Dokumentationsstelle

Sicherer und legaler Schwangerschaftsabbruch für alle!

Am 28. Mai 1994 wurde der siebente Internationale Tag der Frauengesundheit einem Thema gewidmet, das auch heute, 27 Jahre später, nicht an Brisanz eingebüßt hat: „In diesem Jahr rufen wir zu Aktivitäten für eine sichere und legale Abtreibung auf, der Grundvoraussetzung für die Verhütung schwangerschaftsbedingter Sterblichkeit.“ i

TERRE DES FEMMES (TDF) hatte sich dem Aufruf desCaribbean Women’s Health Network und des Women’s Global Network for Reproducitve Rights angeschlossen und über die einjährige Kampagne im Rundbrief berichtet und den achtseitigen Flyer der Initiative aus dem Englischen übersetzt und für dessen Verbreitung geworben.
Mindestens 200.000 Frauen würden jährlich aufgrund eines illegal durchgeführten Schwangerschaftsabbruchs sterben; noch viel höher sei die Zahl derjenigen Frauen, die nach einem illegalen Eingriff an Komplikationen litten. Neben Schätzungen zu den Zahlen klandestiner Schwangerschaftsabbrüche und deren Folgen, gaben die VerfasserInnen des „Aktionsaufrufs“ Feministinnen eine Reihe möglicher Strategien zur Hand, mit denen eine Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs anvisiert werden könne.

 

Passagen der von TERRE DES FEMMES anlässlich des Frauengesundheitstages 1994 herausgegebene Pressemitteilung klingen bestürzend heutig:
„In einer Zeit, in der grundlegenden Frauenrechten durch frauenfeindliche sowie reaktionäre Gesetze immer mehr Boden entzogen wird, ist das Ziel dieser Kampagne, das Schweigen über die (illegalen) Abtreibungen zu brechen und weitverbreitete Mythen mit der Realität zu konfrontieren.“ ii

§ 218 und kein Ende

Neu war das Thema reproduktive Rechte und Gesundheit bei TDF nicht. Immer wieder wurde im Rundbrief etwa über die Zwangssterilisierung und -abtreibung bei tibetischen Frauen durch die chinesischen Besatzer berichtet.iii

Aber auch „zuhause“, in der Bundesrepublik, gab es für TDF Anlass zur Besorgnis und zum Protest: Ausgerechnet am Tag der Frauengesundheit 1993 wurde Frauen durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts die „in vielen Jahren erkämpfte Lockerung der Abtreibungspraxis, nun wieder von Männern ‚in höchster Position‘ streitig gemacht,“ resümiert TDF-Frau Monika Gerstendörfer enttäuscht in ihrem ausführlichen Artikel iv zum Entscheid. Bereits im Vorfeld hatte TDF die dringliche Aufforderung zu einer Briefaktion veröffentlicht, die von der Soziologin und Juristin Ute Gerhard initiiert wurde: „Wir appellieren an alle, das BVG jetzt mit noch viel mehr Briefen einzudecken. Es ist unsere letzte Chance vor dem Richterspruch, unsere andere Meinung der Öffentlichkeit kundzutun.“ v

Im Zuge der Neuverhandlung des Paragrafen 218 nach der Wiedervereinigung prallten in der Auseinandersetzung um dessen Reform konservativ-christlich geprägte Sichtweisen auf Forderungen von AktivistInnen, die auf das Selbstbestimmungsrecht der Frauen pochten und für die Streichung des Paragrafen 218 demonstrierten oder zumindest für die in der DDF geltenden Fristenregelung plädierten.

> Im Namen des Volkes<? - Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993

Das Urteil, das das Bundesverfassungsgericht (fünf Männer und eine Frau) am 28. Mai 1993 fällte, und damit eine Übergangsregelung für das gesamte Bundesgebiet verabschiedete, trug eindeutig die Handschrift einer (katholisch-)konservativen Weltanschauung:
„Das Lebensrecht darf nicht, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, der freien, rechtlich nicht gebundenen Entscheidung eines Dritten, und sei es selbst die Mutter, überantwortet werden.“ vi

Entsprechend bitter und harsch fällt die Reaktion von TDF aus. In ihrem siebenseitigen Artikel nimmt Gerstendörfer das Urteil minutiös auseinander. vii

Im neuen Abtreibungsrecht erkennt sie “einen Brennspiegel der Rolle der Frau in der Gesellschaft,“ in der die Frauen noch immer nicht über ihren Körper und ihr Leben bestimmen können.

Durch das Urteil würden Dritte über das Los der „Geschwängerten“ bestimmen und deren Nöte und Bedürfnisse außen vor lassen. Der Verursacher (der Mann) aber werde aus der Verantwortung entlassen. Während der seelische Konflikt der Schwangeren völlig ignoriert werde, würden ihr der Stempel der „Rechtswidrigkeit“ aufgedrückt, sie zur Beratung und zur Kostenübernahme gezwungen. Jungen Frauen werde die Lebensperspektive geraubt.

Sie fordert eine sorgfältige Neuregelung, bei der auch das Europarecht beachtet werden müsste. In Zukunft müsse wieder auf eine „deutliche Trennung von Kirche, Staat und spezifischen Interessengruppen (z.B. ‚Lebensschützer‘) geachtet werden.“

Streicht Paragraf 218 und 219a!

Am 1. Oktober 1995 trat das noch heute geltende Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz in Kraft.

Danach ist ein Schwangerschaftsabbruch nach wie vor rechtswidrig. Wenn die Frau innerhalb der ersten drei Monate und nach einer Konfliktberatung den Abbruch vornehmen lässt, bleibt sie straffrei. Nicht rechtswidrig ist der Eingriff, wenn eine „medizinische oder kriminologische Indikation“ vorliegt.

Noch immer wird ein Schwangerschaftsabbruch kriminalisiert. Von einer Selbstbestimmung der Frau sind wir noch weit entfernt.

Spätestens seit die Ärztin Kristina Hänel 2017 verurteilt wurde, weil sie angeblich für die in ihrer Praxis vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche geworben habe, ist auch der Paragraph 219a ins Blickfeld geraten.

TERRE DES FEMMES setzt sich noch immer mit unterschiedlichen Aktionen vehement für eine Abschaffung der Paragrafen 218 und 219a StGB ein. viii

Zuletzt erregte TDF Aufsehen mit der in Kooperation mit der Agentur Grey lancierten Kampagne „ Streicht Paragraf 219a “. In Kurzvideos sprechen ein Schauspieler, ein Koch, ein Mechaniker und eine Moderatorin aus, was ÄrtzInnen, die Abbrüche vornehmen, nicht veröffentlichen dürfen, ohne sich laut Paragraf 219 strafbar zu machen.

Und wenn die selbsterklärten „Lebensschützer“ am 18. September ihren jährlichen „Marsch fürs Leben“ in Berlin antreten, so wird sich TDF auf der Seite der GegendemonstrantInnen einfinden und lautstark für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen eintreten.

Stand: Mai 2021

Quellen und weiterführende Literatur:

Monika Gerstendörfer: >Im Namen des Volkes?< - Der Paragraph 218. Abtreibungsrecht: Brennspiegel der Rolle der Frau in der Gesellschaft. In TERRE DES FEMMES-Rundbrief 3/1993, S. 15 – 21

Sichere und legale Abtreibung für alle Frauen. TERRE DES FEMMES-Pressemitteilung vom 25.05.1994

Women’s Global Network for Reproductive Rights: Sichere und legale Abtreibung für alle Frauen. Siebter Aktionsaufruf. Internationaler Aktionstag für Frauengesundheit 28. Mai 1994.
Deutsche Ausgabe übersetzt und herausgegeben von TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau

Internationaler Aktionstag für Frauengesundheit – 28. Mai 1994. Sichere und legale Abtreibung für alle Frauen. Abtreibung ist Menschen-/Frauenrecht. In TERRE DES FEMMES-Rundbrief 2/1994, S. 16

Ute Gerhard: Zur Verfassungsdebatte § 218. Aufruf zu einer großen Briefaktion in Sachen § 218. In TERRE DES FEMMES-Rundbrief 1/1993, S. 24

Eva Saalfrank: Tibetische Frauen kämpfen für ihr Mutterland. In: TERRE DES FEMMES-Rundbrief 1/1993, S. 42ff

Dirk von Behren: Kurze Geschichte des Paragrafen 218 Strafgesetzbuch. In: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte, Jahrgang 19, 10.05.219

Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung: Geschichte des Widerstands gegen den Strafrechtsparagrafen 218. https://www.sexuelle-selbstbestimmung.de/6669/geschichte-des-widerstands-gegen-den-strafrechtsparagrafen-218/

Kristina Hänel: Das Politische ist persönlich. Tagebuch einer „Abtreibungsärztin“. Argument Verlag, Hamburg 2019

Elke Sanders; Ulli Jentsch; Felix Hansen: „Deutschland treibt sich ab.“ Organisierter „Lebensschutz.“ Christilicher Fundamentalismus – Antifeminismus. Unrast Verlag, Münster 2014

i Women’s Global Network for Reproductive Rights: Sichere und legale Abtreibung für alle Frauen. Siebter Aktionsaufruf. Internationaler Aktionstag für Frauengesundheit 28. Mai 1994.

Deutsche Ausgabe übersetzt und herausgegeben von TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau

ii Sichere und legale Abtreibung für alle Frauen. TERRE DES FEMMES-Pressemitteilung vom 25.05.1994

iii Eva Saalfrank: Tibetische Frauen kämpfen für ihr Mutterland. In: TERRE DES FEMMES-Rundbrief 1/1993, S. 42 ff

iv Monika Gerstendörfer: >Im Namen des Volkes?< - Der Paragraph 218. Abtreibungsrecht: Brennspiegel der Rolle der Frau in der Gesellschaft. In TERRE DES FEMMES-Rundbrief

3/1993, S. 15 – 21

v Ute Gerhard: Zur Verfassungsdebatte § 218. Aufruf zu einer großen Briefaktion in Sachen § 218. In TERRE DES FEMMES-Rundbrief 1/1993, S. 24

vi Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung: Geschichte des Widerstands gegen den Strafrechtsparagrafen 218. https://www.sexuelle-selbstbestimmung.de/6669/geschichte-des-widerstands-gegen-den-strafrechtsparagrafen-218/

vii RB 3/1993, S. 15

viii So wurde vom 16. bis 21. September 2019 eine Awareness-Woche zum Thema Schwangerschaftsabbrüche auf Instagram und Facebook gestartet für den Aktionstag am 21. September des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung mobilisiert. https://www.frauenrechte.de/informationen/nachrichten-aktuelles/aktuelles-zu-frauenrechten-allgemein/4028-awareness-woche-zur-abschaffung-der-paragrafen-218-und-219a

nach oben
Jetzt spenden