Aus der Reihe: Gespräche mit Teilnehmerinnen am Kooperationsprojekt MIRIAM in Nicaragua
Flor mit einer ihrer Töchter © TERRE DES FEMMES Bei ihrer Besuchsreise nach Nicaragua im September 2022 sprach Birgitta Hahn von TERRE DES FEMMES auch mit Flor (ihr Nachname wird aus Schutzgründen nicht genannt), die bei der TDF-Partnerorganisation MIRIAM rechtliche und psychologische Beratung in Anspruch nimmt. Flor ist 37 Jahre alt und Mutter von vier Kindern.
Als ich Flor treffe, hütet sie im Haus einer Nachbarin das Baby. So sichert sie seit kurzem ihren Lebensunterhalt. Eigenes Geld zu verdienen hatte Flor’s Ehemann ihr bislang verboten Nach der Geburt des zweiten gemeinsamen Kindes fing er an, sie immer häufiger zu beschimpfen, schlecht zu behandeln und ihr unzählige Vorschriften zu machen. Schließlich gipfelte sein immer stärker um sich greifender Kontrollwahn darin, sie und die Kinder im eigenen Haus einzusperren – wortwörtlich mit Brettervorschlägen, die er über den kompletten Eingangsbereich nagelte, in einem einzigen abgedunkelten Raum auf wenigen Quadratmetern, mit viel zu wenig Essen und minimalen Zeitfenstern, zu denen Flor unter seiner „Aufsicht“ Ausgang hatte, um Einkäufe zu erledigen. Die Kinder durften nicht mehr zur Schule gehen, und wenn Flor’s Mann selbst zu Hause war, waren Drohungen, Schläge und andere Brutalität allgegenwärtig. Flor hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte. Ihre eigene Mutter hatte versucht, sie im Alter von fünf Monaten zu töten. Flor’s Bruder war durch die Gewalt der Mutter taubstumm geworden und selbst auf Hilfe angewiesen. Auch zum Vater, der den Kindern vor allem mit Gleichgültigkeit begegnete, hatte Flor keinen Kontakt mehr. Ihre einzige Bezugsperson, die eigene Großmutter, bei der Flor zeitweise aufgewachsen war und die ihr zum ersten Mal Liebe und Zuneigung entgegengebracht hatte, war bereits verstorben. Flor’s Mann hatte ihr untersagt, die Großmutter zu besuchen, als sie im Sterben lag. Auch an der Beerdigung durfte sie nicht teilnehmen.
Das Haus, in dem Flor und ihre vier Kinder eingesperrt wurden © TERRE DES FEMMESNur dank einer aufmerksamen Nachbarin gelang es Flor schließlich, Hilfe zu bekommen. Die Nachbarin wusste von der verbarrikadierten Haustür, brachte Flor gelegentlich Essen vorbei, das sie durch die Bretterluken hindurchschob, und sprach von draußen mit ihr. Letztlich intervenierte ein Priester aus der näheren Umgebung, den die Nachbarin alarmiert hatte. Flor wurde befreit und ihr Partner von der Polizei festgenommen. Schon bei der Festnahme drohte er ihr, sich an ihr zu rächen und sie zu töten, wenn er ins Gefängnis müsse. Da Flor ihren Mann vorher nie angezeigt hatte, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Die Nachbarin vernetzte sie mit MIRIAM – ihre Rettung, sagt Flor heute, denn dort konnte sie endlich erzählen, was ihr widerfahren war, wurde angehört, verstanden, und konnte zum ersten Mal auch selbst richtig nachvollziehen, welcher Gewalt sie und ihre Kinder all die Jahre ausgesetzt waren. Nach mehreren Gesprächen entschied sich Flor dafür, ihren Mann anzuzeigen. MIRIAM begleitete sie auf dem kompletten Rechtsweg und unterstützte sie auch mit psychologischer Beratung. Die Verwandten von Flor’s Mann, vor allem seine Mutter und Schwester, setzten Flor massiv unter Druck, die Anzeige zurückzuziehen. Sie gaben ihr selbst die Schuld für die Gewalttätigkeit des Partners und warfen ihr vor, sein Leben zu ruinieren. Doch Flor blieb standhaft: ihr Mann wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt.
Bei ihrer Besuchsreise konnte Birgitta Hahn von TDF auch mit Flor (ganz links) sprechen © TERRE DES FEMMES Sechs Monate hat er davon schon abgesessen. Flor lebt noch immer im gemeinsamen Haus. Sie weiß nicht, wo sie sonst hingehen könnte; und hat sehr große Angst, dass ihr Mann sie nach der Haft aufspürt und umbringt. Gleichzeitig kann sie endlich einmal durchatmen. Sie sagt, sie fühle sich leicht - so, als ob eine tonnenschwere Last von ihren Schultern gefallen sei. Sie lächelt viel, wirkt entspannt und geht tapfer ihren Zielen nach. Ihre größte Freude ist, dass ihre Kinder wieder zur Schule gehen und dort auch gute Noten schreiben, obwohl sie so viel Stoff verpasst haben. Flor gibt ihnen all die Liebe, die sie so dringend selbst gebraucht hätte. Sie sollen es besser haben als sie selbst, und man sieht, dass Flor das gelingt. Flor’s Mut und Lebenslust beeindrucken mich – trotz der Gewalt, die ihr Leben fast wie ein roter Faden durchzieht, blickt sie nach vorne und steckt voller Energie. Endlich kann sie ihr Leben leben! Sie will bald einen Berufsbildungskurs bei MIRIAM belegen und etwas Eigenes lernen. Bei MIRIAM hat Flor auch viele andere Frauen kennengelernt, die Ähnliches durchgemacht haben wie sie, jetzt aber gewaltfrei und nach eigenen Vorstellungen leben. Wie es ohne MIRIAM wohl weitergegangen wäre? Flor seufzt und blickt zu Boden. Vermutlich hätte sie nicht den Mut gehabt, ihren Mann anzuzeigen. Sie hat in ihrem Leben eigentlich immer allein dagestanden. Endlich, so fügt sie schüchtern hinzu, sei das nicht mehr so.