„Gleichberechtigung duldet keinen Aufschub“

Foto: © Miguel Bruna - Unsplash.com
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So die Forderung der gleichnamigen, im Juli 2020 veröffentlichten Stellungnahme des Verbands Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V. (VENRO), in dem auch TDF Mitglied ist. VENRO übt Kritik an der mangelnden Umsetzung und der mangelnden Überprüfung der Umsetzung internationaler Verträge und Aktionsplattformen zu Frauenrechten, Gleichberechtigung und der Teilhabe von Frauen und Mädchen an Entscheidungen.

Ist-Stand geschlechtsspezifischer Gleichberechtigung

Und das zu Recht: Durchschnittlich nur drei Viertel der gesetzlichen Rechte, die Männern gewährt werden, gelten für Frauen. Dies belegen u. a. eine Weltbankstudie zur rechtlichen Gleichberechtigung und der Social Institutions and Gender Index der OECD, der die Benachteiligung von Mädchen und Frauen durch gesetzliche und gesellschaftliche Normen in 180 Ländern erfasst. Insbesondere die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen wird von weltweit erstarkenden ultrakonservativen Anti-Gender-Bündnissen, in etlichen Staaten unter dem Stichwort „Familienpolitik“, in Abrede gestellt und unterbunden. Nicht zuletzt zeugt das Ausmaß geschlechtsspezifischer Gewalt, dem Frauen und Mädchen weltweit nach wie vor ausgesetzt sind, von ungleichen Geschlechterverhältnissen: Während z.B. Vergewaltigung in fast allen Ländern unter Strafe gestellt ist, können sich in elf Staaten die Täter der Strafverfolgung entziehen, wenn sie die Betroffene heiraten.

Deutschland soll Vorbildfunktion einnehmen

VENRO fordert die deutsche Bundesregierung deshalb auf, in Sachen Geschlechtergerechtigkeit unmissverständlich Flagge zu zeigen und eine Vorbild- und Führungsfunktion einzunehmen. Konkrete To-Dos sind aus Sicht von VENRO u. a. die aktive Einbindung von Frauen und Mädchen in Entscheidungsprozesse sowie eine geschlechtergerechte Innen-, Außen-, Entwicklungs-, Europa-, und Klimapolitik.

Der Zeitpunkt ist günstig: 2020 jährt sich nicht nur die Verabschiedung der Pekinger Erklärung und Aktionsplattform zum 25. Mal, sondern Deutschland tritt im Juli sowohl den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat als auch die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union an.

Damit gibt es parallel mehrere Foren, in denen Deutschland politisches Engagement für die Gleichberechtigung der Geschlechter regional und international aktiv vorantreiben kann.

Geschlechtergerechtigkeit trotz Corona?

Nein, Geschlechtergerechtigkeit wegen Corona, so lautet das Fazit des Verbands, der wie viele andere darauf aufmerksam macht, dass die Folgen der von Regierungen weltweit getroffenen Maßnahmen im Zuge der Eindämmung der Corona-Krise keineswegs geschlechtsneutral sind und vor allem Frauen und Mädchen betreffen, sowohl kurz- als auch langfristig.

Anstatt bekannte, strukturelle Probleme wie mangelnde Geschlechtergerechtigkeit im Angesicht kurzfristiger, akuter Krisen aus den Augen zu verlieren oder gar aktiv zurückzustellen, muss es vielmehr darum gehen, Frauen und Mädchen verstärkt zu unterstützen. Daher fordert VENRO von der deutschen Bundesregierung finanzielle und politische Unterstützung von Frauenrechtsorganisationen im Kampf gegen Corona.

Geschlechtergerechtigkeit und digitale Transformation

Auch die Teilhabe von Mädchen und Frauen an der digitalen Transformation erlangt in Zeiten der Corona-Krise besondere Relevanz: Es war wohl noch nie so deutlich wie jetzt, dass dem Zugang zu Internet und digitalem Lernen eine exorbitant wichtige Rolle zukommt, sowohl in Bezug auf Bildungsfragen und die Kenntnis eigener Rechte als auch in Bezug auf soziale und politische Mitgestaltung.

VENRO fordert daher die deutsche Bundesregierung nachdrücklich dazu auf, die digitale Transformation geschlechtergerecht zu gestalten.

Gleichberechtigung duldete bereits vor einem Vierteljahrhundert keinen Aufschub; heute, zehn Jahre vor Ablauf der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und auf dem Höhepunkt der Corona-Krise, wäre ein weiterer Aufschub fahrlässig.

 

15. Juli 2020