Ein Jahr nach der Flucht aus Afghanistan: Frauenrechtlicher Workshop mit dem Neswan-Team in Berlin

Zwei Frauen betrachten zusammen ein Bild @ TERRE DES FEMMESVor einem Jahr, am 15. August 2021, blickte die Weltgemeinschaft fassungslos nach Afghanistan: die Taliban kehrten kurz nach dem Rückzug der NATO-Truppen zurück an die Macht. Das Leben der Frauen und Mädchen änderte sich schlagartig, bis heute können sie sich nicht frei bewegen, haben keinen Zugang zu höherer Bildung und dürfen nur sehr begrenzt arbeiten. Rigide Geschlechtertrennung hält wieder Einzug und Frauen haben auch im Gewaltfall keine Möglichkeit mehr, ihre Rechte geltend zu machen. TDF musste damals schnell handeln und das Team des Frauenbildungszentrums in Herat aufgrund der hohen Sicherheitsrisiken außer Landes bringen. Zur großen Erleichterung gelang dies schließlich. Am 5. August 2022 kam das ehemalige Team zu einem ersten frauenrechtlichen Afghanistan-Workshop im Frauenzentrum affidamento in Berlin zusammen.

Das Wiedersehen gab Anlass zu großer Freude, da die 14 Frauen und 2 Männerüber ganz Deutschland verteilt leben und sich seit ihrer Evakuierung aus Afghanistan nicht mehr gesehen hatten. Inhaltlich im Vordergrund standen der Erfahrungsaustausch zu den ersten Aufenthaltsmonaten in Deutschland und die gemeinsame Erarbeitung von Schwerpunkten und der Ausgestaltung zukünftiger frauenrechtlicher Arbeit in Afghanistan.

 

Erfahrungsaustausch zu Deutschland

Beim Erfahrungsaustausch standen die folgenden zwei Fragen im Fokus: (a) Was hättest du vor deiner Ankunft hier gerne über Deutschland gewusst? und (b) Wie nimmst du die Geschlechterrollen in Deutschland wahr und gehst mit ihnen um?

Nicht alle afghanischen KollegInnen konnten mit ihren Familienangehörigen nach Deutschland ausreisen. Vor allem wenn die Familie in Afghanistan bleiben musste oder geblieben ist, wurden große Sorgen um ihre Sicherheit und Zukunft geäußert. Manche Frauen fühlten sich ohne ihre Familien auch sehr allein und schutzlos gerade in schweren Zeiten, wie z.B. bei Krankheit oder Traurigkeit. Immer wieder wurde betont, wie wichtig das schnelle Erlernen der deutschen Sprache sei, und dass es emotionale und mentale Stärke brauche, um sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden und sich eigene Perspektiven zu erschließen. Viele hoben aber auch hervor, dass sie in Deutschland gerade als Frauen viel mehr Möglichkeiten und Entwicklungschancen hätten, Sport in der Öffentlichkeit treiben und auf eine bessere Bildung für ihre Kinder hoffen könnten. Die Geschlechterrollen in Deutschland wurden durchweg positiv wahrgenommen, vor allem, dass es uneingeschränkte Berufs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten für Frauen gebe, Männer Frauen in aller Regel respektvoll begegneten sowie körperliche und persönliche Grenzen achteten, und sich Frauen hier sicher fühlen könnten, auch wenn sie allein unterwegs seien. Auch die gesetzlichen Regelungen zur Elternzeit und Kinderbetreuung wurden wertgeschätzt. Manche Frauen gaben aber auch zu bedenken, dass es für Afghaninnen, die nicht in Deutschland sozialisiert worden seien, durchaus herausfordernd sein könnte, hier ein neues Leben zu beginnen, da ihre Erziehung in Afghanistan oft weniger auf Unabhängigkeit angelegt gewesen sei.

 

Zukünftige Unterstützung von Frauen in Afghanistan

Der zweite Teil des Workshops galt der Entwicklung von Ideen und Empfehlungen für die weitere Unterstützung von Frauen und Mädchen in Afghanistan unter der de facto Taliban-Herrschaft. Zunächst wurden die größten Herausforderungen für Frauen und Mädchen im aktuellen Afghanistan herausgestellt und identifiziert, welche davon das neue Team vor Ort realistisch beeinflussen könne. Letztlich kamen im Worldcafé drei Schwerpunktthemen auf die Agenda: (1) das Arbeitsverbot für Frauen, das nicht nur zu wirtschaftlicher Not bzw. Existenzgefährdung führt, sondern auch zu erneuter Abhängigkeit von männlichen Versorgern; (2) die fehlende Motivation von Frauen und Mädchen mit Blick auf Bildungsangebote und ihre eigene Zukunft; und (3) die zunehmende häusliche Gewalt angesichts der Aussetzung des Rechtsstaates und der humanitären Krise. Ziel war, dem neuen Team konkrete Vorschläge, basierend auf eigener langjähriger Expertise und Erfahrung, mitzugeben, sowie mögliche Beiträge zur Frauenförderung in Afghanistan zu identifizieren. So wurde u.a. eine Erweiterung des Kursangebots für das Frauenbildungszentrum angeregt, z.B. neue Kurse für Berufsperspektiven und wirtschaftliche Unabhängigkeit im aktuellen Kontext, kreatives Schreiben, Umgang mit Stress und Verzweiflung, psychologische Beratung etc. Auch wurde vorgebracht, dass alle Bildungskurse wieder vollständig kostenfrei angeboten werden sollten und nicht mehr gegen eine niedrigschwellige Gebühr, weil sich viele Frauen selbst diese nun nicht mehr leisten könnten. Am Ende der Berufsbildungskurse sollten den Frauen zudem kostenfrei Arbeitsmaterialien zur Verfügung gestellt werden, so dass sie ihr eigenes Geschäft grundlegend aufbauen und erste Einnahmen generieren könnten. An Online-Bildungsangeboten möchte das ehemalige Team des Frauenbildungszentrums gerne selbst mitwirken.

Mit durchweg positivem, teils sehr bewegendem Feedback blickten die Teilnehmenden anschließend auf den Workshop zurück. Ein gemeinsames Abendessen und ein Besuch der Reichstagskuppel am darauffolgenden Tag bildeten das Rahmenprogramm des Workshops.

 

Fazit

Deutlich wurde am 5. August immer wieder: die Arbeit fängt jetzt erst richtig an und Alle müssen mit maximalem Einsatz an einem Strang ziehen – TDF, die evakuierten Mitarbeitenden und das neue Team des Neswan-Frauenbildungszentrums. Es geht um nicht weniger als die Zukunft afghanischer Frauen und Mädchen. Denn nur ein Jahr nach der Machtergreifung der Taliban droht die Lage der Frauen in Afghanistan in Vergessenheit zu geraten. Und sich immer weiter zu verschlechtern. TDF stellt sich dem entgegen und wird Frauen und Mädchen in Afghanistan uneingeschränkt weiter fördern. Der Workshop war ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Unterstützen auch Sie die unverzichtbare Arbeit für die Rechte und Zukunft von Frauen in Afghanistan – jede Spende hilft. Herzlichen Dank!

 

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