Frauen und Mädchen sind die Leidtragenden des Taliban-Vormarsches

In rasantem Tempo haben die Taliban nach dem NATO-Truppenrückzug nicht nur weitere ländliche Gebiete in Afghanistan, sondern auch Großstädte und zuletzt die Hauptstadt Kabul erobert. Im Westen des Landes, wo die TDF-Partnerorganisation Neswan Social Association bei Herat ihren Sitz hat, leben sehr viele Angehörige der schiitischen Minderheit der Hazara. Während der Schreckensherrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 wurden sie besonders brutal verfolgt. Für Angehörige der Hazara und besonders für Frauen und Mädchen könnte sich das Leben unter einer erneuten Taliban-Herrschaft radikal verschlechtern. Was bedeutet die Machtübernahme der Taliban für afghanische Frauen und Mädchen?

56 Prozent der Männer und nur 30 Prozent der Frauen über 15 Jahren sind alphabetisiert

Während des 20 Jahre andauernden NATO-Einsatzes konnten die afghanische Zivilgesellschaft und AktivistInnen wichtige Fortschritte für die Frauen und Mädchen vor allem im Bildungssektor erreichen. Nach wie vor sind die meisten Afghaninnen Analphabetinnen, aber viele Mädchen gingen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft zum ersten Mal in ihrem Leben zur Schule. Frauen konnten (wieder) einen Beruf ausüben. Sie bekleideten Ämter in Regierungsinstitutionen, was nahezu einer Revolution gleichkam. In der Stadt Maidan Shar bei Kabul nahm die jüngste Bürgermeisterin Afghanistans, Zarifa Ghafari, vor drei Jahren ihr Amt auf, auch wenn ihre Sicherheit nur mit dauerhaftem Personenschutz gewährleistet werden konnte und sie selbst außerhalb von Maidan Shar leben musste. Im November 2020 wurde ihr Vater im Kampf von den Taliban getötet, sie selbst muss sich nun verstecken.

Die Taliban möchten ein System nach strenger Auslegung des islamischen Rechts aufbauen. Es wird befürchtet, dass sie Mädchen und Frauen erneut ihre Rechte auf Bildung, Berufsausübung und vor allem Selbstbestimmung verwehren werden. Die Führungsriege der Taliban behauptet zwar, dass Mädchen beispielsweise die von den Taliban geführten (religiösen) Schulen weiter besuchen dürfen oder dass Frauen einen Beruf ausüben können. Auch Nichtregierungsorganisationen und DiplomatInnen sollen angeblich sicher arbeiten können. Dies halten allerdings viele AnalystInnen und JournalistInnen für leere Versprechungen, mit denen die Taliban im Ausland um internationale Akzeptanz ihrer Machtübernahme werben. Zudem werden sich Mädchen und Frauen nur noch mit einem männlichen Vormund im öffentlichen Raum bewegen können und eine Vollverschleierung tragen müssen. In den eroberten Gebieten ist dies zum Teil bereits Alltag für Tausende Afghaninnen geworden.

Malala YousafzaiDie Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai überlebte ein Taliban-Attentat und setzt sich schon lange für die Rechte afghanischer Mädchen auf Bildung und Selbstbestimmung ein. Bildrecht: Russell Watkins/Department for International Development (Flickr)Vormarsch der Taliban löst Flüchtlingsströme in die Hauptstadt und in die Nachbarländer aus

In den Medien mehren sich die Berichte von öffentlichen Bestrafungen und Zwangsverheiratungen junger Mädchen mit Talibankämpfern in den von ihnen eroberten Gebieten. Aus Angst um ihre Töchter, Schwestern und Mütter flüchten immer mehr Menschen nach Kabul oder in die Nachbarländer Afghanistans, wo sie unter den prekärsten Bedingungen leben. Jedoch erschweren die Nachbarländer Afghanistans den Flüchtlingen die Einreise, und auch Kabul ist nicht mehr sicher. Deshalb bewaffnen sich in vielen Provinzen Frauen gegen die Taliban, so auch in Kabul. Dort lassen sich Dutzende junge Frauen einer Hazara-Gemeinschaft im Umgang mit der Waffe ausbilden, um sich im Ernstfall zu verteidigen.

In Kabul leben viele mutige Frauen, die sich für die Geltendmachung ihrer Rechte einsetzen; viele von ihnen sind aus dem Exil in ihre Heimat zurückgekehrt. In der Hauptstadt sammeln sich Menschenrechtlerinnen, Wissenschaftlerinnen, Unternehmerinnen und Politikerinnen. Deshalb ist dort die Angst vor den Taliban, dem Verlust ihrer Freiheit und ihrem Leben besonders hoch, auch wenn ihre Sicherheit schon seit Jahren durch Anschläge bedroht wird. Die erste weibliche Abgeordnete Fawzia Koofi beispielsweise wurde letztes Jahr bei einem extremistischen Attentat verletzt, was sie nicht daran hinderte, an Friedensverhandlungen mit den Taliban teilzunehmen.

Fawzia Koofi MP AfghanistanDie afghanische Politikerin, Frauenrechtlerin und Autorin Fawzia Koofi. Bildrecht: Chatham House (Wikimedia)Frauenrechtsaktivistinnen in akuter Gefahr

Dass die Bundesregierung Abschiebungen nach Afghanistan ausgesetzt hat, war ein wichtiges und längst überfälliges Zeichen. Seit gestern versucht die Bundesregierung unter den größten Schwierigkeiten, vorrangig Ortkräfte der Bundeswehr und der Bundesministerien zu evakuieren. Doch nicht nur einheimische Fachkräfte der Bundesregierung brauchen schnelle diplomatische Unterstützung und wirksame Schutz- oder Ausreisemöglichkeiten, sondern auch afghanische MenschenrechtlerInnen, allen voran Frauenrechtsaktivistinnen. Denn letztlich hat die schnelle Rückeroberung durch die Taliban auch mit dem Machtvakuum zu tun, das der übereilte Rückzug der NATO-Truppen hinterlassen hat.

Für die Neswan Social Association in der schon vor mehreren Tagen eingenommenen drittgrößten Stadt Herat bedeutet die Rückkehr der Taliban, dass sie alle Projektarbeit für unbestimmte Zeit aussetzen müssen. Noch drängender und alarmierender ist aber die akute Gefährdung der Mitarbeitenden, in der großen Mehrzahl Frauen und Angehörige der Hazara-Minderheit. TERRE DES FEMMES wird alle Mittel und Wege ausschöpfen, um das mutige Neswan-Team so umfassend wie möglich zu unterstützen!

 

Stand: 17.8.2021