• 09.11.2021

Brief von TERRE DES FEMMES an Oberbürgermeisterin Henriette Reker zur Einführung des Muezzinrufs in Köln

Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Reker,

als Deutschlands größte Frauenrechtsorganisation und NGO, die sich seit der Gründung gegen patriarchale Traditionen innerhalb Glaubensgemeinschaften einsetzt, möchten wir Ihnen unsere Bedenken zur Debatte um den Muezzinruf in Köln mitteilen.

Wie alle monotheistischen Religionen ist auch der Islam patriarchal geprägt und organisiert. Weibliche Gelehrte können keine einflussreichen Ämter ausüben oder Gebete leiten. Sie beziehen sich in Ihren Aussagen auf die Verankerung der Religionsfreiheit im Grundgesetz (Art. 4). Das Gleiche gilt für die Gleichberechtigung der Geschlechter (Art. 3). Diese muss in allen Lebensbereichen gewahrt und oftmals vehement verteidigt werden. Doch der Meuzzinruf hebelt das Gleichheitsgebot von Männern und Frauen aus, denn zum Gebet werden lediglich die Männer gerufen. Auch betont der Muezzin mehrmals im Ruf, dass das Göttliche über dem Irdischen steht und es keine weitere Gottheit außer Allah gibt. Der arabische Gebetsruf lässt sich wie folgt übersetzen:

Allah ist der Allergrößte

Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Allah gibt

Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Allahs ist

Auf zum Gebet

Auf zum Erfolg

Der Gebetsruf ist innerhalb der migrantischen und postmigrantischen Gesellschaft in Deutschland stark umstritten. Die Verankerung dessen kann zu einer Spaltung führen, zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen. Während die AnhängerInnen Erdogans sich über das Zugeständnis ihrer Identitätspolitik freuen, fühlen sich ethnische und religiöse Minderheiten aus der Region nicht gehört und hintergangen.

Als Frauenrechtsorganisation sind wir ebenfalls Anlaufstelle für Migrantinnen, die Ihre Entscheidung nicht nachvollziehen können. Viele Frauen, die in Deutschland Zuflucht vor religiöser Indoktrination und patriarchalen Traditionen gefunden haben, sind auf uns zugekommen. Sie sind besorgt, dass sich die Geschichte wiederholt. Wir sind ebenfalls besorgt, dass die Akzeptanz des Muezzinrufes zum Freitagsgebet alle Personen, die vor dem IS oder der Taliban geflohen sind und in Deutschland Schutz gesucht haben, vor ein erneutes Trauma stellt. Die Täter rufen während ihrer Angriffe und Massaker die gleichen Worte aus wie Muezzins, die zum Gebet aufrufen.

Ihre Entscheidung, den Gebetsruf zuzulassen, hat ebenfalls eine große politische Tragweite für viele MigrantInnen in Deutschland. Die türkische Regierung befindet sich erneut in einer völkerrechtswidrigen, grenzüberschreitenden militärischen Operation gegenüber KurdInnen in Afrîn sowie im Norden Iraks. Die DITIB-Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld, welche einen Antrag zur Durchführung des Muezzinrufes stellen möchte, gehört zur türkischen Religionsbehörde Diyanet. Diyanet ist ebenfalls wie die türkischen Streitkräfte dem Staatspräsidenten Erdogan unterstellt.

Neben dem militärischen Einsatz in kurdischen und jesidischen Gebieten werden außerdem jüngst in der Türkei Häuser von AlevitInnen markiert und demonstrativ Moscheen gebaut, die fünfmal täglich zum Gebet rufen und die Vorherrschaft des sunnitisch islamischen Glaubens predigen. Die Toleranz des Muezzinrufes im öffentlichen Raum ist ein politisches Zeichen zugunsten Erdogans, seiner Kriegsverbrechen und Assimilationspolitik. Vielmehr ist es ein offener Affront gegen viele KurdInnen, AlevitInnen, JesidInnen, AssyrerInnen, AramäerInnen und weiteren Menschen, die ihr Herkunftsland aufgrund hegemonialer Identitätspolitik oder religiösem Terror verlassen mussten.

Wir sind uns sicher, dass es viele Optionen gibt, einer Glaubensgemeinschaft Akzeptanz und Toleranz zu zeigen, ohne den öffentlichen Raum einzunehmen und die Rechte von anderen marginalisierten Gruppen zu verletzen oder sie zu traumatisieren.

Wir bitten Sie, das Gespräch mit säkularen MuslimInnen, AlevitInnen und weiteren Minderheiten, die unter der Vorherrschaft der Diyanet leiden, zu suchen. Für Sie kann der Muezzinruf ein harmloser Gebetsaufruf sein, für viele Kölner BürgerInnen ist es jedoch eine Verstärkung ihrer Traumata und ein Zugeständnis an ihre Unterdrücker. Wir hoffen auf Ihre Weitsicht und ihren Respekt für alle BürgerInnen, MigrantInnen und Geflüchteten.

 

Feministische Grüße aus Berlin

4. November 2021

Christa Stolle

Bundesgeschäftsführerin

nach oben
Jetzt spenden