“Wir haben das Schweigen gebrochen“: Interview mit Alpha Kamara von der TDF-Partnerorganisation AIM zum Kampf gegen FGM in Sierra Leone

Alpha Kamara© TERRE DES FEMMESSeit fast 20 Jahren kämpft unsere sierra-leonische Partnerorganisation AIM gegen weibliche Genitalverstümmelung (engl. Female Genital Mutilation – FGM). Ihr Mitarbeiter Alpha Kamara erzählt im Interview aus seiner langjährigen Erfahrung in der Community-Arbeit, mit welchen Methoden AIM die Aufklärung zu einem Tabu-Thema wie FGM gelingt, und welche Hindernisse die Arbeit der Organisation immer wieder erschweren.

 

 

TERRE DES FEMMES (TDF): Aufklärungs- und Community-Arbeit ist ein großer Schwerpunkt in AIMs Kampf gegen FGM in Sierra Leone – vielen Dank, dass du uns heute mehr darüber erzählen wirst! Möchtest du dich zunächst kurz vorstellen? Seit wann arbeitest du für AIM, wie bist du zu der Organisation gekommen, was ist dein Hintergrund?

Alpha Kamara (Alpha): Mein Name ist Alpha Kamara, und ich bin 2009 zu AIM gekommen, direkt nach meinem Schulabschluss. Was mich dazu bewegt hat? Ich habe eine Radiosendung gehört, die von Madame Rugiatu Turay (Anmerkung der Redaktion: Rugiatu Turay ist die Gründerin und Leiterin von AIM) moderiert wurde. Ich war so inspiriert von ihrer Vision eines gewaltfreien Lebens für Frauen, vor allem ohne Gewalt durch FGM. Schon in meiner Schulzeit hatte ich erkannt, wie wichtig Gleichberechtigung ist, denn es konnten viel weniger Mädchen als Jungen zur Schule gehen und ihren Abschluss machen. Als ich dann Rugiatu Turays inspirierende Worte hörte, wollte ich mit dieser Frau in Kontakt kommen und von ihr lernen. Also bin ich ganz kurzfristig nach Lunsar gereist, wo das AIM-Büro war, und habe mich dort beworben. Ich hatte nur meinen Schulabschluss, keine Universitätsausbildung oder andere Qualifikationen. Mein Lebenslauf war so leer! Aber der damalige Koordinator hat gesagt, ich hätte Potential, und hat mir einen Teilzeitjob gegeben. So habe ich angefangen, für AIM zu arbeiten, und ein Jahr später wurde ich dann festangestellt.

Mir wurde eine Gemeinde zugeteilt, in der ich über FGM aufklären sollte. Ich hatte während meiner Schulzeit schon etwas politisches Grundwissen und Erfahrung im Sprechen bei Versammlungen mitgenommen, das habe ich dann für meine Aufklärungsarbeit genutzt. Mir wurde geraten, mich besonders den Dorfältesten und den religiösen Führungspersönlichkeiten gegenüber sehr freundlich und respektvoll zu zeigen, und mit den jungen Leuten habe ich mich angefreundet. Auf diese Art habe ich Zugang zur Gemeinde gefunden. Und ich habe noch eine einfache Methode benutzt: Die Gemeinde war mehrheitlich muslimisch, und ich habe selbst einen muslimischen Hintergrund. Ich bin also in die Moschee gegangen und habe die Verantwortlichen dort kennengelernt. Eines Tages habe ich den Imam gebeten, mir eine Gelegenheit zu geben, zu den Menschen in der Moschee zu sprechen, und er war einverstanden. Also habe ich über Religion gesprochen, über den Islam und Menschenrechte, darüber, wie der Islam Frauen und Mädchen schätzt und nicht mit geschlechtsbasierter Gewalt vereinbar ist. Ich habe nicht direkt damit angefangen, FGM zu verurteilen, sondern lieber über religiöse Werte und Menschenrechte, die für alle gelten, gesprochen. So habe ich die Menschen in der mir zugeteilten Gemeinde erreichen können. Ich wurde sehr geachtet. Man hat mir sogar eine Position als zweiter Imam angeboten, aber das habe ich abgelehnt.

TDF: Religion als Mittel zu benutzen, um die Menschen bei einem schwierigen Thema wie FGM zu erreichen, ist wirklich sehr inspirierend. Du hast gesagt, du hast einen muslimischen Hintergrund. Hast du trotzdem auch mal in einer christlichen Kirche gesprochen?

Alpha: Nein. Aber in den christlichen Gemeinden ist FGM auch nicht so verbreitet wie in den muslimischen. Es kommt trotzdem vor, und es gibt auch immer wieder inter-religiöse Eheschließungen zwischen ChristInnen und MuslimInnen. Es gibt also ChristInnen, die FGM praktizieren, aber sie treten das nicht in der Öffentlichkeit breit, sondern machen es sehr diskret. Oft bringen sie ihre Töchter dafür in weit entfernte Dörfer, um ihren Ruf nicht in Gefahr zu bringen. Also ja, beide Religionen praktizieren FGM, aber in den muslimischen Gemeinden ist es viel dominanter.

TDF: Wie hat dein Umfeld darauf reagiert, dass du für AIM arbeitest und zu FGM aufklärst – gerade als Mann? Warst du oft mit Kritik und Unverständnis konfrontiert?

Alpha: Als ich das erste Mal mit Frauen über dieses Thema gesprochen habe, wurde mir Unhöflichkeit vorgeworfen. Sie fragten: „Warum sprichst du als Mann, eigentlich noch als Junge, über die Rituale der Frauen? Warum kümmerst du dich nicht um die Angelegenheiten der Männer?“ Aber ich bin hartnäckig und geduldig geblieben, um so viele Menschen wie möglich erreichen zu können. Eine andere Methode, die ich benutze, ist, mit den Schulen zusammenzuarbeiten. Ich treffe mich mit den LehrerInnen und baue Schulclubs auf, die sich mit den Themen von AIM beschäftigen. Am Ende bin es dann nicht mehr ich, der öffentlich zu FGM spricht, sondern die eigenen Kinder der Gemeinde, durch Theater oder Lieder. An den Wochenenden machen wir mit den Schulclubs kostenlose Aufführungen, und so bekommen die Gemeindemitglieder dann über die Vorführung ihrer Kinder den Spiegel vorgehalten. Die Beschneiderinnen, die Betroffenen, die GemeindeführerInnen, die die Rituale genehmigen – sie alle sehen ihre Rolle plötzlich auf der Bühne. So wird über die Schulclubs das Schweigen in den Gemeinden gebrochen, und eine Diskussion über FGM angestoßen.

TDF: Wie geht ihr vor, wenn ihr in eine neue Gemeinde kommt? Mit wem tretet ihr zuerst in Kontakt?

Alpha: Zuallererst konsultieren wir die höchsten Führungspersönlichkeiten, die religiösen und traditionellen Gemeinde-FührerInnen, die Schulbehörden – alle, die eine höhere Position in der Dorfgemeinschaft einnehmen. Wie erklären ihnen, worum es bei unserem Projekt geht und was unsere Ziele sind. Der nächste Schritt ist dann die Aufklärungsarbeit in den verschiedenen Gruppen: Der oberste Religionsführer wird seine Kollegen dazu aufrufen, sich mit uns zu treffen, und dann sprechen wir mit ihnen. Die Dorfälteste ruft die Frauen zusammen, die SchulleiterInnen die LehrerInnen und so weiter. Wir arbeiten dann separat mit diesen Gruppen. Wir arbeiten außerdem in der Regel nach Geschlechtern getrennt. Wenn möglich, arbeiten unsere weiblichen Teammitglieder mit den Frauen der Gemeinde, und die männlichen Teammitglieder mit Männern. Damit haben wir gerade bei sensiblen Themen gute Erfahrungen gemacht. Aber vor allem ist es wichtig, dass die Zielgruppen selbst nach Geschlechtern getrennt sind. Denn in Sierra Leone gibt es immer noch eine gesellschaftliche Hierarchie, die Männer über Frauen stellt. Wenn man eine Diskussionsrunde mit Männern und Frauen gemeinsam führt, werden die anwesenden Frauen kaum etwas sagen. Ihre eigenen Gedanken finden dann kein Gehör.

Nachdem wir mit allen Gruppen gearbeitet haben, legen wir etwa eine Woche Pause ein, damit das Gelernte verarbeitet werden kann und die Diskussion innerhalb der Gemeinde weiter Fahrt aufnimmt. Als letzten Schritt rufen wir dann schließlich alle Gruppen zu einer Gemeindeversammlung zusammen, und führen nochmal eine gemeinsame Diskussion mit ihnen durch. Und wenn wir unser Programm abgeschlossen haben, verlassen wir die Gemeinde nicht einfach so, sondern etablieren Strukturen für die Nachhaltigkeit unserer Arbeit. Wir bestimmen geeignete Leute, die sich zum Beispiel um Schulclubs kümmern und weitere Aktivitäten durchführen können, und wenn es zu Problemen kommt, melden diese Kontaktpersonen sich bei uns.

TDF: Betreibt AIM in vielen Regionen Sierra Leones Aufklärung zu FGM? Und unterscheiden sich die Reaktionen auf eure Arbeit in verschiedenen Gegenden?

Alpha:  Wir arbeiten in vier der fünf Verwaltungsregionen von Sierra Leone, nur nicht in der westlichen Region um die Hauptstadt Freetown herum. Im Osten arbeiten wir in den Distrikten Kailahun, Keneme, Kono und Pujehun. Im Süden in Bo, in Moyamba und Bonthe Island. Im Nordosten arbeiten wir in Bombali, Tonkolili und Koinadugu. Was den Nordwesten betrifft, so arbeiten wir hier in Port Loko und außerdem in Karenah und Kambia.

Der Osten ist eine besonders große Herausforderung. Viele sehen diese Region als eine No-Go-Zone für den Kampf gegen FGM an, weil die Praktik dort so stark verankert ist. Von dort stammt fast die ganze Führungsriege des National Sowei Councils (Anmerkung der Redaktion: Nationale Organisation der traditionellen Beschneiderinnen/„Soweis“). Politische FührerInnen dort nutzen ihre Position, um noch mehr Initiationsrituale mit FGM zu finanzieren. Erst im Mai hat eine Parlamentarierin im Distrikt Kailahun die Beschneidung von 750 Mädchen und jungen Frauen bezahlt. Also sind wir dorthin gegangen. Viele Leute denken, wenn du dort gegen FGM sprichst, wirst du sofort verhaftet oder von der Bondo Society (Anmerkung der Redaktion: politisch und gesellschaftlich sehr einflussreiche Frauen-Geheimgesellschaft in Sierra Leone, deren Aufnahmeritus traditionell FGM beinhaltet) bedroht. Als wir mit den lokalen Chiefs sprachen, erklärten sie, „Ihr könnt nicht hierherkommen und gegen FGM sprechen, das wird nicht funktionieren.“ Wir antworteten „Wir brauchen nur eure Erlaubnis, hier zu arbeiten, alles andere regeln wir schon.“ Was haben wir also getan? Wir haben eine Feier zum 16. Juni, dem Tag des Afrikanischen Kindes, organisiert und davor mit den Schulen gearbeitet. Bei der Feier haben wir den Kindern die Bühne überlassen, und sie haben Gedichte und Reden gegen FGM vorgetragen, vor der ganzen Gemeinde – den Chiefs, den religiösen FührerInnen, den Beschneiderinnen. Während der Vorführung durfte niemand etwas sagen, erst danach gab es Raum für Kommentare und Diskussionen. Manche Chiefs sind später zu uns gekommen und haben gesagt, dass sie eigentlich selbst gegen FGM sind, aber als politische Persönlichkeiten nicht gegen die Wünsche der Gemeinde gehen könnten. Vor allem haben wir das Schweigen gebrochen, in einem Distrikt, in dem sich niemand getraut hat, über FGM zu sprechen. Noch heute rufen uns Menschen von dort an und sagen uns „Leute, ihr seid KriegerInnen.“

Eine andere Methode, die wir für die Arbeit in den verschiedenen Distrikten benutzen, ist die Kooperation mit bekannten MusikerInnen. Sie haben eine große Fangemeinde, ihre Musik kann Botschaften so weit tragen. Also treten wir mit MusikerInnen in Kontakt und geben ihnen Trainings zum Thema FGM, und dann geben wir ihnen die Gelegenheit, ein Lied gegen FGM in ihrer lokalen Sprache aufzunehmen. Über die lokalen Sprachen bekommt man einen viel besseren Zugang zu den meisten Menschen hier in Sierra Leone. Im Osten ist zum Beispiel Mende die dominante Sprache, also bitten wir MusikerInnen aus dieser Region, Lieder gegen FGM auf Mende zu singen.

TDF: Siehst du nach so vielen Jahren Aufklärungsarbeit denn greifbare Resultate eurer Bemühungen? Gibt es ein Umdenken, sind zum Beispiel die jüngeren Generationen eher bereit, offen gegen FGM zu sprechen und die schädliche Praktik abzulehnen?

Alpha: Wir sehen auf jeden Fall Erfolge, vor allem im Norden des Landes. Erst vor wenigen Tagen hat ein Journalist zu mir gesagt, FGM scheine im Norden ja schon fast Geschichte zu sein. Das hat er gesagt, weil die Berichte über Komplikationen und Todesfälle durch FGM inzwischen fast alle aus der östlichen Region kommen. Du wirst in den Medien kaum noch hören, dass jemand im Distrikt Port Loko an den Folgen von FGM gestorben ist. Trotzdem ist überall noch viel zu tun. Deshalb versuchen wir, möglichst viele Freiwillige in den Gemeinden auszubilden, denn wegen unseres begrenzten Budgets haben wir nicht so viele hauptamtliche MitarbeiterInnen.

Ein weiterer spürbarer Erfolg unserer Aufklärungsarbeit ist, dass hier in der Gegend um Port Loko weniger Mädchen von ihren Familien weglaufen und direkten Schutz von uns brauchen, weil sie sonst in den nächsten Tagen FGM unterzogen würden. Inzwischen kommt es häufiger vor, dass die Mädchen die Warnzeichen rechtzeitig erkennen und uns bitten, mit ihren Familien zu sprechen und sie von den Gefahren der Praktik zu überzeugen. So haben wir Zeit, zu intervenieren. In Port Loko haben wir dazu kürzlich einen neuen Ansatz eingeführt: die „Mütter-Clubs“, in denen sich von uns geschulte Mütter zusammenfinden, die in ihrem Umfeld auf Verdachtsfälle von FGM achten und ebenfalls bei der Aufklärung der Familienangehörigen gefährdeter Mädchen helfen können. Kommen sie nicht weiter, kontaktieren sie uns und wir unterstützen. Es ist noch in der Pilotphase, aber wir haben schon sehr positive Resultate gesehen.

TDF: Warum ist es trotz allem so schwierig, FGM in Sierra Leone vollständig zu beenden? Wo liegen deiner Meinung nach die größten Hindernisse?

Alpha: Aus unserer Erfahrung heraus ist die größte Schwierigkeit die Politik. PolitikerInnen finanzieren vor allem im Osten und Süden von Sierra Leone in großem Stil die Beschneidung von Mädchen und Frauen. Sie machen das, um Popularität und Wahlstimmen zu gewinnen. Die Regierung hat eine Menge internationale Verträge unterzeichnet, die sie verpflichten, FGM zu verbieten. Aber es heißt, FGM zu kriminalisieren, wäre politischer Selbstmord. Wenn die aktuelle Regierung ein Gesetz gegen FGM erließe, würde die Opposition das im nächsten Wahlkampf gegen sie verwenden. Also weigern sich die PolitikerInnen, klar gegen FGM Position zu beziehen. Aber letztendlich sind sie nur egoistisch, denn ihre eigenen Töchter würden sie nie beschneiden lassen. Sie schützen ihre eigenen Familien, ihre Töchter, während sie gleichzeitig die Töchter armer Familien in Gefahr bringen. Die Millionen, die sie für die Beschneidung von Mädchen ausgeben, hätten für die Ausbildung dieser Mädchen verwendet werden können oder um die Gesundheitseinrichtungen der Gemeinden zu verbessern, aber sie geben das Geld für FGM aus, nur aus Eigennutz, nur um an der Macht zu bleiben. Deshalb verlassen wir uns nicht auf die Politik, sondern übernehmen selbst die Führung im Kampf gegen FGM und klären die Menschen in Sierra Leone auf.

Ein anderes Problem sind tatsächlich manche großen internationalen Organisationen, die über riesige Fördermittel verfügen, aber letztendlich nicht in die kleinen Gemeinden gehen, sondern in klimatisierten Büros in Freetown sitzen und von dort das „age of consent“ (Schutzalter)-Prinzip propagieren. Danach soll sich das FGM-Verbot nur auf minderjährige Mädchen beziehen. Aber die Praxis der Genitalverstümmelung kennt keinen Respekt vor dem Alter, sie ist immer eine Menschenrechtsverletzung. Wir von AIM wissen das und fordern ein vollständiges Verbot von FGM. Aber viele große Organisationen setzen sich für diese Schutzalter-Regelung ein, und das ist kontraproduktiv. Es macht unsere Aufklärungsarbeit in den Gemeinden schwerer, wenn die Menschen dort zuvor mit einer vermeintlichen Schutzalter-Lösung indoktriniert wurden.

Ein letztes großes Problem sind unsere begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen. Wir würden gerne noch viel mehr tun und werden in allen Distrikten des Landes gebeten, dort Büros zu installieren, aber dazu haben wir leider nicht die Kapazitäten. Das schränkt unsere Handlungsmöglichkeiten ein.

TDF: Trotzdem ist es extrem beeindruckend, wie viel ihr mit den euch zur Verfügung stehenden Mitteln und entgegen allen Hindernissen erreicht. Vielen Dank für das Interview!