Ein interessiertes Fachpublikum diskutiert mir Myria Böhmeke die Auswirkungen der neuen Gesetzeslage. Foto: © TERRE DES FEMMESTERRE DES FEMMES setzte sich in den letzten Jahren intensiv für Gesetzesänderungen zur Verhinderung von Eheschließungen Minderjähriger ein. Diese Bemühungen wurden mit dem am 22. Juli 2017 in Kraft getretenen Gesetz belohnt. Unter anderem gilt nun für deutsche sowie nicht-deutsche Staatsangehörige, dass eine Ehe erst ab 18 Jahren geschlossen werden kann, ohne Ausnahmen. Des Weiteren dürfen Minderjährige ebenfalls nicht im Rahmen einer religiösen oder traditionellen Zeremonie verheiratet oder verlobt werden. Die Ehen minderjährig Verheirateter, die nach Deutschland einreisen, werden entweder aufgehoben oder für unwirksam erklärt.
Um sich über das neue Gesetz und dessen Umsetzung in der Praxis zu informieren und auszutauschen, fand am Vormittag des 07.03.2018 die Fachtagung „Gesetz und Praxis – Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ in Zusammenarbeit mit der Gleichstellungsbeauftragten von Neukölln Sylvia Edler, der Kinderschutzkoordinatorin des Neuköllner Jugendamts Marion Thurley und einer Mitarbeiterin von „Papatya“, der anonymen Kriseneinrichtung für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund statt. Zunächst gab die TERRE DES FEMMES Referentin zu Gewalt im Namen der Ehre Myria Böhmecke einen fachlichen Überblick über Zahlen und Hintergründe von Frühehen und setzte die Zuhörenden über die aktuelle Gesetzeslage sowie deren Umsetzung in der Praxis in Kenntnis.
Anschließend schilderte die Mitarbeiterin von „Papatya“ ihre Erfahrungen aus der Praxis anhand von drei Fallbeispielen. Sie machte deutlich, dass das neue Gesetz sehr wichtig sei, besonders da so ein Unrechtsbewusstsein geschaffen werde. Jedoch liegen die Schwierigkeiten der Umsetzung bzw. Verhinderung von etwa religiösen Verlobungen, Frühverheiratungen und/oder Zwangsverheiratungen oft nicht in fehlenden Gesetzen, sondern in der Abhängigkeit/Loyalität zur eigenen Familie. Sie hält die Betroffenen ab, sich gegen das ihnen widerfahrende Unrecht, z.B. durch eine Strafanzeige, zur Wehr zu setzen.
Zuletzt berichtete Marion Thurley über die Arbeit der Jugendhilfe und Hilfsmöglichkeiten durch das Jugendamt. An erster Stelle stünden immer sofortige Schutzmaßnahmen für die Betroffenen, erklärte sie, nachdem ein Mitarbeiter der Polizei aus dem Publikum die Frage stellte, warum das Jugendamt bei Kenntnis eines Falls nicht selbst Strafanzeige stelle.
Viele der rund 50 interessierten Personen, die an diesem Vormittag ins Neuköllner Jugend-, Kultur- und Werkzentrum Grenzallee gekommen waren, beteiligten sich am Gespräch. Unter ihnen befanden sich MitarbeiterInnen von Polizei, Jugendamt und sozialen Einrichtungen sowie ehrenamtlich Engagierte. Neben Verständnisfragen zum neuen Gesetz, wurde auch die Frage gestellt, welche Kontrollmechanismen es für die künftig untersagten traditionellen Zeremonien gäbe und auch, ob nur islamische oder auch „deutsche“ Verlobungen darunter zählen. Gemeinsam wurde beraten, wie man sich bei der praktischen Umsetzung des Gesetzes unterstützen könne, aber auch ein Mangel an bisheriger Unterstützung für Betroffene von staatlicher Seite kritisiert. So zum Beispiel wurde als großes Defizit die oft zu geringen Unterbringungsmöglichkeiten für Gefährdete bzw. Opfer, die deshalb trotz einer Gefährdungssituation in diesem Umfeld zurückbleiben müssen, genannt. Darüber hinaus gäbe es auch zu wenige bzw. gar keine solcher Plätze für stark gefährdetet Mütter mit Kindern oder etwa selbstbestimmt leben wollende Paare, die vor Gewalt im Namen der Ehre fliehen müssen.
Das größte Problem ist jedoch, dass das neue Gesetz noch nicht genügend in der Praxis angekommen ist. So ist z. B. in Berlin noch kein Fall bekannt geworden, in dem die Ehe aufgrund von Minderjährigkeit bei der Eheschließung aufgehoben wurde. Auch sind bislang die Zuständigkeiten noch nicht geklärt, welche Behörde überhaupt den Antrag auf Aufhebung solcher Ehen in Berlin stellt.
Klar ist jedoch: Die Beteiligten an der Veranstaltung arbeiten weiterhin Hand in Hand, um Frühehen in Zukunft zu verhindern und das Gesetz in die Praxis umzusetzen. Allerdings darf der Staat nicht aus seiner Verantwortung genommen werden und Zuständigkeiten ganz klar benennen sowie ausreichende Schutzeinrichtungen für Betroffene zur Verfügung stellen.
Stand: 03/2018