Die Corona-Pandemie werde bestehende Differenzen in der Geschlechtergleichstellung vergrößern und die Gefahr geschlechtsspezifischer Gewalt erhöhen, warnte der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen in einer mehrseitigen Mitteilung am 23. März 2020. Es sind überwiegend Frauen, die – nicht nur in Deutschland – in schlechtbezahlten Stellen, wie im Einzelhandel, in Krankenhäusern, in der Erziehung, in der Pflege an die Grenzen ihrer Belastung gehen und sich dabei einer erhöhten Ansteckungsgefahr aussetzen. In Quarantäne, isoliert mit ihrer Familie in den häuslichen vier Wänden, haben Frauen oft noch ganz andere Gefahren zu befürchten: Sie sind den Aggressionen des eigenen Partners ausgeliefert.
Die Quarantäne wird zur Falle
Das eigene Zuhause ist für viele Frauen ohnehin kein Ort der Geborgenheit: 2017 wurden laut UN weltweit täglich 217 Frauen von ihren Partnern getötet1. In Deutschland waren 2018 insgesamt mehr als 114.000 Frauen von häuslicher Gewalt betroffen, sahen sich durch ihre Partner oder Ex-Partner bedroht oder genötigt.2 Um diese abstrakte Statistik zu veranschaulichen, hatte TERRE DES FEMMES vom 1. bis zum 7. April 2019 eine „Awareness“-Woche auf ihren Social-Media-Kanälen (Instagram und Facebook) ausgerufen. Unter dem Hashtag #jedeVierte erzählten betroffene Frauen von ihren Erfahrungen. Frauenhäuser und Beratungsstellen werden schon in normalen Zeiten während der Ferien und Feiertage vermehrt in Anspruch genommen. Die durch die Corona-Krise bedingte Ausgangssperre, das Zusammenleben auf (häufig) engstem Raum und finanzielle Probleme könnte besonders bei Paaren, die schon länger in einer Gewaltbeziehung leben, zur Eskalation führen, befürchtet der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.
Erfahrungen aus den USA, Italien, Frankreich und China bestätigen diese Befürchtung: So gab Wan Fei, ehemaliger Polizist und Gründer eines Vereins gegen häusliche Gewalt in China an, die der Polizei im Bezirk Jianli für Februar gemeldeten Fälle, hätten sich im Vergleich zu 2019 verdreifacht. Auch in Berlin berichtet die Polizei, dass die Kriminalität im Bereich häusliche Gewalt bereits um mehr als zehn Prozent gestiegen ist.
Frauenhäuser und Beratungsstellen stehen vor großen Herausforderungen
Die meisten Frauenhäuser in Deutschland waren bereits vor dem Ausbruch der Pandemie überfüllt, hatten mit finanziellen Engpässen zu kämpfen. Darauf hat TDF schon 2017 in einem Bericht an den UN-Menschenrechtsrat hingewiesen und auf Abhilfe gedrungen. Auch lud die AG Rechte von Frauen und LSBTI* des Forum Menschenrechte, deren Sprecherin Maja Wegener von TERRE DES FEMMES bis zum Februar 2020 war, am 17. Oktober 2019 zum Parlamentarischen Frühstück in den Bundestag ein, um über dieses wichtige Thema zu sprechen.
Corona greift auch in die Arbeitsfähigkeit der Frauenhäuser ein: Die Infektionsgefahr für die Bewohnerinnen und die Mitarbeiterinnen lässt oftmals nur noch eine telefonische Beratung zu. Ist die Schutzsuchende am anderen Ende des Telefons eine Geflüchtete, fehlt oft eine DolmetscherIn. Wie können in einer Einrichtung, in der Küche und Bad gemeinschaftlich genutzt werden, im Fall einer Infektion, die Regeln der Quarantäne eingehalten werden? Wie werden die Frauenhäuser endlich mit Desinfektionsmitteln versorgt? Wenn die von Frauenministerin Giffey angekündigten zusätzlichen Plätze in Hotels etc., organisiert werden, so fehlten immer noch qualifizierte Beraterinnen; auch die Anonymität der Bewohnerinnen kann nicht, wie in Frauenhäusern, gewährleistet werden. Erkrankt eine Frauenhausmitarbeiterin wird die Personaldecke noch dünner. Wann wird das Fachpersonal bundesweit einheitlich als systemrelevanter Beruf anerkannt und klassifiziert? Viele Frauenhäuser rechnen mit einer verstärkten Beanspruchung ihrer Kapazitäten nach dem Abflauen der Epidemie.
In der sozialen Isolation, der Kontrolle des Täters ausgesetzt, sähen sich viele Betroffene außerstande, sich Hilfe von außen zu holen.
Schaust du hin? Machst du mit?
Umso wichtiger ist in der derzeitigen Ausnahmesituation unser Beistand. Vielleicht lassen sich Wege finden, der Betroffenen die Hilfsbereitschaft zu signalisieren. Dem heftigen Streit in der Nachbarwohnung sollten wir kein weiteres Mal tatenlos zuhören, sondern die Polizei rufen. „Schaust du hin?“ heißt die Kampagne, die TDF gemeinsam mit der Agentur HEYMANN BRANDT DE GELMINI 2015 anlässlich des Internationalen Frauentages mit einem gleichnamigen Film startete. Mehr denn je sind wir jetzt dazu angehalten, nicht wegzuschauen, sondern uns solidarisch zu zeigen.
Vor allem die Nachbarschaft ist jetzt gefragt. Deshalb ruft TERRE DES FEMMES in diesen schwierigen Zeiten zu einer „Mitmach-Aktion“ auf! TERRE DES FEMMES bittet darum den mehrsprachigen Abreißzettel von Hilfetelefon dort aufzuhängen, wo er am meisten gesehen wird. Ob das an einem schwarzen Bett in den Hausfluren ist oder an anderen Stellen, ist jedem selbst überlassen. Viele Frauen wissen nicht an wen sie sich wenden können. Das will TERRE DES FEMMES mit der „Mitmach-Aktion“ ändern. Für diejenigen, die auf Instagram aktiv sind: Postet ein Bild von dem aufgehängten Zettel mit dem Hashtag #jedeVierte und verlinkt @terre.des.femmes. Je mehr Menschen mitmachen, desto mehr können wir erreichen.
Vanessa Bell, TDF-Referentin für häusliche und sexualisierte Gewalt, appelliert an die deutsche Bundesregierung: „Wir brauchen dringend ein sofortiges Hilfspaket für Frauenhäuser und Hilfseinrichtungen für von Gewalt bedrohte Frauen. Wenn die Bundesregierung jetzt wegschaut und nicht handelt, kann das fatale Folgen für Frauen haben, die in gewalttätigen Partnerschaften leben.“ Bundesministerin Franziska Giffey hat ein umfassendes Hilfepaket angekündigt. Nehmen wir sie beim Wort.
Quellen und weiterführende Infos
Gewalt in der Corona-Krise: Wenn das Zuhause für Frauen kein sicherer Ort ist.
Ze.tt (zeit online) vom 26.03.2020, letzter Zugriff am 27.03.2020, 16:20 Uhr
TDF-Awareness-Woche #jedeVierte zum Thema häusliche Gewalt
Schaust du hin? Gemeinsam gegen Häusliche Gewalt.
Häusliche Gewalt: Kaum freier Platz in Frauenhäusern
Süddeutsche online vom 25.03.2020, letzter Zugriff am 27.03.2020, 17:11 Uhr
„Das eigene Zuhause ist für viele Frauen kein sicherer Ort“
Welt online vom 22.03.2020, letzter Zugriff am 27.03.2020, 13.30 Uhr
Familienministerin Giffey will Frauen besser gegen Gewalt schützen
Spiegel online vom 27.03.2020, letzter Zugriff am 27.03.2020, 16:50Uhr
Domestic Violence Cases Surge During COVID-19 Epidemic
Sixth tone online vom 02.03.2020, letzter Zugriff am 27.03.2020, 17:14 Uhr
Das weibliche Desaster. Frauen sind weniger von Corona betroffen?
Ipg-Journal vom 27.03.2020, letzter Zugriff am 27.03.2020, 14:30 Uhr
Corona ist weiblich: Eine Krise der Frauen
Taz vom 26.03.2020, letzter Zugriff am 27.03.2020, 14:40 Uhr
Gender Equality and Addressing Gender-based Violence (GBV) and Coronavirus Disease (COVID-19) Prevention, Protection and Response.
Coronavirus Disease (COVID-19) Preparedness and Response UNFPA Interim Technical Brief (23 March 2020)
Verweise
1 United Nations Office on Drugs and Crime (2019). Global Study on Homicide 2019, p. 10.
2 Horror hinter geschlossen Türen: Erschreckende Zahlen zur Partnerschaftsgewalt in Deutschland
Stand: März 2020