Murat Timur und Hüliya Korkmaz vor der Justitia. Foto: © YAKA-KOOPAuf 40 Grad im Schatten klettert das Thermometer im südosttürkischen Van im Juli. Wir sind dankbar, der Hitze im klimatisierten Büro der Anwaltskammer für eine Stunde zu entfliehen. Verabredet sind wir – TERRE DES FEMMES und YAKA-KOOP, unsere Partnerorganisation in der Türkei - mit Murat Timur, Anwalt und Vorsitzender der Anwaltskammer von Van (Türkiye Barolar Birligi), und Hülya Korkmaz, Anwältin und Vorstandsmitglied. Die Mitglieder der Anwaltskammer vertreten seit mehreren Jahren gewaltbetroffene Frauen und Mädchen ehrenamtlich vor Gericht.
Bitte stellen Sie sich kurz vor.
Hr. Timur: Mein Name ist Murat Timur. Ich bin 40 Jahre alt und Anwalt. Groß geworden bin ich in drei kurdischen Städten, u.a. in Diyarbakir, wo ich studiert habe. Das Leben dort hat mich politisch geprägt und so habe ich entschieden, mich beruflich der Verteidigung der Menschenrechte zu widmen. 2002 habe ich gemeinsam mit Freunden eine Menschenrechtsvereinigung gegründet, die bis 2008 Bestand hatte. Leider war es sehr mühsam, immer ausreichend Geld für unsere Arbeit einzuwerben, daher mussten wir sie aufgeben. Gleichzeitig war mein Eindruck, in der Anwaltskammer an einer wichtigeren Schaltstelle zu sitzen und mehr bewirken zu können. Unsere Kammer hat 600 Mitglieder.
Fr. Korkmaz: Ich heiße Hülya Korkmaz und bin ursprünglich durch ein Praktikum zur Anwaltskammer in Van gekommen. Das war allerdings vor langer Zeit: Ich bin jetzt seit neun Jahren hier und mittlerweile eines von 11 Vorstandsmitgliedern. Schwerpunktmäßig wirke ich in der Frauenrechtskommission und vertrete so auch häufig Klientinnen, die sich mit ihrem Fall an Frauenrechtsorganisationen wenden. Ich setze mich bewusst für benachteiligte Menschen ein, weil ich es nicht akzeptieren kann, sie mit dem Unrecht, das ihnen widerfahren ist, alleine zu lassen. Wir vertreten die Betroffenen immer kostenfrei. Würden wir für unsere Leistungen Geld nehmen, könnten wir uns nicht mehr MenschenrechtsaktivistInnen nennen.
Was sind für Sie die größten Herausforderungen bei Gerichtsverfahren wegen Gewalt an Mädchen oder Frauen?
Im Gespräch mit der Anwaltskammer von Van. Foto: © YAKA-KOOPHr. Timur: Die größte Herausforderung liegt in der Diskrepanz zwischen Gesetzestext und -Auslegung. Die Verhängung des Ausnahmezustands durch die türkische Regierung im Jahr 2016 hat unsere Arbeit in diesem Punkt erschwert: Fast alle RichterInnen und VerteidigerInnen in Van wurden ausgetauscht und mit parteinahen, ausschließlich männlichen Funktionsträgern ersetzt. Die Einstellung der neuen Kollegen unterscheidet sich von der unserer AnwältInnen. Vor allem vertreten Erstere eine konservative Auffassung von den sozialen Geschlechtern und den Ursachen von Gewalt gegen Frauen. Wir sehen eine gewaltbetroffene Frau als Opfer. Die neuen Kollegen forschen dagegen nach einer Mitschuld bei der Frau: Hat sie möglicherweise nicht gut genug aufgepasst, wie sie sich kleidet, was sie tut, zu welcher Zeit sie unterwegs war, mit wem sie gesprochen hat etc. Wenn Menschen mit Einfluss diese Sicht vertreten und dann über einen Fall richten, kann man nicht mehr mit einer angemessenen Strafe für Gewaltverbrechen gegen Frauen rechnen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Dieses Jahr wurde an unserem Gericht der Fall eines Lehrers verhandelt, der zwei seiner Schülerinnen vergewaltigt hatte. Für die Tat lagen belastende Beweise und Zeugenaussagen vor. Trotzdem wurde der Lehrer im ersten Anlauf freigesprochen. Wäre YAKA-KOOP beim Wiederaufnahmeverfahren nicht als Nebenklägerin zugelassen worden, hätte der Täter sicher keine Haftstrafe von 25 Jahren bekommen. Heute ist es leichter, jemanden wegen eines bösen Kommentars auf Twitter festzusetzen, als eine Vergewaltigung rechtmäßig bestraft zu wissen.
Fr. Korkmaz: Viele Angeklagte nutzen das neue Klima vor Gericht auch zu ihren Gunsten. Sie sehen ganz generell nie eine Schuld bei sich. Da wird dann gerne argumentiert, der Rock der Frau sei einfach zu kurz gewesen, sie seien ja nur ein einziges Mal schwach geworden, sie seien vermindert schuldfähig, weil sie unter Alkoholeinfluss gestanden hätten usw. Oft versuchen Täter auch damit zu punkten, dass sie in schicken Anzügen vor Gericht erscheinen, sich besonders gesittet benehmen oder ihre Qualitäten als fürsorglicher Familienvater betonen. All das wirkt leider immer wieder strafmildernd.
Wie begegnen Sie diesen Herausforderungen?
Fr. Korkmaz: Dadurch, dass wir massiven Druck von allen vorhandenen Seiten auf die Richter ausüben. Wir holen Frauenrechtsorganisationen als Nebenklägerinnen ins Boot, setzen große Medien auf die Berichterstattung über den Fall an und drängen auf die Unterstützung durch gleichgesinnte MitarbeiterInnen des Familien- oder Sozialministeriums. Je mehr Aufmerksamkeit der Fall bekommt und je bekannter er in der Öffentlichkeit wird, desto größer sind die Chancen, dass die Richter ein angemessenes Strafmaß verhängen. Sich allein auf die Gesetze zu verlassen reicht nicht.
Der letzte Fall, den wir hier verhandelt haben, war der einer Frau, die mit sieben Messerstichen von ihrem Partner getötet und dann noch von ihm mit dem Auto überrollt worden war. Wir wollten unbedingt sicher gehen, dass der Täter entsprechend bestraft wird. Es lag in diesem Fall eine Anzeige vor, was eigentlich sicherstellt, dass der Tatort ordnungsgemäß untersucht und die vorhandenen Beweise gesichert werden. Trotz wasserdichter Beweislage und guter anwaltlicher Argumentation kann es im Verfahren dann immer noch passieren, dass sich traditionelles Denken Bahn bricht und die Richter darauf beharren, kein Verbrechen geschehe grundlos. Meinungen treten so an die Stelle von Objektivität. Deshalb haben wir Alles dafür getan, die Bevölkerung über das Verbrechen in Kenntnis zu setzen und öffentlich Druck zu machen. Glücklicherweise ist diese Strategie aufgegangen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Hr. Timur: Mehr Information und Aufklärung über Menschenrechte, vor allem an Schulen. Alle Menschen, Frauen und Männer, müssen wissen, was ihre Rechte sind, damit sie sie einfordern und verteidigen können. Das ist auch die Grundlage für persönliches und gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein. Männer haben dafür gesorgt, dass unsere Gesellschaft so ist, wie sie ist. Sie haben sich eine Vormachtstellung geschaffen und treten dominant auf. Gewalt ist ein Begleiter dieser Ordnung. Männer müssen endlich lernen, Verantwortung zu tragen, und ein Bewusstsein für Machtungleichheiten, eigene Privilegien und die Rechte und Bedürfnisse von Frauen entwickeln. Das geschieht aber nicht über Nacht. Es braucht Zeit und, wie gesagt, Aufklärung. Ich kann meinen Beitrag in dieser Hinsicht als Zeuge leisten: Einer Frau ist Unrecht geschehen und ich bezeuge das als Anwalt und Mann gegenüber einem anderen Mann.
Haben Sie Angst vor der Zukunft?
Hr. Timur: Ja, ich habe Angst, aber wenn ich die nicht hätte, wäre ich kein Mensch. Aktuell ist meine Situation gut und trotzdem ist meine Zukunft völlig unklar. Sie liegt in der Hand eines einzigen Menschen. Als unsere Regierungspartei 2002 an die Macht kam, wünschten wir AnwältInnen uns, dass Freiheit und Modernität in die Gerichte einziehen. Heute wünschen wir uns nur noch, dass Gewalttaten an Frauen überhaupt bestraft werden.
Stand: 08/2018