Rugiatu Neneh Turay, Theodor-Haecker-Preisträgerin 2020. Foto: © TERRE DES FEMMESTERRE DES FEMMES gratuliert und ist stolz: Rugiatu Neneh Turay, die Gründerin und Leiterin unserer Partnerorganisation Amazonian Initiative Movement (AIM) aus Sierra Leone, wird für ihr Engagement zur Überwindung der weiblichen Genitalverstümmelung (female genital mutilation bzw. FGM), mit dem Theodor-Haecker-Preis 2020 der Stadt Esslingen am Neckar ausgezeichnet. Mit ihrer Arbeit und politischen Aktivität bestärkt Rugiatu Frauen und Kinder darin, schädliche traditionelle Praktiken wie das Beschneiden der weiblichen Genitalien aus kulturellen Gründen eigeninitiativ infrage zu stellen. FGM ist in Sierra Leone bis heute legal – kein Gesetz schützt Mädchen und Frauen davor. In weiten Teilen des Landes ist es sogar tabu, bloß über FGM zu reden.
Preisverleihung am 24. Oktober 2020 um 19 Uhr
© Stadt Esslingen am Neckar
Die feierliche Preisverleihung findet am Samstag, den 24. Oktober 2020, um 19 Uhr im Neckar Forum in Esslingen statt. Rugiatu selbst kann aufgrund der Corona-Pandemie nicht in Deutschland sein, wird aber per Video live ins Neckar Forum geschaltet.
Per Livestream kann die Veranstaltung online verfolgt werden.
Sie dürfen auf die folgenden RednerInnen gespannt sein:
Laudatio: Beryl Magoko, Regisseurin
Moderation: Susanne Babila, SWR
Einleitung zu FGM, aktueller Bezug Deutschland: Christa Stolle, TERRE DES FEMMES
Festrede: Oberbürgermeister Dr. Jürgen Zieger, Esslingen am Neckar
Ehrengabe: KOMMA – Jugend und Kultur
Veranstaltungsprogramm
Rund um die Preisverleihung setzen sich 10 Veranstaltungen der Stadt Esslingen im Zeitraum vom 6. bis 25. Oktober 2020 mit den Themen Menschenrechte, Frauen- und Mädchenrechte, Rassismus, Diskriminierung, Antifeminismus und Gleichstellungspolitik auf unterschiedlichen Ebenen auseinander.
In der Programmbroschüre (PDF-Datei) finden Sie Informationen und Hintergründe zu allen Veranstaltungen. Über das Programm und die Durchführung der Veranstaltungen informiert das Kulturamt der Stadt Esslingen tagesaktuell.
Engagement von Rugiatu Neneh Turay und AIM
Rugiatu mit Mädchen aus dem AIM-Schutzhaus. Foto: © TERRE DES FEMMESRugiatu Neneh Turay hat die weibliche Genitalverstümmelung (FGM) im Alter von 12 Jahren nur knapp überlebt und kämpft seitdem mit allen Kräften für ein Ende der schädlichen Praktik. Nach ihrer Rückkehr aus dem Bürgerkriegsexil in Guinea gründete sie 2003 die Frauenrechtsorganisation Amazonian Initiative Movement (AIM) in Sierra Leone. AIM ist v.a. im Distrikt Port Loko und der Hauptstadt Freetown aktiv.
Gemeinsam mit dem AIM-Team klärt Rugiatu die sierra-leonische Bevölkerung und an Schulen über FGM und andere Gewalt gegen Frauen und Mädchen auf und bildet junge Erwachsene zu Jugendbotschafterinnen und -botschaftern für Menschenrechte aus.
Besonders am Herzen liegt Rugiatu die Unterstützung so genannter Run-Away-Girls. So werden in Sierra Leone Mädchen genannt, die vor ihrer bevorstehenden Genitalverstümmelung von zu Hause fliehen. Für diese Mädchen hat AIM 2012 mit Unterstützung von TDF ein Schutzhaus errichtet. Dort werden die Mädchen von einer Sozialarbeiterin betreut und die Kosten für ihre Ausbildung oder Schulgebühren übernommen. Oft nutzen die Familien der Mädchen den Abbruch des Schulbesuchs als Druckmittel, um sie zu FGM zu drängen. Ein Zufluchtsort dieser Art ist ein völlig neuartiges Modell in Sierra Leone und ermöglicht den Mädchen, sich dem familiären Druck nicht beugen zu müssen. Bevor es das Schutzhaus gab, hat Rugiatu die Mädchen in ihrer Privatwohnung aufgenommen.
Wie aber kann Rugiatu die Rechte auf Unversehrtheit und Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen in einem Land durchsetzen, das FGM noch nicht einmal per Gesetz verbietet?
Sie überzeugt. Nie mit der Brechstange oder aggressivem Angriff. Als geschickte Strategin setzt sie ihren Intellekt und ihr untrügliches Gespür dafür ein, um Menschen trotz aller Widerstände ins Boot zu holen. Neben dem Dialog ist für Rugiatu besonders Bildung wichtig: “Menschen zu bilden heißt sie zu ermächtigen. Veränderung gelingt nur, wenn sich das Denken der Menschen ändert“.
Rugiatu und ihr Team haben es bereits geschafft, dass 700 Beschneiderinnen aus 111 Dörfern ihre Messer niedergelegt haben.
Rugiatu in Port Loko, dem Hauptsitz von AIM. Foto: © TERRE DES FEMMESDoch Rugiatu ist nicht nur in den Dörfern ihres Landes unterwegs. Im April 2016 wurde sie zur stellvertretenden Ministerin für Soziale Sicherheit und die Belange von Frauen und Kindern von Sierra Leone ernannt. Bis zu den letzten Wahlen im Frühjahr 2018 wirkte sie aktiv an den politischen Entwicklungen ihres Landes mit und brachte neue Perspektiven ins Parlament ein. Ihr größter Erfolg: die Entwicklung einer Nationalen Strategie zur Reduzierung von FGM.
Heute ist Rugiatu weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt Lunsar bekannt. Ihr Name wird im ganzen Land und in internationalen Medien, wie der BBC, mit Frauenrechtsarbeit assoziiert. Widerfährt einem Mädchen oder einer Frau Gewalt, ist AIM die erste Adresse, die um Hilfe ersucht wird – lange vor der Polizei.
Anstelle die Frauengeheimbünde zu verdammen, die das traditionelle Initiationsritual am Übergang vom Mädchen- zum Frausein durchführen, welches auch FGM beinhaltet, hat Rugiatu ihre Wichtigkeit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Weitergabe von Traditionen erkannt. Und etwas Neues geschaffen, das die sierra-leonische Kultur nicht abwertet oder bedroht, Mädchen und Frauen aber wirksam schützt: ein alternatives Initiationsritual bzw. „ritual without cutting“. Dabei werden alle Elemente des klassischen Übergangsrituals vom Mädchen- zum Frausein beibehalten. Außer FGM. Ende 2019 fand das landesweit erste „ritual without cutting“ in Sierra Leone statt. Organisiert von AIM. Mehr als 70 Mädchen über 18 Jahren nahmen daran teil. Es war ein wegweisendes Ereignis mit Vorbildcharakter für das ganze Land!
In einem kürzlich erschienen Dokumentarfilm können Sie mehr über die Arbeit von Rugiatu Neneh Turay und AIM in Sierra Leone erfahren.
Weibliche Genitalverstümmelung in Sierra Leone und Deutschland
Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) bedeutet, dass die Klitoris und oft zusätzlich die äußeren Schamlippen eines Mädchens oder einer Frau ohne medizinischen Grund entfernt werden. FGM ist in allen Fällen irreparabel. Was entfernt wurde, ist unwiederbringlich. Es wächst nicht wieder nach.
International wird FGM als geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen und Mädchen, schwere Menschenrechtsverletzung und Ausdruck der Ungleichheit zwischen Mann und Frau anerkannt. Die Praktik kann zu gesundheitlichen Komplikationen, Infektionen und sogar zum Tod führen. Frauen, die FGM erleiden mussten, kämpfen oft ihr Leben lang mit Schmerzen und Traumata.
Nach Studien des europäischen Netzwerks End FGM wird FGM trotzdem noch in 92 Ländern der Welt praktiziert. Davon verfügen lediglich 51 über Gesetze gegen die schädliche Praktik.
Das AIM-Team vor dem Büro in Port Loko. Foto: © TERRE DES FEMMESIn Sierra Leone ist FGM Teil eines traditionellen Übergangsrituals vom Mädchen- zum Frausein, das dazu dient, junge Frauen in das Erwachsenenleben einzuführen und in den Frauengeheimbund, die sogenannte Bondo Society, aufzunehmen. Die Mitgliedschaft in der Bondo Society gilt als Voraussetzung für eine Heirat und bedeutet soziale Absicherung und Inklusion für eine Frau. Fast 90 (89,6) Prozent aller sierra-leonischen Frauen und Mädchen zwischen 15 und 49 Jahren sind von FGM betroffen, in einigen Regionen des Landes, v.a. in ländlichen Gebieten, sind es sogar bis zu 96 Prozent.
Indem sie Rugiatu Neneh Turay den Theodor-Haecker-Preis zuerkennt, richtet die Stadt Esslingen am Neckar das Augenmerk auf die dringend aufklärungsbedürftige Menschenrechtsverletzung der weiblichen Genitalverstümmelung. Dass FGM vor allem den afrikanischen Kontinent betrifft, ist ein Irrglaube. Die jährliche TDF-Dunkelzifferstatistik bestätigt, dass 2020 auch in Deutschland rund 75.000 beschnittene Frauen und rund 20.000 von Beschneidung bedrohte Mädchen leben, mit steigender Tendenz im Vergleich zu den Vorjahren.
TERRE DES FEMMES setzt sich im Rahmen von internationalen Kooperationen und EU-Projekten wie -Netzwerken in Sierra Leone, Burkina Faso, Mali und europaweit für die Verhinderung und langfristige Überwindung von FGM ein. Ein großer Schwerpunkt bilden dabei Aufklärungsarbeit und Multiplikation. So werden z.B. Change Agents, d.h. in Europa lebende MultiplikatorInnen, deren Herkunftsländer FGM praktizieren, ausgebildet, in ihren Diaspora-Communities über FGM und seine schlimmen Folgen aufzuklären.
Theodor-Haecker-Preis
Der Theodor-Haecker-Preis der Stadt Esslingen am Neckar wird seit 1995 vergeben und zeichnet Menschen aus, die sich in herausragender Weise um Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschlichkeit engagieren, oft unter extrem schwierigen politischen und finanziellen Bedingungen, teilweise sogar unter Gefährdung von Leib und Leben.
Der Theodor-Haecker-Preis ist mit 10.000 Euro dotiert.
Theodor-Haecker-Preis und Ehrengabe 2020
Den diesjährigen Theodor-Haecker-Preis erhält Rugiatu Neneh Turay aus Sierra Leone.
Die Ehrengabe zum diesjährigen Theodor-Haecker-Preis erhält das KOMMA – Jugend und Kultur für ihr Engagement im Zusammenhang mit den Internationalen Wochen gegen Rassismus in Esslingen. Die Internationalen Wochen gegen Rassismus bieten Gelegenheit, sich intensiv mit gesellschaftlicher Vielfalt und Demokratie auseinander zu setzen und stärken eine offene, solidarische und plurale Gesellschaft.