• 04.04.2024

Offener Brief – Kritik zum Kommentar der Menschenrechtskommissarin des Europarats von TERRE DES FEMMES e.V.

Sehr geehrtes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates,

wir wenden uns heute an Sie in Ihrer Funktion als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE), um unsere ernsten Bedenken zum Ausdruck zu bringen, hinsichtlich des am 15. Februar 2024 veröffentlichten Kommentar der Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, mit dem Titel „Schutz der Menschenrechte von Sexarbeiterinnen“.

Im Wesentlichen plädiert sie für die vollständige Entkriminalisierung der Prostitution, einschließlich der ZuhälterInnen und weiterer DrittprofiteurInnen, was einen direkten Verstoß gegen Artikel 6 des CEDAW darstellt, nach dem die Vertragsstaaten “alle geeigneten Maßnahmen [...] zur Abschaffung jeder Form des Frauenhandels und der Ausbeutung der Prostitution von Frauen” ergreifen müssen. Und spricht sich gegen gesetzliche Maßnahmen aus, die darauf abzielen, Männer davon abzuhalten Sex zu kaufen, was wiederum einen direkten Verstoß gegen Artikel 9 des Palermo-Protokolls darstellt, welcher besagt, dass die “Vertragsstaaten [...] Maßnahmen [treffen], um der Nachfrage entgegenzuwirken, die alle Formen der zum Menschenhandel führenden Ausbeutung von Personen, insbesondere von Frauen und Kindern, begünstigt”.

Die Meinungen zur Prostitutionsgesetzgebung polarisieren stark in den unterschiedlichen Ländern Europas. Einige Länder (wie z.B. Schweden, Norwegen, Frankreich und Irland) verfolgen den Ansatz des sogenannten Nordischen Modells, während andere (wie Deutschland, die Niederlande, die Schweiz und Belgien) legalisierte oder entkriminalisierte Ansätze verfolgen. Dass Länder innerhalb des Europarates unterschiedliche Ansätze zu einem Thema haben, wird vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Prinzip des Ermessensspielraums anerkannt und legitimiert.

Der Ansatz des Nordischen Modells erkennt an, dass es sich bei Prostitution um eine Form von geschlechtsspezifischer Gewalt handelt, ein Ansatz, dem sich das Europäische Parlament bereits angeschlossen hat. Hauptziel ist es, die Nachfrage nach käuflichem Sex zu reduzieren und somit die Sexindustrie einzudämmen. Jede Form der Zuhälterei, das Betreiben von Bordellen, Läufhausern etc., sowie der Sexkauf sollen kriminalisiert und strafrechtlich geahndet werden.

Der Forderung von Frau Mijatović, Prostituierte vollständig zu entkriminalisieren, schließen wir uns an, möchten diesen wichtigen Punkt jedoch mit der Forderung nach Bereitstellung von ausreichenden Unterstützungs- und Beratungsangeboten, einschließlich Ausstiegsmöglichkeiten und alternativen Verdienstmöglichkeiten, sowie Bemühungen um Aufklärung über Prostitution mit dem Ziel gesellschaftlicher Sensibilisierung und Präventionsarbeit ergänzen.

Der Ansatz der Legalisierung und umfassenden Entkriminalisierung unterstellt, dass Prostituierte grundsätzlich freiwillig ihre Körper verkaufen, und negiert das Leid, welche Frauen ohne alternative Verdienstmöglichkeit zur vermeintlich freiwilligen Aufnahme dieser Tätigkeit zwingt. Unter dem Deckmantel der sexuellen Selbstbestimmung und der freien Berufswahl findet dies viel Zuspruch, wobei die Prostitutionsbranche als lediglich regulierungsbedürftig dargestellt wird. In der Regel führt eine solche Gesetzgebung jedoch lediglich zu einer florierenden Sexindustrie, die Menschenhandel begünstigt, Dritte profitieren lässt und bereits marginalisierte Frauen erneut an den Rand der Gesellschaft drängt.1

Untersuchungen von GesundheitsexpertInnen weisen darauf hin, dass die Gewaltrate und psychische Belastungen von Prostituierten deutlich höher sind als bei Frauen in anderen Berufsfeldern. Die Wahrscheinlichkeit, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln, ist bei Prostituierten mehr als doppelt so hoch wie bei Kriegsopfern.2 Eine repräsentative Studie des Bundesfamilienministeriums ergab, dass 92 % aller befragten Prostituierten mindestens eine Form sexueller Belästigung erlebt haben, 82 % psychische Gewalt, und 87 % seit dem 16. Lebensjahr mindestens eine Form von körperlicher Gewalt erfahren haben. Zusätzlich haben 59 % der Befragten seit dem 16. Lebensjahr mindestens eine der aufgeführten Formen sexueller Gewalt erlebt.3 Der Zusammenhang zwischen frühkindlichen Gewalterfahrungen und den täglich reproduzierten Gewalterfahrungen durch sexuelle Dienstleistungen ist verheerend.

Bei der Erstellung des Kommentars zum Thema Prostitution und Menschenrechte wurde von der Verfasserin leider gänzlich versäumt, sich mit StakeholderInnen zu beraten, die die vollständige Entkriminalisierung der Sexindustrie nicht unterstützen und sich mit Überlebenden der Prostitution auszutauschen. Zudem scheint es, als seien die Überlegungen hinter dem Nordischen Modell und seiner praktischen Umsetzung nicht untersucht worden. Das Anhören beider Positionen bei einem Thema im Spannungsfeld ist ein Rechtsstaatsprinzip, das der Europarat zu wahren hat. Bei diesem Kommentar fehlen uns gänzlich die notwendige Auseinandersetzung und Anhörung unterschiedlicher Akteure und ExpertInnen.

Es ist uns ein Anliegen, Sie als Mitglied der PACE auf die veröffentlichte Positionierung im Namen des Europarates aufmerksam machen und eine klare Gegenposition formulieren bzw. sich von dieser distanzieren. Wir möchten Sie ermutigen, das Thema mit gebotener Differenziertheit zu betrachten und alle relevanten Seiten und Standpunkte einzubeziehen.

Unser Ziel ist es, einen evidenzbasierten Ansatz zu verfolgen, der sich für ein Europa einsetzt, in dem alle Frauen frei von Gewalt und Ausbeutung leben können.

Mit feministischen Grüßen
Christa Stolle, Bundesgeschäftsführerin

 

1 Cho, S., Dreher, A., Neumayer, E., 2012. Does Legalized Prostitution Increase Human Trafficking?
2 Kraus, I., 2022. Menschenhandel und Prostitution aus psychotraumatologischer Sicht. https://www.trauma-and-prostitution.eu/wp-content/uploads/2023/03/Prostitution-aus-psychotraumatologischer-Sicht-1-pdf.pdf(aufgerufen am 14.03.2024)
3 BMFSFJ, 2005. Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. S.409

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