• 01.11.2023

Offener Brief: Nur „Ja heißt Ja“ – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt

"Ja heißt Ja"
Weiße Schrift auf violettem Grund "Ja heißt Ja"

Der Offene Brief als PDF

Sehr geehrter Herr Bundesminister Buschmann,

wir wenden uns heute an Sie, weil wir Sie auffordern, die „Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ vollumfänglich zu unterstützen, insbesondere die Änderung im Sexualstrafrecht.

Fünf Prozent aller Frauen in der Europäischen Union haben seit ihrem 15. Lebensjahr schon einmal eine Vergewaltigung erlebt. Im Jahr 2015 wurden EU-weit fast 80.000 Vergewaltigungen zur Anzeige gebracht. In Deutschland erfasste die polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2022 insgesamt 11.896 Fälle von sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Das ist jedoch nur das sogenannte Hellfeld, die tatsächlichen Zahlen sind sehr viel höher, da Vergewaltigungen nur selten angezeigt werden. Grund ist unter anderem die Sorge, dass der Ermittlungsprozess und das Verfahren psychisch belastend und wahrscheinlich nicht erfolgreich sein werden.[1] Denn zu Verurteilungen kommt nur es selten. Betroffene von Vergewaltigungen haben also eine verschwindend geringe Chance auf Gerechtigkeit.

Frauen erleben Vergewaltigungen unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Stellung in der Gesellschaft. Die Folgen einer Vergewaltigung sind enorm. Die Betroffenen leben oft noch Jahre nach der Tat mit Ängsten, Schlafstörungen und weitreichenden psychischen Belastungen, bis hin zur Suizidalität. Eine Vergewaltigung richtet einen nicht wiedergutzumachenden Schaden an und ist daher unbedingt als schweres Verbrechen einzustufen.

Der Richtlinienentwurf enthält auch eine einheitliche Regelung von Vergewaltigungen (Artikel 5). Damit wäre die "Ja heißt Ja"-Regelung für alle EU-Länder verpflichtend. Mit dieser Regelung würde eine fundamentale und essenzielle Veränderung des gesellschaftlichen Denkens zu Vergewaltigungen stattfinden. Das bisherige Abwehrprinzip wird durch das Zustimmungsprinzip ersetzt, und verschiebt damit die Verantwortung von der betroffenen Frau weg und hin zum Täter. „Ja heißt ja“ ist ein wichtiges Signal an Frauen: eine Vergewaltigung ist nie Schuld der Betroffenen. Und: die Verantwortung sicherzustellen, dass Sex einvernehmlich ist, liegt bei allen Beteiligten. Nicht immer gelingt es den Betroffenen körperlichen Widerstand zu leisten, oder nein zu sagen. Wird dies nicht anerkannt, leiden die Betroffenen an Scham- und Schuldgefühlen, die sie oft davon abhalten sich Hilfe zu suchen. Mit „Ja heißt Ja“ könnten Täter auch dann bestraft werden, wenn sie sich ohne Ausübung von körperlichem Zwang über den Willen einer anderen Person hinwegsetzen. In Schweden hat die „Ja heißt Ja“- Regelung erreicht, dass die Zahl der Verurteilungen bei Vergewaltigungen um 75 Prozent angestiegen ist. Die Regelung wäre also auch ein wichtiger Schritt hin zur Bekämpfung der Straffreiheit bei Sexualstraftaten.

Die EU-weite Umsetzung der Richtlinie ist von entscheidender Bedeutung. Sie kriminalisiert Vergewaltigung aufgrund fehlender Zustimmung und stellt sicher, dass alle Frauen vor sexualisierter Gewalt geschützt werden, ohne Rücksicht auf ihre Beziehung zum Täter oder die Umstände der Vergewaltigung. Denn Sex ohne Zustimmung ist immer Gewalt! TERRE DES FEMMES begrüßt diese Regelung, da sie dem Standard der Istanbul-Konvention entspricht und auch für Deutschland einen wichtigen Schritt für die Verwirklichung von Frauenrechten darstellt. Geschlechtsspezifische Gewalt wird klar verurteilt. Die Einführung des "Ja-heißt-Ja"-Grundsatzes stärkt das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung in der gesamten EU und darf nicht länger aufgeschoben werden.

Der von Ihnen vorgebrachte Einwand, die EU habe dafür nicht die erforderliche Kompetenz zur Rechtsetzung kann unserer Ansicht nicht der Grund sein, dass Sie Ihre Zustimmung zu dieser überaus wichtigen Änderung im Sexualstrafrecht verweigern. Dass aus rechtlicher Perspektive nichts gegen den Beschluss und die Umsetzung der Richtlinie spricht, haben bereits der juristische Dienst der EU-Kommission und JuristInnen des EU-Parlaments selbst, sowie juristische Verbände in Stellungnahmen zum Ausdruck gebracht.

Gewalt gegen Frauen verhindert die Gleichberechtigung von Frauen und verletzt ihre Grundrechte. Die „Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ enthält umfassende und weitreichende Maßnahmen zum Schutz gegen Gewalt an Frauen. Ihr Beschluss wäre ein klares Signal an Millionen von Frauen in Europa und in Deutschland, dass Gewalt gegen sie nicht toleriert wird. Wir richten daher einen dringenden Appell an Sie und bitten Sie die Richtlinie in vollem Umfang zu unterstützen.

Als Justizminister Deutschlands haben Sie die einzigartige Chance sich für den Schutz aller Frauen in der EU einzusetzen und ein historisches Zeichen zu setzen. Wir setzen große Hoffnung in Sie!

Mit Spannung beobachten wir die weiteren Entwicklungen im Vorfeld der Verhandlung am 14. November 2023 und setzen darauf, dass Sie den Beschluss der Richtlinie in vollem Umfang unterstützen werden. Zeigen Sie damit, dass schwere Verbrechen wie Vergewaltigungen nicht straffrei bleiben dürfen und dass alles getan wird, um das Leid der Betroffenen zu mindern und Gerechtigkeit walten zu lassen.

Mit freundlichen Grüßen,
Christa Stolle
TERRE DES FEMMES
Bundesgeschäftsführerin


[1] Schätzungen zufolge werden in Deutschland nur etwa 15 Prozent aller Vergewaltigungen angezeigt. In nur 7,5 Prozent der angezeigten Fälle kommt es zu einer Verurteilung (Christian Pfeiffer 2019).

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