutzsystem im Bereich Menschenhandel zu beobachten und zu bewerten (Artikel 29 Absatz 4 Menschenhandelskonvention und Artikel 19 Menschenhandelsrichtlinie)“ (DIMR, 2021, S. 2). Ebenfalls solle diese Stelle möglichst unabhängig sein und „in einem engen Austausch mit Zivilgesellschaft, Wissenschaft und weiteren relevanten Akteur_innen stehen“ (ebd.).

Bekämpfung von Menschenhandel, Zwangsprostitution und Zwangsarbeit

Zu begrüßen ist die Initiative des Ministers von Nordrhein-Westfalen, der aufgrund seiner Vorschläge zu Optimierungspotenzialen bei der Bekämpfung von Menschenhandel in der Herbstkonferenz der InnenministerInnen im Dezember 2021 dazu beitrug, dass die InnenministerInnenkonferenz die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Menschenhandel“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) beauftragte, weitere Optimierungspotenziale aufzugreifen und zu entwickeln.

Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. (KFN) hat die §232 bis §233a StGB 2020/ 2021 evaluiert, mit dem Ergebnis, dass einzelne Bestandteile der Bestimmungen reformiert werden müssten, da die Verbesserung der strafrechtlichen Bekämpfung des Menschenhandels bislang nicht erreicht worden sei. Die erst im Jahr 2016 umfassend reformierten Vorschriften seien zu unübersichtlich, zu komplex und nicht praxistauglich. Es wurde festgestellt, dass „die Regelungen über den Menschenhandel im Strafgesetzbuch der Praxis erhebliche Probleme bereiten und daher als wenig praktikabel eingestuft werden müssen“ (KFN, 2021, S. 13). Statt den ErmittlerInnen die Arbeit zu erleichtern, hätten sie neue Probleme geschaffen und alte Probleme nicht gelöst. Ebenfalls wurde das Fehlen an Spezialkräften bemängelt, „die im Umgang mit diesen Normen und den Menschen, die von Menschenhandel betroffen sind, ausreichend geschult und erfahren sind“ (ebd.). Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) (2021) fügt hinzu, „dass es angesichts der Komplexität der Materie eines ganzheitlichen Ansatzes zur Bekämpfung des Menschenhandels bedarf, der alle Beteiligten einbezieht und auf ein abgestimmtes Vorgehen gegen Menschenhandel einschließlich Prävention und Opferschutz abzielt.“ Das hessische Ministerium der Justiz habe dies bereits im Rahmen der letzten Gesetzesreform zu den Straftatbeständen zur Bekämpfung des Menschenhandels und der Zwangsprostitution im Jahr 2016 angemerkt und setze sich weiterhin für eine Überarbeitung dieser ein.

Aufgrund der Evaluierung des KFN hatte der bayerische Staatsminister der Justiz gemeinsam mit Niedersachsen das Thema "Bekämpfung von Menschenhandel, Zwangsprostitution und Zwangsarbeit" für die Anfang Juni 2022 stattgefundene JustizministerInnenkonferenz angemeldet. Ihm ginge es, um eine Neuausrichtung des gesamten Regelungsbereichs und eine Reform zu entwickeln, die den Anforderungen der Praxis und den Interessen der Betroffenen gerecht werde. TERRE DES FEMMES begrüßt die finalen Ergebnisse der JustizministerInnenkonferenz vom 01. und 02. Juni 2022, in der festgestellt wurde, „dass die Reform hinter den damit verbundenen Erwartungen zurückgeblieben [sei] und weiterhin strafgesetzgeberischer Verbesserungsbedarf bei der Bekämpfung von Menschenhandel, Zwangsprostitution und Zwangsarbeit [bestehe]. Dies [betreffe] insbesondere die Ausgestaltung der einschlägigen Strafvorschriften und die notwendige Abstimmung mit weiteren Strafvorschriften, insbesondere im Sexualstrafrecht, aber auch die Ausgestaltung strafprozessualer Regelungen“ (93. Konferenz der Justizministerinnnen & Justizminister Bayern 2022, 2022). Folglich solle speziell im Interesse eines effektiven Betroffenenschutzes eine Neuausrichtung des gesamten Regelungsbereiches in den Blick genommen werden. Der Bundesminister der Justiz wurde unter Beteiligung der Länder darum gebeten, praxisgerechte Vorschläge für eine ganzheitliche Reform zu entwickeln und umzusetzen (ebd.).

Zum Schutze vor Zwangsprostitution, sexueller Ausbeutung und Gewalt in der Prostitution

Das Risiko für Frauen und Minderjährige, von Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution im Kontext Flucht betroffen zu sein, führt vor Augen wie dringend Deutschland mehr Unterstützungs- und Schutzmaßnahmen für Prostituierte benötigt. Ein erster Schritt wäre, eine systematische Auswertung der Sexkäufer-Foren, um StraftäterInnen auf die Spur zu kommen und Straftaten zu ahnden. TERRE DES FEMMES Beobachtungen in PartnerIn-Suchbörsen und Sexkäufer-Foren offenbaren, dass sich einige Männer in Deutschland eine Frau aus der Ukraine als Sexpartnerin sowie Prostituierte wünschen. Die Sexkäufer freuen sich auf die Frauen, die sie mit Begriffen bezeichnen, die Sexismus und „Rape Culture“ vereinen. Gemäß einem Interview des Magazins „Der Spiegel“ mit Dietmar Roller, Deutschland-Vorsitzender von IJM e.V., sei die Nachfrage nach Frauen und Minderjährigen aus der Ukraine enorm gestiegen (Abé, 2022). Des Weiteren hat Schweden einen erfolgreichen Weg gezeigt, weshalb immer mehr Staaten wie Norwegen, Irland, Kanada, Israel und Frankreich diesem Weg gefolgt sind: SexkäuferInnen sind diejenigen, die die Nachfrage an Prostitution schaffen. Dadurch bestehe ein Risiko, dass die Lieferketten des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und der Zwangsprostitution am Laufen gehalten werden.

Auf TERRE DES FEMMES Empfehlungen nach Ausstiegshilfen für Prostituierte, einer vollständigen Entkriminalisierung sowie Entstigmatisierung der Prostituierten und einer Kriminalisierung aller ProfiteurInnen einschließlich der SexkäuferInnen sind bisher nur wenige Bundesländer eingegangen. Das BMJ, das rheinland-pfälzische Ministerium des Innern und für Sport sowie das hessische Ministerium der Justiz erwähnten, dass die Kriminalisierung der SexkäuferInnen nicht unumstritten in Deutschland sei. Die Ministerien äußerten sich kritisch gegenüber der Kriminalisierung von SexkäuferInnen, da die Gefahr bestehe, dass die Prostitution in den illegalen Bereich verlegt werden könne und dadurch Überwachungs- und Schutzmaßnahmen nicht greifen würden. Rheinland-Pfalz fügte hinzu, dass bei Einführung der Kriminalisierung der SexkäuferInnen, Prostituierte schwer für Hilfs- und Beratungsangebote erreichbar seien würden und in den Ländern, in denen die Kriminalisierung der SexkäuferInnen umgesetzt wurde, ein ungebrochener Bedarf an Beratungsangeboten für Prostituierte bestehen würde. Positiv zu erwähnen ist, dass Rheinland-Pfalz drei Prostituiertenberatungsstellen aufweist, die 2022 um eine vierte Beratungsstelle und ein Modellprojekt zum Ausstieg aus der Prostitution erweitert werde. Die Zuständigkeit für den Vollzug des im Jahr 2017 eingeführten Prostituiertenschutzgesetzes (ProstSchG) obliegt in Rheinland-Pfalz den kreisfreien Städten und Landkreisen. Von den zuständigen Kommunalbehörden werden Kontrollmaßnahmen im Prostitutionsgewerbe teils unter Einbindung von Strafverfolgungsbehörden sowie anderen BehördenvertreterInnen initiiert und durchgeführt. Die regionalen Polizeipräsidien führen ferner anlassbezogene Kontrollmaßnahmen durch. Das BMJ unterstütze gesetzliche Anpassungen, sollte die Evaluierung des ProstSchG vom KFN 2025 Verbesserungsbedarf aufzeigen.

In Schweden habe die am 01. Januar 1999 in Kraft getretene Entkriminalisierung der Prostituierten und Kriminalisierung der Bezahlung von sexuellen Dienstleistungen oder die Vergütung in anderer Weise einen positiven Effekt für den Schutz von Prostituierten vor Gewalt, Zwangsprostitution und Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung. In einer Umfrage des County Administrative Board of Stockholm von 2014 gaben 72 Prozent der Befragten an (85 Prozent davon Frauen und 60 Prozent Männer), dass sie die Kriminalisierung der SexkäuferInnen befürworten (The Swedish Institute, 2019, S. 9). Laut Per-Anders Sunesson, Schwedens ehemaliger Sonderbotschafter für die Bekämpfung des Menschenhandels von 2016 bis 2021, habe sich die „Bedenken, die Straßenprostitution würde sich [in Schweden] in den Untergrund verlagern,“ nicht bestätigt (Sunesson, 2020, S. 3) „Der schwedischen Polizei zufolge wurde durch das Verbot des Kaufs sexueller Dienste die Etablierung einer organisierten Kriminalität in Schweden verhindert. Das Gesetz habe sich als Barriere gegen Menschenhandel und Zuhälter in Schweden erwiesen und die Festnahme von Sexkäufern [habe] eine wesentliche Rolle dabei gespielt, Fälle von Menschenhandel aufzuspüren und strafrechtlich zu verfolgen“ (ebd., S. 4). „Jede Form der Prostitution muss für sich werben, um Kunden zu finden, und können Kunden diese Angebote finden, kann es auch die Polizei“ (ebd., S. 3). Schwedische SozialarbeiterInnen geben an, dass Prostituierte sich nun sicherer fühlen und eigens nach Unterstützung fragen (European Women's Lobby, 2017, S. 5). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass eine Verlagerung in den illegalen Bereich unwahrscheinlich ist und Prostituierte sowie Betroffene von sexueller Ausbeutung und Zwangsprostitution weiterhin in Kontakt mit SozialarbeiterInnen und Beratungsstellen treten können.

Herausforderungen in der Umsetzung der Handlungsempfehlungen an die MinisterInnen

TERRE DES FEMMES begrüßt die zahlreichen durchgeführten und geplanten Schutz- wie Unterstützungsmaßnahmen für geflüchtete Frauen und Minderjährige aus der Ukraine sowie für Betroffene von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Gleichzeitig sollte auf mögliche Herausforderungen und Probleme bei der Umsetzung hingewiesen werden. So hat TERRE DES FEMMES von der Zivilgesellschaft über Fälle erfahren, dass beispielsweise in Erstaufnahmezentren Hilfsorganisationen auf Unverständnis und eine fehlende Bereitschaft gestoßen seien, Präventionsmaßnahmen wie Plakate und Flyer mit Unterstützungsangeboten und Aufklärung über potenzielle Risiken aufzuhängen und auszulegen. Ein zentriertes Miteinander und eine behördenübergreifende Arbeit sei an einigen relevanten Stellen noch nicht angekommen. Eine flächendeckende Aufklärung und Sensibilisierung in allen Bundesländern sei ebenfalls noch nicht gegeben. Auf TERRE DES FEMMES Empfehlungen den Ausbau einer sicheren und nachhaltigen Ankunftsinfrastruktur, angepasst an die Bedürfnisse von Frauen und Minderjährigen, und einer Gewährleistung von niedrigschwelligen und flächendeckenden Gesundheitsversorgungen wie Betreuungs- und Unterstützungsangeboten in der Muttersprache für geflüchtete Menschen aus der Ukraine durch ausgebildetes und kultursensibles Fachpersonal sind die MinisterInnen in ihren Rückmeldungen nicht eingegangen. Zusätzlich empfiehlt TERRE DES FEMMES niedrigschwelligen Unterricht und eine Unterstützung zur Umsetzung des Besuchs in Bildungseinrichtungen, denn der Zugang zu Bildung ist essenziel für die Integration und Inklusion der geflüchteten Menschen aus der Ukraine.

Basierend auf dem Kontext Menschenhandel und den Rückmeldungen der MinisterInnen ist ein nationaler Aktionsplan gegen Menschenhandel in Deutschland zu Präventions- und Bekämpfungsstrategien sowie für den Schutz von Betroffenen von Menschenhandel und Ausbeutung analog und digital notwendig. Momentan ist aufgrund des föderalen Systems der Bundesrepublik Deutschland jedes Bundesland eigenständig für die Bereitstellung von Mitteln und Strategien zuständig. In den Antwortschreiben der einzelnen MinisterInnen wird zudem immer wieder die Notwendigkeit eines koordinierten, strukturierten und konsequenten Vorgehens wie ein interdisziplinärer und grenzübergreifender Ansatz betont. Abschließend sei die Dringlichkeit zu verdeutlichen, die derzeitige Lage weiterhin zu beobachten und Präventions- und Bekämpfungsstrategien zum Schutze vor Menschenhandel und Zwangsprostitution fortan nachhaltig zu fördern.

Literaturverzeichnis

93. Konferenz der Justizministerinnnen & Justizminister Bayern 2022. (2022). Beschluss. TOP II.13 Bekämpfung von Menschenhandel, Zwangsprostitution und Zwangsarbeit. Von Frühjahrskonferenz 1. bis 2 Juni 2022: https://www.justiz.bayern.de/media/pdf/top_ii.13_-_bek%C3%A4mpfung_von_menschenhandel.pdf abgerufen

Abé, N. (09. 04 2022). Menschenhandel an den Grenzen zur Ukraine. "Die Nachfrage nach Frauen und Kindern aus der Ukraine ist enorm angestiegen". Abgerufen am 08 2022 von Der Spiegel: https://www.spiegel.de/ausland/menschenhandel-nachfrage-nach-frauen-und-kindern-aus-der-ukraine-ist-enorm-angestiegen-a-5d8276c5-ac0a-47b9-83e9-ad0ac8059f8b

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. (29. 08 2022). Fragen und Antworten zur Einreise aus der Ukraine und zum Aufenthalt in Deutschland (Stand: 29.08.2022). Von https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/AsylFluechtlingsschutz/faq-ukraine.pdf;jsessionid=BDF566EA28473AD25827E08569D63164.internet281?__blob=publicationFile&v=37 abgerufen

Bundesministerium der Justiz. (05. 11 2021). Ergebnisse der "Evaluierung der Strafvorschriften zur Bekämpfung des Menschenhandels (§§ 232 bis 233a StGB). Von Bundesministerium der Justiz: https://www.bmj.de/DE/Ministerium/ForschungUndWissenschaft/Evaluierung_Strafvorschriften_Bekaempfung_Menschenhandel/Evaluierung_Strafvorschriften_Bekaempfung_Menschenhandel_node.html abgerufen

Deutsches Institut für Menschenrechte. (10 2021). Leitbild "Berichterstattungsstelle zu Menschenhandel". Von Deutsches Institut für Menschenrechte: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/Weitere_Publikationen/Leitbild_Berichterstattungsstelle_Menschenhandel.pdf abgerufen

European Women's Lobby. (24. 10 2017). 18 Mythen über Prostitution. Von European Women's Lobby: https://www.womenlobby.org/IMG/pdf/prostitution_myths_de_web.pdf abgerufen

Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. (24. 09 2021). Evaluierung der Strafvorschriften zur Bekämpfung des Menschenhandels (§§ 232 bis 233a StGB) - Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse. Von Bundesministerium der Justiz: https://www.bmj.de/DE/Ministerium/ForschungUndWissenschaft/Evaluierung_Strafvorschriften_Bekaempfung_Menschenhandel/Zusammenfassung_Evaluierung_Strafvorschriften_Bekaempfung_Menschenhandel.html?nn=7551380 abgerufen

Mediendienst Integration. (09 2022). Flüchtlinge aus der Ukraine. Von Mediendienst Integration: https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/ukrainische-fluechtlinge.html abgerufen

Sunesson, P.-A. (18. 10 2020). Fragen und Antworten zum Verbot des Kaufssexueller Dienste in Schweden. Von Stellungnahme 17/3483, A04, A01. Statement des Bündnisses Stop Sexkauf für das nordische Modell und Stellungnahme des schwedischen Sonderbotschafters Per-Anders Sunesson zur Drucksache 17/10851 im Landtag Nordrhein-Westphalens zur Prostitution: https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST17-3483.pdf abgerufen

The Swedish Institute. (2019). Prostitution Policy in Sweden - Targeting Demand. Von The Swedish Institute: https://sharingsweden.se/app/uploads/2019/02/si_prostitution-in-sweden_a5_final_digi_.pdf abgerufen

UNHCR Regional Bureau for Europe. (02. 09 2022). Ukraine Situation Flash Update #28. Von Operational Data Portal. Refugee Situations: https://data.unhcr.org/en/documents/details/95314 abgerufen

 

[1] Diese Rechtsverordnung gilt nur für ukrainische StaatsbürgerInnen und deren engen Familienangehörigen, die kurz vor oder nach dem 24. Februar 2022 aus der Ukraine geflüchtet sind, nicht-ukrainische StaatsbürgerInnen und Staatenlose und deren engen Familienangehörigen, die in der Ukraine als geflüchtete Personen anerkannt sind oder einen internationalen Schutzstatus besitzen und für nicht-ukrainische StaatsbürgerInnen, die nicht sicher in ihr Herkunftsland zurückkehren können (BAMF, 2022).

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