BHUMIKA-Gründerin und Frontfrau Kondaveeti Satyavati. Foto: © ASW Indien – ein Land der Extreme. Nach außen modern mit wachsendem Reichtum und Konsum. Nach innen zwei Welten: eine, meist städtisch und gebildet, in der sich Frauen behaupten und am öffentlichen Leben teilnehmen. Die andere, oft ländlich, an Tradition und Kaste orientiert, in der Frauen Besitz des Mannes sind und ihren Platz im Haus haben.
Seit 2012 brechen die Schlagzeilen wegen Vergewaltigung nicht ab. Ein Fall, der weltweit für Aufruhr sorgt, ist der der 23-jährigen Jyoti Singh. Die Studentin wird in einem Bus in der nordindischen Stadt Delhi von sechs Männern missbraucht und stirbt kurz darauf. Zehntausende InderInnen protestieren gegen ein rückständiges Frauenbild und das Wegsehen von Polizei und Justiz bei sexueller Gewalt. Was haben die Proteste bewirkt? TERRE DES FEMMES spricht mit Kondaveeti Satyavati, der Gründerin und Frontfrau ihrer Partnerorganisation BHUMIKA.
Frau Satyavati, wie hat die indische Regierung auf die Massenproteste vor vier Jahren reagiert?
Die Regierung hat ein Komitee aus Rechtsgelehrten beauftragt, Vorschläge für Gesetzesänderungen zu erarbeiten. Sie sind 80.000 Empfehlungen von Frauenrechtsorganisationen und anderen ExpertInnen nachgegangen. Im Februar 2013 wurde das Sexualstrafrecht (Criminal Law Amendment Act, auch Nirbhaya Act genannt) verschärft:
Sexuelle Übergriffe, Voyeurismus, Stalking und Säureangriffe fallen jetzt auch darunter. Die Definition von Vergewaltigung wurde erweitert und Penetration in jeglicher Form mit aufgenommen. Die Strafen für Sexualdelikte sind nun höher. Für wiederholte Vergewaltigung und wenn das Opfer nach einer Vergewaltigung ins Koma fällt oder stirbt, kann die Todesstrafe verhängt werden. Die Richter haben Ermessensspielraum bei der Urteilsfindung, für besonders schwere Vergehen müssen sie aber Mindeststrafen einhalten (bei einer Gruppenvergewaltigung z.B. 20 Jahre Haft). Minderjährige Täter ab 16 Jahren müssen sich bei schweren Vergehen vor Gericht wie Erwachsene verantworten. Die Regierung hat auch sechs Schnellgerichte für Sexualdelikte eingesetzt, um Vergewaltiger rascher verurteilen zu können. Eine neue Untereinheit der Polizei, rein weiblich besetzt, soll dafür sorgen, dass Frauen sexuelle Gewalt ohne Angst vor Schuldzuweisungen anzeigen.
Bessere Gesetze sind zu begrüßen, aber oft nicht genug, um Frauen tatsächlich zu schützen. Was wird seit 2012 noch für Frauen getan?
Nicht nur Delhi hat Konsequenzen gezogen, GPS-Geräte in Bussen und Zügen angebracht und Fahrer zu Gender-Kurse verpflichtet. Im Bundesstaat Telangana, wo auch BHUMIKA arbeitet, gibt es jetzt „SHE Teams“ (SIE Teams). Diese Teams überwachen Orte, an denen Frauen immer wieder sexuell belästigt werden, und ziehen Stalker heraus. Nach dem Verhör legt die Polizei eine Akte über sie an. Kommt es wieder zu einem Verstoß, können sie schneller festgesetzt werden. Stalker müssen auch an einem Beratungsgespräch in Anwesenheit ihrer Familien teilnehmen. BHUMIKA führt viele dieser Gespräche zusammen mit der Polizei. Die SHE Teams betreiben außerdem eine Notfall-Hotline, die Frauen bei sexueller Belästigung anrufen können. Hilfe ist dann rasch zur Stelle. 2014 hat die Polizei zusätzlich die App „Hawk Eye“ (Adlerauge) mit SOS-Funktion eingeführt.
„One Stop Crisis Centers“ (Krisenzentren aus einer Hand) sind seit 2015 neu und in allen 10 Distrikten Telanganas an große Krankenhäuser angegliedert. Mädchen und Frauen, die von Gewalt betroffen sind, finden dort Zuflucht und erhalten umfassend Hilfe, von ärztlicher Behandlung über psycho-soziale und Rechtsberatung bis hin zu Angeboten, mit der Polizei und anderen wichtigen Unterstützern „draußen“ gefahrlos in Kontakt zu treten. BHUMIKA schult die BeraterInnen in diesen Krisenzentren im Auftrag der Regierung.
BHUMIKA selbst bietet eine 24/7 Beratungshotline für Mädchen und Frauen in Not an. Pro Tag kriegen wir 12-15 Anrufe. Mädchen sind häufig von Zwangsverheiratung oder Missbrauch betroffen, Frauen von häuslicher Gewalt, sexueller Belästigung am Arbeitsplatz oder Mitgift-Mobbing. Unsere Erfahrung ist, dass die Betroffenen niemanden haben, mit dem sie über ihre Probleme reden können. Von der eigenen Familie oder Schwiegerfamilie ist wenig Hilfe zu erwarten. Viele, die sich an uns wenden, sind deprimiert oder traumatisiert und denken an Selbstmord. Am liebsten wäre es ihnen, wenn sich ihre Probleme einfach in Luft auflösen würden. Sie wollen unter keinen Umständen zur Polizei gehen oder ihre Familien anzeigen. Die Angst vor einem Bruch mit der Familie und sozialer Ächtung durch den Verstoß gegen „jahrhundertealte Traditionen“ sitzt tief. Wir versuchen unsere Anruferinnen emotional aufzubauen und ihnen Selbstvertrauen zu geben. Sie werden über ihre Rechte und Handlungsmöglichkeiten aufgeklärt. In Extremfällen interveniert BHUMIKA mit Hilfe der Polizei und holt eine Frau aus einer Gefahrensituation heraus.
Was müsste sich Ihrer Meinung nach gesellschaftlich ändern, damit Frauen in Indien sicherer und selbstbestimmter leben können?
Bildung und Erziehung spielen eine große Rolle. Ganz wichtig wäre zum Beispiel, Kurse zu gendersensiblem Verhalten in Schullehrpläne und die Ausbildung von Polizei- und anderen Regierungsbeamten aufzunehmen. Gerade dort werden Geschlechterstereotype immer wieder reproduziert. Mädchen und Frauen müssen ihre Rechte und die neuen Gesetze kennen, Jungen und Männer die Strafen und deren Auswirkungen auf ihre Karrieren und Familien. Ohne die Eltern hat das aber wenig Erfolg: Töchter und Söhne müssen gleichberechtigt erzogen werden und beide im Haushalt helfen. Mitgift-Zahlungen für Mädchen sind nicht akzeptabel. Neben Aufklärung wird ganz entscheidend sein, Gewalt an Mädchen und Frauen transparenter und schneller als bisher zu ahnden. Tätern muss klar sein, dass sie nicht ungeschoren davonkommen. Im Gefängnis braucht es Programme, die Täter ihr Verhalten reflektieren und ändern lassen. Es liegt noch ein weiter Weg vor uns. In allen Bereichen. Am meisten aber zu Hause.
TERRE DES FEMMES unterstützt seit 2006 Frauenorganisationen in Indien in Kooperation mit der Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt e.V. (ASW).
Ihre Partnerorganisation BHUMIKA ist im südindischen Hyderabad aktiv. 1993 gegründet gab sie zunächst ein Magazin über Frauenrechte heraus. Später kamen Hilfsaktionen gegen häusliche und sexualisierte Gewalt hinzu. 2006 startete BHUMIKA eine Beratungshotline für Mädchen und Frauen in Not – damals die erste und einzige in der Großstadt Hyderabad. Die Organisation veranstaltet auch Seminare für PolizistInnen, RichterInnen und AnwältInnen, um sie für das Thema Frauenrechte und Gewalt gegen Frauen zu sensibilisieren. Außerdem betreibt BHUMIKA Lobbyarbeit auf politischer Ebene, u.a. für besseren Gewaltschutz. Der Bundesstaat Telangana greift für Beratung und Ausbildung inzwischen oft auf die Expertise von BHUMIKA zurück.
Stand: 12/2016