• 14.03.2024

Zu Besuch beim Frauenschutzhaus Misto Dobra in der Ukraine

Mehrere Frauen beim gemeinsamen Blumenkranzbasteln in der Kunsttherapie
Gemeinsames Blumenkranzbasteln in der Kunsttherapie

Erst spielt das Tonband Musik, dann verurteilt der Sprecher den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der so viele Menschen schon das Leben gekostet hat. Anschließend folgen eine Minute lang Glockenschläge. In dieser Zeit steht Chernivtsi still. Zahlreiche Menschen haben die umliegenden Büros, Häuser und Cafés verlassen und stehen auf dem Tsentral’na Square, dem Rathausplatz. Kein Auto fährt mehr, FahrerInnen sind an Ort und Stelle ausgestiegen und halten inne. Die örtliche Polizei steht den Menschen gegenüber, ist vor einer riesigen ukrainischen Flagge aufgereiht. Alle haben ihre Mützen abgenommen, die Köpfe sind gesenkt, stumm werden Tränen abgewischt. Zuletzt ertönt der Ruf „Slava Ukraina!“. Es ist 9 Uhr morgens und tägliche Schweigeminute für die im Krieg Getöteten. Chernivtsi hat diese als erste Stadt in der Ukraine eingeführt, mehrere haben sich seitdem angeschlossen.

Schnelles Wachstum und Anpassungsvermögen

Seit März 2022 unterstützt TERRE DES FEMMES das Frauenschutzhaus Misto Dobra im westukrainischen Chernivtsi. Als einzelne Schutzeinrichtung für gewaltbetroffene Mütter in Not eingerichtet, zählt das Areal heute sechs Gebäude, in denen bis zu 400 Personen Platz finden. Nach Ausbruch des Krieges ergoss sich eine riesige Fluchtwelle über das nicht von den Angriffen betroffene Chernivtsi. Es kamen v.a. Frauen, Kinder und sehr viele Waisenkinder aus dem stark umkämpften Osten des Landes. Misto Dobra zog in kürzester Zeit neue Gebäude hoch und mobilisierte alle Kräfte und Kontakte, um die schutzbedürftigen Menschen zu versorgen. TERRE DES FEMMES und die Hamburger Firma Marquard und Bahls leisteten in dieser Notlage finanzielle Unterstützung. Zwei Jahre nach Projektbeginn ist die Referatsleiterin für Internationale Zusammenarbeit nun das erste Mal nach Chernivtsi gereist.

Mütter in Not und Waisenkinder

Rund 350 Personen leben heute auf dem Schutzhausareal, in der Mehrzahl von häuslicher Gewalt betroffene Mütter mit ihren Kindern, kriegsgeflüchtete Waisenkinder, viele mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen, und einige alleinstehende, ältere Frauen. Misto Dobra hat in den letzten zwei Jahren auch einen voll ausgestatteten Schutzkeller, ein Rehazentrum und ein kleines Hospiz eingerichtet. Sie bieten verschiedene Beratungen und Therapien für die Frauen und Kinder an, besonders beliebt sind Kunst- und Tiertherapie. Zwei Anwältinnen, sechs Psychologinnen und eine Case Managerin, die die Frauen in ihrer beruflichen Entwicklung stärkt und bei der Suche nach einem Arbeitsplatz unterstützt, stehen den Frauen zur Seite. Eine Notrufnummer für Anrufe aus dem ganzen Land steht 24/7 zur Verfügung. Ziel ist immer, die Frauen zu stärken und auf ihrem Weg aus der Gewalt zu begleiten. Sie lernen zudem, den Alltag für sich und ihre Kinder besser zu strukturieren, die Kinder in ihrer Bildung und Entwicklung zu fördern und ihnen trotz des Krieges ein Umfeld voller Unbeschwertheit und Liebe zu ermöglichen.

Häusliche Gewalt im Krieg

Das ist auch bitter nötig, denn laut Misto Dobra hat häusliche Gewalt während des Krieges stark zugenommen. Männer, die an der Front gekämpft haben, kommen zur kurzzeitigen Erholung oder als Invaliden nach Hause, sind jedoch häufig von schweren Traumata gezeichnet, welche nicht selten bereits vorhandene Gewalt verstärken oder erstmals auslösen. Sehr viele Kinder mussten oder müssen diese Gewalt mitansehen. Gerade in Kriegsgebieten gibt es kaum Flucht- oder Hilfsmöglichkeiten. Auch mehrere Fälle von sexualisierter Gewalt, die als Kriegswaffe gegen Frauen oder Kinder eingesetzt wurde, hat Misto Dobra begleitet, diese wurden insbesondere zu Beginn des Angriffskriegs 2022, vereinzelt auch noch 2023, berichtet. Gerade in der Tiertherapie mit Hunden fällt es vielen Frauen und Kindern leichter, Zugang zu ihren Gewalterfahrungen und Ängsten herzustellen, und diese zu überwinden. Misto Dobra begleitet auch bei den erforderlichen rechtsmedizinischen und rechtlichen Schritten. Häufig werden Frauen mit Gewalterfahrung gerade im kriegsbetroffenen ländlichen Raum, und insbesondere, wenn ihre Männer Soldaten sind, abgewehrt, wenn sie bei der Polizei Anzeige erstatten wollen. Misto Dobra wirkt dem aktiv entgegen, indem sie PolizeibeamtInnen schulen, mit Gewalttätern und insbesondere Gewalt gegen Frauen ausübenden Soldaten zu kommunizieren. Langfristig plant Misto Dobra, in allen Landesteilen Schutzeinrichtungen nach dem Modell des Schutzhauses in Chernivtsi zu etablieren. Viel zu häufig würden gewaltbetroffenen Müttern die Kinder weggenommen und in Waisenhäusern untergebracht. Aus Angst vor dem Verlust des Sorgerechts für ihre Kinder und aufgrund wirtschaftlicher Abhängigkeit zeigten viele Frauen die Gewalt nicht an. Zudem gilt häusliche Gewalt erst seit 2019 als Gewaltdelikt, vorher wurde sie lediglich als Ordnungswidrigkeit geführt. Zur Ratifizierung der Istanbul-Konvention rang sich die Regierung erst nach Kriegsausbruch 2022, 11 Jahre nach ihrer Unterzeichnung, durch. Staatliche Schutzhäuser existierten nur wenige. Frauen dürften sich maximal 10 Tage dort aufhalten und Beratungsangebote seien nicht so ausgelegt, dass der Weg aus der Gewalt realistisch gelingen könne. Misto Dobra setzt dagegen auf andere, an internationalen Standards, ausgerichtete, Ansätze und wirkt trotz des Krieges aktiv auf Gesetzesreformen hin, insbesondere mit Blick auf die Rechte von Müttern.

Humanitäre Hilfe für Kriegsregionen

Doch Misto Dobra leistet auch weiter dringend benötigte humanitäre Hilfe: in einem extra angemieteten Lager in Bahnhofsnähe werden humanitäre Materialspenden aus der Ukraine und ganzen restlichen Welt entgegengenommen. Auf einer Social Media-Page stellt Misto Dobra täglich den Bedarf ein und anschließend erhalten sie das meiste, was gebraucht wird, auf dem Postweg. Sie entpacken und sortieren das Erhaltene und verpacken die von Krankenhäusern und Haushalten benannten Bedarfe, die dann per Post v.a. in die Ostukraine und nach Kiew auf den Weg gebracht werden. In größeren Abständen nimmt Misto Dobra auch eigene Hilfslieferungen per Lastwagen in umkämpfte Gebiete vor. Diese Fahrten gewährleisten an der Waffe ausgebildete Männer, die die Regionen gut kennen. Vor Ort werden dann über die Lokalbehörden Verteilungspunkte benannt und die Menschen eingeladen, sich das Benötigte abzuholen.

Fazit

Es ist sehr beeindruckend, nachzuverfolgen, wie schnell und anpassungsfähig Misto Dobra in diversen Einsatzbereichen trotz der Schrecken des Krieges agiert hat, und wie gut den Frauen das Schutzhaus und die therapeutische Arbeit tun. Auch die Kinder kommen im Schutzhaus zur Ruhe und fassen wieder Vertrauen. Kinderlachen hört man auf dem Anwesen oft, die Mütter arbeiten Hand in Hand mit den PädagogInnen und SozialarbeiterInnen, und jeder Tag hält stärkende Rituale für das gemeinsame Miteinander bereit. Das Misto Dobra-Team zählt neben den angestellten, spezialisierten Fachkräften immer noch viele Freiwillige, die sich neben ihrer eigentlichen Arbeit mit hoher Motivation und großem Einsatz ehrenamtlich einbringen. Misto Dobra wirkt wie eine Insel des Glaubens an eine bessere Zukunft. Denn die Euphorie der eigenen Verteidigungsfähigkeit und des kollektiven Zusammenhalts werde nach zwei Jahren Krieg, so berichten Viele, immer wieder von Momenten der Kriegsmüdigkeit und des Bangens um die weitere Kriegsentwicklung abgelöst. Misto Dobra hält v.a. mit Tatkraft dagegen: sie wollen gerade jetzt die Weichen für wirksame Gewaltprävention und eine besser koordinierte und effektive Hilfe für Frauen im Gewaltfall in der Zukunft stellen. TERRE DES FEMMES wird sie dabei unterstützen. Leisten auch Sie dringend benötigte Hilfe für Frauen und Kinder in der Ukraine! Herzlichen Dank!

 

 

  • Zwei Frauen beim Blumenkranzbinden bei der Kunsttherapie
    Blumenkranzbinden bei der Kunsttherapie
  • Frauen und Kinder spielen im als Spieloase eingerichtete Bombenschutzkeller
    Frauen und Kinder im als Spieloase eingerichtete Bombenschutzkeller © Misto Dobra
  • TDF- Referentin Brigitta Hahn bei der Belegprüfung mit der TDF-Ansprechperson Yulia und dem Übersetzer Sasha
    Brigitta Hahn bei der Belegprüfung mit der TDF-Ansprechperson Yulia und dem Übersetzer Sasha
  • Drei Kinder und eine Frau beim gemeinsamen Hausaufgaben machen
    Gemeinsames Hausaufgaben machen
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