• 10.02.2023

"Es ist, als hätten sie uns unsere Seelen genommen" – ein Appell von Studentinnen aus Herat/Afghanistan

© Universität in Herat, Afghanistan. (c) privat

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit der Ankunft der Taliban und der Machtübernahme begann das allmähliche Sterben der afghanischen Frauen.

Jeden Tag werden uns mehr Beschränkungen auferlegt, die das Leben schwieriger als je zuvor machen: zuerst der Ausschluss der Mädchen aus der Schule, dann die Verbannung der Frauen aus den Universitäten und schließlich die Beendigung aller Arbeitsverhältnisse von Frauen in Regierungs- und Nichtregierungsstellen.
Unsere Trauer und Bestürzung hat ihren Höhepunkt erreicht, denn wir haben sogar unsere Grundrechte verloren. Die Welt ist für uns grau geworden und es gibt keinen Regenbogen mehr in unseren Augen und selbst die Erinnerung an die Farben des Lebens verblassen.
Nun sind unsere Wünsche und Sehnsüchte den Entscheidungen anderer unterworfen. Von nun an kann man nicht mehr träumen, phantasieren oder wünschen, sondern es bleibt nur noch zu warten, bis sich die Verhältnisse ändern. Es ist, als hätten sie unsere wertvollsten Ziele und Träume begraben und uns unsere Seelen genommen. Die Geschichte ist zu dem Zustand von vor 26 Jahren zurückgedreht worden und damit haben sie uns zurückgedrängt.
Frauen sind die Hälfte der Gesellschaft. Indem Frauen aus der gesellschaftlichen Sphäre verdrängt werden, wird die Hälfte des Körpers unserer Gesellschaft gelähmt. Der Fortschritt und die Entwicklung jeder Gesellschaft erfordern Fachwissen und Menschen, die mit wissenschaftlicher Bildung ausgestattet sind, sowohl Männer als auch Frauen. Daher ist der Zugang zu Bildung eine der Grundlagen jeder Gesellschaft, und die Frauen sind ein untrennbarer Teil einer jeden Gesellschaft.
Frauen und Männer sind wie zwei Flügel eines Vogels. Wenn einer der Flügel bricht, stürzt der Vogel ab und es spielt keine Rolle, welcher Flügel gebrochen ist. Zweifellos wird die Gesellschaft durch den Ausschluss der Frauen die Hälfte ihrer Talente und ihrer Intelligenz verlieren und schwach werden. Eine unabhängige und gebildete Frau wird gebildete Kinder großziehen und zum Rückgang von Unwissenheit, extremem Traditionalismus, Terrorismus usw. beitragen und letztendlich zu einer unabhängigen und eigenständigen Zivilgesellschaft führen.
Als Studentinnen bitten wir die Zivilgesellschaft und die internationalen Organisationen, nicht einfach passiv zuzusehen, sondern die Verbreitung von Unwissenheit in unserer Gesellschaft und die Verletzung unserer Rechte nicht zuzulassen. Helfen Sie uns in unseren Bemühungen, den Regenbogen wieder sehen zu können und unserem Leben wieder einen Sinn zu geben. Jede von uns hat Fähigkeiten. Das Verkümmern und Vernachlässigen derselben wird dazu führen, dass wir - als ein Teil der Menschheit - unseren Platz nicht finden dürfen.
Wir hoffen, Sie werden uns dabei unterstützen, wieder Fortschritt erleben zu dürfen und zu glänzen.

Mit freundlichen Grüßen,
Studentinnen der Politikwissenschaft an der Universität Herat (Afghanistan)

(Übersetzung aus dem Persischen)

Stand 02/2023

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