Im Gespräch mit Eveling Flores, Vorstandsfrau des größten Frauennetzwerks gegen Gewalt in Nicaragua
Knapp zwei Jahre liegt die akute politische Krise in Nicaragua zurück. Im April 2018 hatte eine Sozialreform landesweit Proteste ausgelöst. In diesen entlud sich die Unzufriedenheit der Menschen mit der Korruption und zunehmend autoritären Regierungsführung des seit 2007 amtierenden Präsidenten Daniel Ortega und seiner Frau, Vizepräsidentin Rosario Murillo.
Auf ihrer Dienstreise nach Nicaragua interviewte TDF-Referentin Birgitta Hahn Eveling Flores, Vorstandsfrau des größten Frauennetzwerks gegen Gewalt (Red de Mujeres contra la Violencia - RMCV) in Managua.
Das RMCV ist ein nationales Bündnis, das sich seit 1992 für die Rechte der Frau in Nicaragua einsetzt. 150 Gruppen, Kollektive, Vereine, Frauenhäuser, lokale Räte und rund hundert Aktivistinnen bilden das Netzwerk. Sie klären über jede Form von geschlechtsspezifischer Gewalt auf und treten mit gemeinsamen Forderungen und Aktionen an die Öffentlichkeit.
Mit Flores sprach Hahn über die Krise in Nicaragua und über die Zukunft der Frauen.
Was war der Ursprung der Proteste?
Ausgangspunkt der Krise war die Empörung der BürgerInnen über das diktatorische Regime in unserem Land. Zuerst waren es v.a. Studierende, Bäuerinnen und Bauern, und FrauenrechtlerInnen, die sich an den Protesten beteiligten. Später fand die Bewegung auch in der weiteren Bevölkerung Anklang. Unsere Forderung war: Jetzt reicht es mit der Respektlosigkeit gegenüber den Menschenrechten, dem Rechtsstaat, der Verfassung und dem Leben. Gebt die Macht ab!
Wie ist die aktuelle Lage? Welche Folgen hat die Krise für die Zivilgesellschaft?
Die Rechtsstaatlichkeit in unserem Land erfährt seit einigen Jahren nur noch Rückschritte. Wir stecken in einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Die Regierung setzt auf Militarisierung zur Überwachung des Landes. Legale und illegale Polizei- und Militäreinheiten stehen unter ihrer Kontrolle und werden ganz nach Belieben eingesetzt. Die als Reaktion auf die Proteste 2018 neu eingeführten, „Anti-Terrorismus“-Gesetze werden von diesen Einheiten schamlos ausgenutzt. Für das Regime sind Bedrohung und Einschüchterung von KritikerInnen legitim. Vor der UCA, der Zentralamerikanischen Universität in Managua, habe ich letztens wieder ein Sondereinsatzkommando gesehen. Diese „Polizisten“ sind fast noch Kinder. Die Regierung misstraut den Studierenden so sehr, dass sie immer neues Sicherheitspersonal anheuert. Während der Krise waren das vor allem ausländische Kräfte, aktuell sind es arbeitslose Jugendliche. Einige NRO haben das Krisenjahr 2018 nicht überlebt - ihre Arbeit wurde durch die Regierung massiv beschnitten oder ganz verboten.
Sind auch Frauenrechtsorganisationen von Repressionen betroffen?
Trotz der Krise bleibt die TDF-Partnerorganisation MIRIAM ein Anker für Frauen in Not. Foto: © TERRE DES FEMMESFrauen und Frauenrechtsorganisationen sind besonders betroffen von der anhaltenden Rechtlosigkeit im Land. Die Gewaltrate ist erneut in die Höhe geschossen und v.a. Gewalt gegen Frauen wird völlig unzureichend geahndet. Zudem unternimmt die Regierung Anstrengungen um Frauenrechtsaktivistinnen öffentlich zu degradieren. Viele werden polizeilich beobachtet und zum Teil verfolgt. In einigen Fällen wurden sogar die Kinder von Aktivistinnen bedroht.
Gegen das RMCV kann die Regierung nicht viel machen. Wir sind sehr bekannt und international vernetzt daher werden wir nicht zur direkten Zielscheibe von Unterdrückung. Uns versucht die Regierung verdeckter zu schaden. Alle NRO müssen jährlich über ihre Aktivitäten und Finanzen berichten um ihre Gemeinnützigkeit nachzuweisen. Diese vom Ministerium erneut bestätigt zu bekommen dauert allerdings Mal für Mal länger. Viele NRO harren dann wochenlang in Unsicherheit und Alarmbereitschaft aus.
Wie ist die Stimmung im Land? Welche Zukunft sehen Sie für Nicaragua?
Die Ortega-/Murillo-Regierung hat ihren Rückhalt im Land verloren. Die, die sich heute noch als AnhängerInnen des Regimes bezeichnen, sind Familienangehörige, gekauft oder profitieren in anderer Weise. Der Konflikt ist keineswegs gelöst, sondern schwelt weiter. Kürzlich hat die Regierung mehrere Gefangene freigelassen, um sich gegenüber der internationalen Gemeinschaft als gefestigt und liberal darzustellen. Von der Anspannung im Land soll Nichts nach außen dringen. Die, die aus der Haft entlassen wurden, waren allerdings kaum Oppositionelle, sondern überwiegend Kriminelle.
Im November 2021 finden die nächsten Wahlen statt. Das RMCV ist Teil der Protestbewegung Unidad Azul & Blanco. Seit wir uns mit der zweiten großen Protestbewegung, Alianza Cívica por la Justicia y la Democracia, zur Nationalen Koalition (Coalición Nacional) zusammengeschlossen haben, gibt es eine realistische Chance, dass liberale Kräfte die Wahl gewinnen. Allerdings macht eine Wahl auch nur unter bestimmten Bedingungen Sinn: der Wahlausschuss muss neu besetzt werden, wir brauchen nationale und internationale WahlbeobachterInnen, die zivilen und politischen Rechte der Menschen müssen wiederhergestellt werden. Außerdem müssen auch die im Exil lebenden NicaraguanerInnen das Recht bekommen zu wählen. Mein Sohn lebt z.B. seit seinem 20. Lebensjahr in den USA.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Landes, v.a. für die Frauen?
Veränderung in Nicaragua ist aus feministischer Sicht unerlässlich. Wir wünschen uns einen laizistischen Staat. Wir fordern unsere sexuellen und reproduktiven Rechte ein. Der Staat braucht ein anderes Fundament. Er muss neu gegründet werden, damit demokratische Prinzipien, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Diversität, Inklusion und Integration aller Menschen endlich in die Verfassung aufgenommen und de facto umgesetzt werden.
Ich sehe mich selbst als Kämpferin für Menschenrechte. Oberste Priorität für mich hat, dass sie auch Frauen zugestanden werden. Mein Engagement gilt v.a. der Überwindung des patriarchalen Systems. Die Gleichheit aller BürgerInnen vor dem Gesetz ist Grundvoraussetzung für eine genuin demokratische Gesellschaft. Die Machtverhältnisse in den Beziehungen von Männern und Frauen müssen sich ändern. Ich wünsche mir, dass Frauen glücklich sind - ein Teil dieses Glücks liegt in der vollständigen Ausübung all ihrer Rechte.
Die Vereinten Nationen bestätigten den Einsatz von Gewalt gegen Protestierende. Was hat das mit den Menschen gemacht?
Folgen der Krise sind mehr Gewalt und wirtschaftliche Not. Foto: © LuceroAuf die anfänglich friedvollen Proteste folgte eine harte Reaktion: am 30. Mai 2018 ließ die Regierung gezielt in Menschenmengen aus Demonstrierenden schießen – eine Hinrichtung. Es folgten selektive Ermordungen, Zwangsexilierungen, Inhaftierung und Unterdrückung von vermeintlichen „RegierungsgegnerInnen“. Rund 300 Personen starben im Verlauf der Unruhen, 1 000 wurden verletzt und über 80 000 Menschen haben das Land verlassen. Das alles schmerzt sehr. Was die NicaraguarInnen erlebt haben war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Auch aktuell halten die Repressionen gegen NRO und feministische Aktivistinnen an – mit erheblichen Auswirkungen auf die körperliche und mentale Gesundheit der Betroffenen. Auch wirtschaftlich hat die Krise das Land stark beeinträchtigt. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, viele Privatunternehmen sind bankrott gegangen oder haben Nicaragua verlassen. Die Militarisierung des Landes wird mit legalen wie illegalen Mitteln vorangetrieben. Frauen, FrauenrechtlerInnen und alle Menschen, die das Regime als „Feinde“ identifiziert, werden eingeschüchtert, schikaniert, unterdrückt oder ausgeschaltet.
Was ist Ihre Botschaft an die internationale Gemeinschaft? Was würden Sie Regierungen, politischen Stiftungen und Partnerorganisationen anderer Länder sagen, die die Entwicklungen im Land seit April 2018 verfolgen?
Ich würde mir wünschen, dass die internationale Gemeinschaft die Ereignisse im Land objektiv verfolgt und dann Position bezieht. Es wäre wichtig, von außen Druck aufzubauen gegen das Regime. Eine internationale Verurteilung der Machenschaften der Ortega-Regierung ist notwendig. Am besten wäre es natürlich, wenn der internationale Druck so groß wird, dass das Regime einer gewaltfreien, zivilisierten Machtübergabe zustimmt.
Von den NRO und staatlichen RepräsentantInnen wünsche ich mir Interesse an der Realität in unserem Land. Sie sollten sich über verschiedene Kontakte und Kanäle informieren und bei Kooperationen mit nicaraguanischen NRO nachsichtig sein. Wir gehen täglich ein hohes Risiko ein, einfach nur indem wir unsere Arbeit verrichten. Ich rate den NRO: seien Sie offen und kommen Sie mit Ihren Fragen auf uns zu! Das gibt uns Rückhalt und macht es leichter mit den täglichen Gefahren und Repressionen umzugehen.
Stand: 03/2020