• 29.03.2023

„Alles, was Frauenrechte anbelangt, ist im heutigen Mali schwer umzusetzen“ Interview mit der Leiterin der TDF-Partnerorganisation APDF in Mali

Bintou Diawara Coulibaly, Leiterin der TDF-Partnerorganisation APDF in Mali © TDF

Wenn sie an die Tafel geht, folgen ihr die Blicke. Sie strahlt eine Autorität aus, die dem vorherigen Lärmpegel abrupt ein Ende setzt. Bintou Diawara Coulibaly leitet die malische TDF-Partnerorganisation „Association pour le Progrès et la Défense des Droits des Femmes“ (APDF). Heute besucht sie ein Seminar zum Thema „positive Männlichkeit(en)“. Die TeilnehmerInnen? MultiplikatorInnen der APDF, Bürgermeister und andere Respektspersonen aus dem Umland der Hauptstadt Bamako, fast alle Männer. Gerade wird eine Gruppenarbeit ausgewertet: auf Flipcharts wurde ein typischer Tag im Leben einer Frau und eines Mannes auf dem Land beschrieben. In Stichpunkten stehen dort die einzelnen Tätigkeiten, wie viel Zeit sie jeweils in Anspruch nehmen und ob sie bezahlt oder unbezahlt erfolgen. Das Ergebnis? Frauen arbeiten mehr und länger für kein oder viel weniger Geld als Männer. So mancher Teilnehmer will das nicht wahrhaben, zweifelt, winkt ab. Bintou Diawara Coulibaly steht auf. Sie haut nicht auf den Tisch und spricht auch kein Machtwort, sondern geht ruhig nach vorne, erklärt und überzeugt souverän.

Das kleine Beispiel zeigt: in Mali die Gleichstellung der Geschlechter voranbringen ist kein Spaziergang. Niemand weiß das besser als die Leiterin der malischen TDF-Partnerorganisation – hier im Interview mit TDF:


 

TDF: Warum machen Sie diese Arbeit?"

Bintou Coulibaly, Leiterin der APDF: Weil ich das Engagement der Gründerin der APDF erlebt habe. Ich war eigentlich Dozentin, aber in der Zusammenarbeit mit der leider bereits verstorbenen APDF-Gründerin Fatoumata Siré Diakité habe ich ihren Einsatz und ihr Handeln erlebt. Sie hat die Frauen wirklich verehrt. Deshalb habe auch ich mich engagiert. Durch sie habe ich die Arbeit hier kennen- und lieben gelernt.

TDF: Wie weit ist Geschlechtergerechtigkeit hier in Mali verwirklicht?

Bintou Coulibaly: Bislang kann man nicht davon sprechen, dass Geschlechtergerechtigkeit vollständig existieren würde. Das hängt immer vom Kontext ab: in manchen Ethnien gilt die Frau genauso viel wie der Mann und sie haben das Prinzip der gleichen Rechte verstanden. Es gibt aber auch andere Ethnien, die der Ansicht sind, Frauen seien Sklavinnen. Das hängt von der Bildung der Menschen und vor allem der Männer ab. Seit Kindesbeinen an vermittelt man ihnen, sie stünden über Frauen. Selbst in intellektuellen Milieus ist diese Ideologie schwer aus den Köpfen zu bekommen. Auch intellektuelle Männer wollen ihre Macht behalten. Letztlich zieht sich das durch alle gesellschaftlichen Schichten.

TDF: Wo klaffen im Alltag die größten Lücken?"

Bintou Coulibaly: Die klaffen bei unseren Gewohnheiten, unseren Traditionen. Sie beeinflussen die Rechte, die Frauen und Männern zugestanden werden. Gemäß der Tradition muss sich die Frau dem Mann komplett unterwerfen. Selbst, wenn es um die Ehe geht, wird nur die Frau beraten, wie sie sich zu verhalten hat, nicht der Mann. Wenn die Frau zu ihrem Mann zieht, sagt man zu ihr: du musst dich unterwerfen, wir haben das Alle so gemacht, das ist die Ehe. Selbst wenn dein Ehemann dir etwas Schlechtes tut, trag‘ es nicht nach außen! Gemäß der Tradition ist der Mann in einer Ehe der Chef, er hat die Macht. Die Frau muss sich all seinen Wünschen unterordnen. Diese Traditionen überdauern Entwicklungen auf anderen Ebenen. Das ist das Problem!

TDF: Wer oder was könnte den Ist-Stand verändern?

Bintou Coulibaly: Ganz wichtig sind Sensibilisierungsarbeit und Bildung, vor allem für die junge Generation. Über das, was sie mitbekommt und lernt, kann es zu Verhaltensänderungen kommen. Wir bauen sehr auf die Jugend, weil sie noch einen offenen Geist hat und zugänglicher ist. Bei älteren Menschen sitzt die Sozialisierung oft tiefer. Veränderungen brauchen außerdem Zeit. Man kann nicht binnen weniger Jahre das aufheben, was vorher jahrzehntelang verinnerlicht wurde. Man darf sich nicht täuschen, das geht nicht so schnell. Gleichzeitig darf man sich nicht entmutigen lassen. Es gibt Männer, die anfangen, Frauen wirklich zu unterstützen. Allein die Tatsache, dass Frauen Vollzeit arbeiten, war bis vor kurzem noch ein großes Problem. Es gab Ehemänner, die das kategorisch abgelehnt und die Frau vor die Wahl gestellt haben: behältst du dein Job oder deine Ehe? Auch die Eltern rieten der Tochter in diesem Fall, die Arbeit aufzugeben. Aber nun gibt es viele Frauen, die arbeiten, selbst in der Politik, z.B. auf Kommunalebene. Es gibt also schrittweise Veränderungen.

TDF: Wer sind die VorreiterInnen der Geschlechtergerechtigkeit in Mali?

Bintou Coulibaly: Neben der jungen Generation die intellektuellen Frauen. Sie erziehen ihre Kinder anders, damit vor allem die Jungen nicht mehr die gleichen Überzeugungen übernehmen. Bildung und Erziehung sind wesentliche Schlüssel.

TDF: Gibt es auch männliche Pioniere?

Bintou Coulibaly: Manche Männer, aber nicht viele. Zu Hause die komplette Macht zu haben, ist reizvoll. Sie wollen diesen Einfluss nicht verlieren und nicht verstehen, warum es wichtig ist, die Rechte von Frauen zu respektieren. Manche haben aber männliche Freunde, die das Ganze anders sehen und mit gutem Beispiel vorangehen. Deshalb haben wir auch ein Projekt initiiert, das heißt: Männer sprechen mit Männern. Es geht dabei um positive Männlichkeiten. Männer bringen sich ein und werden zu Botschaftern für andere Männer.

TDF: Was könnte die malische Regierung tun, um die Geschlechtergerechtigkeit voranzubringen?

Bintou Coulibaly: Die malische Regierung…nun, man muss feststellen, dass es an politischem Willen mangelt. Der Präsident sagte in seiner Neujahrsansprache: „Frauen, wir haben eure Beschwerden vernommen, aber die Frauen können nicht überall einen Platz haben“. Dabei geht es nicht um Beschwerden, wir fordern unsere Rechte ein! Wenn schon der oberste Verantwortungsträger so etwas sagt…immerhin gibt es das Gesetz 052 zur Förderung der Geschlechtergleichstellung beim Zugang zu politischen Ämtern, auch wenn das noch zu Zeiten von Ibrahim Boubacar Keita und nicht unter dem jetzigen Präsidenten eingeführt wurde. Wobei auch das seine Grenzen hat, denn dabei geht es nur um die Ämter, in die man gewählt wird, nicht um Regierungsposten, die im Nominierungs- oder anderen Personalverfahren besetzt werden. Wenn man diese ganzen Regierungsposten abzieht, was für ein Gesetz soll das sein? Es ist zwar ein Fortschritt und besser als Nichts, aber es bleibt noch ein langer Weg.

TDF: Glauben Sie, dass die Regierung so handelt, weil sie aus Militärvertretern besteht?

Bintou Coulibaly: Die Regierung behauptet, Frauen und Kinder hätten oberste Priorität, aber in der Praxis stimmt das nicht. Am 10. Dezember gibt es in Mali immer eine Veranstaltung zur demokratischen Anhörung, am letzten Tag der 16 Aktionstage gegen Gewalt an Frauen. BürgerInnen können den Regierungsmitgliedern öffentlich Fragen stellen. Alle BürgerInnen, die das Gefühl haben, ihre Rechte seien verletzt worden, können sich an die Regierung wenden, und diese muss antworten. Die jeweilige Angelegenheit wird an das zuständige Ministerium weitergeleitet. Gemeinsam mit anderen Frauenrechtsorganisationen haben wir den Premierminister bei dieser Gelegenheit gefragt, was der aktuelle Stand bezüglich des Gesetzes 052 sei, denn Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau ist in diesem Punkt nicht gegeben. Wir wollen, dass dieses Gesetz respektiert wird! Manche Frauen wurden zwischenzeitlich eingesetzt, aber bei weitem nicht in dem Umfang, in dem es nötig wäre. In Mali haben vor allem die Religionsführer das letzte Wort. Die PolitikerInnen haben Angst vor deren Macht und fügen sich. Stellen Sie sich nur vor, ein Religionsführer hat nun verfügt, dass die 16 Aktionstage gegen Gewalt an Frauen abgesagt werden. Das Ministerium hatte schon Alles geplant und das Programm stand, die Einladungen waren bereits verschickt, aber dann wurde im Fernsehen verkündet, dass die Aktionstage annulliert werden.

TDF: Warum wurden die Aktionstage gegen Gewalt an Frauen dieses Jahr abgesagt?

Bintou Coulibaly: Man behauptete, es gebe eine Organisation, die im Rahmen einer Sensibilisierungskampagne an Schulen offiziell über geschlechtsspezifische Gewalt sprechen und dabei eigentlich für Homosexualität werben wolle. Ein großer Marabout (Anmerkung der Redaktion: ein islamischer Gelehrter, der meist einer Koranschule, in einigen Kontexten auch einer muslimischen Bruderschaft vorsteht) schloss daraus, dass Homosexualität Kindern schmackhaft gemacht werden solle. Wir machen trotzdem etwas im kleinen Kreis, aber das Ministerium hat tatsächlich Alles abgeblasen.

TDF: Warum wollen die Religionsführer die Frau in einer untergeordneten Position halten?"

Bintou Coulibaly: Weil das den hiesigen Traditionen entspricht und Tradition und Religion heute miteinander vermischt werden. Die religiösen Führer sind einflussreich und wissen das. Also setzen sie das durch, was sie selbst als ihr Gesetz ansehen. Alles, was Frauenrechte anbelangt, ist im heutigen Mali schwer umzusetzen. Die damalige Frauenministerin war von einer NGO eingeladen worden, einer Veranstaltung zu geschlechtsspezifischer Gewalt vorzustehen. Sie hatte diese Veranstaltung gar nicht selbst ins Leben gerufen und wurde doch daran gehindert, dort zu sprechen. Schließlich verlor sie ihren Posten, denn sie weigerte sich, ihren Beitrag zurückzuziehen, und erklärte in der Folge ihren Rücktritt.

TDF: Vor dem Afrikanischen Gerichtshof für Menschenrechte und die Rechte der Völker hat das Konsortium aus Frauenrechtsorganisationen, zu denen auch die APDF gehört, doch gewonnen? Die malische Regierung müsste die erforderlichen Reformen umsetzen…

Bintou Coulibaly: Das stimmt, wir haben Reformen im Familien- und Erbrecht erstritten und FGM müsste gesetzlich verboten werden, aber dieses Urteil fiel noch unter dem alten Präsidenten. Seit er weg ist, sieht es wieder anders aus. Die RepräsentantInnen des Gerichtshofs waren sogar hier in Mali. Wir haben gemeinsam das Außenministerium aufgesucht. Dort haben wir den Generalsekretär getroffen, der uns sagte, dass er das Urteil des Gerichtshofs nicht erhalten habe. Erst müsse es an das Justizministerium überstellt werden und dann an das Außenministerium. Dann gab es den Regierungswechsel und wir stehen immer noch an der gleichen Stelle.

TDF: Warum ist FGM in Mali noch so weit verbreitet? Viele Nachbarländer verbieten FGM gesetzlich, manche schon sehr lange.

Bintou Coulibaly: Auch hier zeigt sich der fehlende Willen. Das liegt an den Religionsführern. Einerseits muss man sicher von einem Egoismus der Männer ausgehen. Es wird gerne behauptet, eine unbeschnittene Frau wolle ständig Sex haben. Halte man die weibliche Sexualität in Schach, sei der Mann in der Lage, bis zu vier Frauen zu heiraten. Andererseits wird mit der Religion argumentiert – einer Sure zufolge soll sich der Prophet, als Kinder beschnitten wurden und schmerzerfüllt schrien, erkundigt haben, was am Ort des Geschehens los sei, und daraufhin die Antwort bekommen haben, dass Kinder beschnitten würden. Die Reaktion des Propheten darauf soll gewesen sein, die Leute dazu anzuhalten, sanft zu beschneiden, also „nur ein bisschen“. Auf diese Stelle beziehen sie sich, wenn es um Genitalverstümmelung geht. Die, die sich nicht beschneiden lassen, befolgen angeblich nicht das Wort des Propheten.

TDF: Findet nicht auch eine Orientierung an anderen Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit statt, gerade an Saudi-Arabien, wo FGM nicht praktiziert wird?"

Bintou Coulibaly: 30 Imame aus Bamako waren sogar in Saudi-Arabien zur Ausbildung und dort wurde gesagt, dass sich im Koran kein Verweis auf FGM finde. Zu dem Zeitpunkt war eine internationale Organisation involviert, PC Mali, die mehrere Imame aus Mali nach Ségou einlud. Dort studierten sie eine Woche lang den Koran, analysierten ihn, und kamen schließlich zu dem Schluss, dass die Religion hinsichtlich FGM keine Vorgaben macht: wenn du dich nicht beschneiden lässt, ist das in Ordnung. Diese Ergebnisse wurden aufgezeichnet. Als wir die Aufzeichnung öffentlich machen wollten, wurde das abgelehnt. Die religiösen Führer selbst wissen, dass FGM keine religiöse Verpflichtung ist, argumentieren aber, dass sie, da sie in den Moscheen bereits verkündet hätten, dass FGM eine religiöse Pflicht sei, dies nun nicht mehr revidieren könnten.

TDF: Was waren in den letzten fünf Jahren die größten Veränderungen für Frauen in Mali?

Bintou Coulibaly: Frauen interessieren sich viel mehr für das öffentliche Leben und treffen häufiger eigene Entscheidungen. Wenn sie ein Problem haben, kommen sie zusammen und werden aktiv. Wir haben z.B. einen Marsch für 10 Frauen, die aus geschlechtsspezifischen Gründen von ihren Ehemännern getötet wurden, organisiert. Es gab eine große Mobilisierungskampagne. Den Marsch hatten wir bei der Regierung angemeldet und die hatte ihr Einverständnis gegeben. Später wurde uns dann mitgeteilt, dass der Marabout den Marsch untersagt hätte. Daraufhin erwiderten wir dem Gouverneur: dann müsst ihr über unsere Leichen gehen! Wir machen diesen Marsch! Uns wurde zwar gesagt, wir würden von niemandem empfangen werden, letztlich wurden wir dann aber doch von vier Ministerien empfangen. Wir haben uns widersetzt und gesagt: wir gehen raus! Wir haben sogar für die Frauen gesammelt, die einen weiteren Anfahrtsweg hatten, damit sie auch an dem Marsch teilnehmen können.

TDF: Es muss doch aber auch Gewaltstatistiken geben, die sich nicht einfach ignorieren lassen?

Bintou Coulibaly: FGM wollen die Religionsführer einfach nicht sehen. Und um das geplante Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt gibt es große Diskussionen. Die Religionsführer verlangen, dass wir aus dem Begriff „geschlechtsspezifische Gewalt“, „Gewalt gegen Frauen“ machen. Auch den Paragrafen zu FGM sollen wir rausnehmen, damit sind wir aber nicht einverstanden.

TDF: Glauben Sie, dass sich das Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt in näherer Zukunft einführen lässt?

Bintou Coulibaly: Wir könnten damit leben, „Gewalt gegen Frauen“ zu sagen, aber die Inhalte dürfen nicht verändert werden. Wichtig ist, dass dieses Gesetz kommt, und zwar mit allen Inhalten, die wir fordern. Beispielsweise gibt es kein Gesetz gegen sexuelle Belästigung auf der Arbeit. Jetzt haben wir gerade einen solchen Prozess vor Gericht, gesetzlich ist das aber noch nicht geregelt.

TDF: Hat Mali bislang gar kein Gesetz gegen Gewalt an Frauen?"

Bintou Coulibaly: Bestimmte Gewaltformen haben noch keinen Eingang in unser Strafrecht gefunden. Wir haben Alles getan, damit das Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt kommt. Die Überarbeitung ist derzeit im Gange, die Gesetzesvorlage wurde aber noch nicht an die Ministerien geschickt. Die für das Strafgesetz relevanten Inhalte werden ja zum Glück von den RichterInnen kommentiert, nicht von den Religionsführern.

TDF: Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Birgitta Hahn von TDF während ihrer Besuchsreise nach Mali im Februar 2023.

Stand: 03/2023

 

  • Rege Auseinandersetzung mit dem Seminarthema "positive Männlichkeit(en)" © TDF
  • Eine der Arbeitsgruppen im Seminar für "positive Männlichkeit(en)" © TDF
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