Weibliche Genitalverstümmelung und Jungenbeschneidung werden in den deutschen Gesetzestexten widersprüchlich behandelt – während das eine mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft werden kann, ist das andere ausdrücklich erlaubt. Darum fordern JuristInnen nun die Legalisierung der Klitorisvorhautbeschneidung. TERRE DES FEMMES protestiert dagegen und kritisiert, dass diese Eingriffe von den JuristInnen einzig in ihrer medizinisch-physischen Dimension beurteilt werden.
2013 wurde endlich das Gesetz gegen weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland geschaffen. Damit kam die Regierung den Anforderungen nach, zu denen sich alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen in der Resolution zur Abschaffung weiblicher Genitalverstümmelung (PDF-Datei, s. Punkt 4) am 20. Dezember 2012 verpflichtet haben.
Da die Bundesregierung nur wenige Tage zuvor die Beschneidung von Jungen ausdrücklich erlaubt hatte, scheint es nun so, als läge eine geschlechtsbasierte Diskriminierung vor. Um die Gesetze zu den medizinisch unnötigen Eingriffen am Genital von nicht einwilligungsfähigen Kindern zu vereinheitlichen, schlagen nun Prof. Tatjana Hörnle (PDF-Datei, s. S. 20) von der Humboldt Uni Berlin zum 70. Juristentag (16.-19-09.2014) sowie Prof. Karl-Peter Ringel und Ass. Jur. Kathrin Meyer (PDF-Datei) von der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberge in ihrer Arbeit aus dem Juni 2013 vor, § 226 a (das Gesetz gegen weibliche Genitalverstümmelung) zu ändern und „milde Formen“ der Genitalverstümmelung zu legalisieren, sofern sie in der Ausübung und im Ausmaß mit der Jungenbeschneidung vergleichbar sind.
Alle Kinder haben das Recht auf Unversehrtheit
Dass medizinisch unnötige Operationen an Kindern (gilt ausdrücklich auch für Intersex-Kinder) grundsätzlich nie hätten erlaubt werden dürfen und dass sich TERRE DES FEMMES ausdrücklich gegen Jungenbeschneidung positioniert, sollte bekannt sein. Wir unterstützen also das Ziel, ein einheitliches Gesetz für alle Kinder zu schaffen, sofern dieses ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit und Entscheidungsfreiheit stützt.
Doch auch wenn dies nicht möglich ist, bestehen wir auf den Erhalt des Gesetzes gegen weibliche Genitalverstümmelung in der jetzigen Form. Denn weibliche Genitalverstümmelung betrifft weit mehr, als den Körper der Mädchen und Frauen:
Weibliche Genitalverstümmelung ist Ausdruck eines frauenfeindlichen Systems
In den TDF-Kooperationsprojekten gegen weibliche Genitalverstümmelung wird auch Bildungsarbeit geleistet. Denn nur so werden Gleichberechtigung und Unversehrtheit für die kommenden Generationen möglich. Foto: © Bangr NoomaDurch das ritualisierte Abschneiden eines Körperteils wird Mädchen schmerzhaft deutlich, dass ihr Körper als unrein und fehlerhaft verstanden wird. Das Entfernen des Lustorgans, nimmt ihrem Körper und ihrer Seele das Recht auf Lust, auf Begehren und auf (Selbst)Befriedigung. Doch diese Restriktion geht weit über den Bereich des Sexuellen hinaus. Das durch die Verstümmelung aufrecht erhaltene Frauenbild findet Eingang in die Erziehung, in die gesellschaftlichen Konventionen, in Sprichworte und in Mythen. Die Botschaft ist allgegenwärtig und sie lautet: Als Mädchen und als Frau bist du nur soviel wert, wie du anderen nützt. Der Nutzen wird in der passiv-verfügbaren Befriedigung des Ehepartners, der aufopferungsvollen Pflege und Erziehung der Kinder, der dankbaren Loyalität zu den Eltern und der sozialkonformen Rollenerfüllung im größeren sozialen Kontext verstanden.
Durch dieses Frauenbild werden Mädchen weltweit in ihrem Potential, ihren Interessen und ihren Ambitionen behindert. Weibliche Genitalverstümmelung ist Ausdruck eines Systems, das auch Bildungslosigkeit, Frühehe, Vielehe und häusliche Gewalt als Norm beinhalten kann. Wenn von der Frau nicht mehr erwartet wird, als das, was sie zu Hause von ihrer Mutter lernen kann – warum sollte man Mädchen zur Schule schicken? Wenn das Mädchen heiraten muss und dies nur jungfräulich geht – warum sollte man riskieren, dass sie sexuell aktiv oder vergewaltigt wird, bevor man sie einem Mann übergibt? Wenn der Frau die Möglichkeit der genussvollen Intimität und Gleichstellung gegenüber ihrem Ehemann abgesprochen wird – warum sollte sie sich nicht die Haushaltspflichten mit Nebenfrauen teilen? Und wenn die Frau gelernt hat, heftigste Schmerzen und Fremdbestimmung klaglos zu ertragen – wie sollte sie vor weiterer (physischer und psychischer) Gewalt geschützt sein?
Rein medizinische Betrachtung ignoriert sozialen Schaden
Dazu kommt der physische Aspekt, dass einige Formen der Genitalverstümmelung lebenslange Schmerzen, ein enormes Geburtsrisiko für Mutter und Kind sowie Probleme bei der Sexualität verursachen und alle Formen der Verstümmelung Infektionsrisiken und Schmerzen beinhalten.
Unter diesen Aspekten wirken Jungenbeschneidung und weibliche Genitalverstümmelung vergleichbar. In beiden Betroffenengruppen gibt es Personen, die ihr Leben lang unter dem Eingriff leiden, die ihre Sexualität beeinträchtigt sehen und bei denen massiver physischer und psychischer Schaden angerichtet wurde. Die individuelle Bewertung dieser Erfahrungen kann nicht gegeneinander abgewogen oder objektiv hierarchisiert werden. Doch die Konsequenzen für die jeweiligen Geschlechtergruppen zeigen qualitative Unterschiede: dass die vollständige Zerstörung des Lustempfindens bei der Jungenbeschneidung ein medizinischer Fehler ist und bei der weiblichen Genitalverstümmelung das erklärte Ziel, dass die Jungenbeschneidung aus religiösen Gründen die Kinder in eine Gemeinschaft aufnimmt und Zugang zu Ressourcen schafft, während bei der religiös motivierten weiblichen Genitalverstümmelung lediglich der Status der „Unreinheit“ reduziert und dadurch die dem Mann untergeordnete Rolle manifestiert wird und dass es keine allgemein verbindliche Definition der sogenannten „milden Formen“ der Genitalverstümmelung gibt, während Jungenbeschneidung recht einheitlich praktiziert wird, sind nur einige der Aspekte.
Somit betont TERRE DES FEMMES, dass das Gesetz gegen weibliche Genitalverstümmelung keinesfalls gelockert werden darf und dass auch nach wie vor alle von der Weltgesundheitsorganisation als weibliche Genitalverstümmelung definierten Eingriffe unter den § 226 a StGB fallen sollen.
Eine gegenteilige Entscheidung würde gerade die stark gefährdete Gruppe der Mädchen ohne deutsche Staatsbürgerschaft ganz legal der Genitalverstümmelung ausliefern und somit auch das Ziel von Prof. Hörnle, Prof. Ringel und Ass. Jur. Meyer verfehlen: Denn schließlich ist der Ursprung des Verbotes der Ungleichbehandlung der Schutz vor körperlichem und seelischem Leid eines jeden Individuums und von unterrepräsentierten Minderheiten. Würde man den Mädchen ihre lange umkämpften Rechte nehmen, verfehlt man den Sinn des Verbots der Ungleichbehandlung und schadet weiterhin den Jungen.