Neue Umfrage zu Geschlechterrollen, Diskriminierung und Gewalt an Frauen in Familie und Gesellschaft in Indien

Indien 1966: Indira Gandhi wird eine der ersten weiblichen Premierministerinnen der Welt. Auch heute zeigt ein Blick auf die indische Politik, dass dort etliche einflussreiche Frauen vertreten sind. Umfragen zufolge ist etwa die Hälfte der indischen Bevölkerung davon überzeugt, dass Frauen ebenso gute Arbeit in der politischen Führung des Landes leisten können wie Männer. Wie jedoch sehen die Vorstellungen von Geschlechterrollen in weniger sichtbaren Bereichen aus, etwa innerhalb der Familie? Im Rahmen eines Forschungsprojekts führte das US-amerikanische unabhängige Meinungsforschungsinstitut Pew-Research-Center dazu groß angelegte Umfragen in der indischen Bevölkerung durch und veröffentlichte die Ergebnisse im März 2022.

Patriarchale Familienstrukturen halten sich

Die schlechte Nachricht: patriarchale Vorstellungen sind weiter tief in der Gesellschaft verankert. So sind beispielsweise 64 % der Inder und 61% der Inderinnen der Meinung, dass eine Frau ihrem Ehemann gehorchen sollte, ein etwa gleich großer Anteil sieht Frauen als primär verantwortlich für die Kindererziehung und -betreuung. Gleichzeitig versteht rund die Hälfte der Bevölkerung den Mann als Haupternährer der Familie. Von Bedeutung für die eigene Einstellung zur Rolle von Frauen und Mädchen in der indischen Gesellschaft ist vor allem die religiöse Zugehörigkeit, während Alter und Geschlecht der Befragten weniger Einfluss haben. Regionale Unterschiede fallen ebenfalls ins Gewicht, mit einem - vereinfacht ausgedrückt – traditionelleren Norden und progressiveren Süden.

Artikel Indien Bild 1Patriarchale Geschlechternormen beeinflussen das Leben vieler Frauen in Indien immer noch stark © Pexels

Geschlechtsselektive Abtreibungen von Mädchen gehen leicht zurück

Ein Thema, das in den letzten Jahren verstärkt an Aufmerksamkeit gewonnen hat und seitens der Regierung unterstützt wird, ist die Verbesserung des Status von Töchtern in der Familie, um heranwachsende Generationen von Frauen zu schützen und stärken. Seit Ultraschalluntersuchungen eingeführt wurden und so das Geschlecht pränatal bestimmt werden kann, sind geschlechtsselektive Abtreibungen häufig. Den Umfragen zufolge ist es für einige indische Familien auch heute noch wichtiger, mindestens einen Sohn zu haben als eine Tochter. Söhne übernehmen, dem Verständnis der meisten InderInnen nach, die Verantwortung für die eigenen Eltern im Alter zu sorgen, während Frauen, häufig nach Zahlung einer Mitgift, die zwar illegal ist, aber weiter gängig, in die Familie des Ehepartners eingebunden werden. Abtreibungen sind in Indien bereits seit den 1970er Jahren legal, pränatale geschlechtsbestimmende Untersuchungen jedoch nicht. Trotzdem sehen knapp die Hälfte der InderInnen geschlechtsspezifische Abtreibungen als akzeptabel an, wobei auffällt, dass der Großteil der BefürworterInnen in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Die Folge dieser weiblichen Foetizide ist eine Verzerrung des Geschlechterverhältnisses bei der Geburt, welches in den letzten Jahren zugenommen hatte. Aktuelle Zahlen deuten nun aber darauf hin, dass sich diese Lücke langsam wieder anzugleichen beginnt, was als ein Rückgang geschlechtsselektiver Abtreibungen zu bewerten ist.

Artikel Indien Bild 2Die Präferenz von Söhnen führt auch zu geschlechtsselektiven Abtreibungen und einer Verzerrung des Geschlechterverhältnisses © Pexels

Gewalt an Frauen wird sichtbarer und Einstellungen wandeln sich

Immerhin wird Gewalt gegenüber Frauen von 75 % der Befragten als ein sehr großes Problem in der indischen Gesellschaft wahrgenommen. Auch lässt sich beobachten, dass sich Verständnisse von Geschlechternormen in den letzten Jahren zunehmend verändert haben und sich vor allem von traditionell-konservativen Vorstellungen entfernen. So stiegen die polizeilich registrierten Fälle von Gewalt gegen Frauen in der jüngeren Vergangenheit deutlich an und Meldungen über Morde und Vergewaltigungen an Frauen führten zu landesweiten Protestaktionen.

Fazit

Im globalen Vergleich zeigt sich zwar deutlich, dass die Geschlechtsdynamiken in indischen Privathaushalten nach wie vor sehr konservativ sind; wenngleich 70 % der indischen Bevölkerung grundlegend der Meinung sind, dass Frauen die gleichen Rechte haben sollten wie Männer, was dem globalen Mittelwert entspricht (zum Vergleich: in Deutschland sind 90 % dieser Meinung). Dennoch lässt sich aus den Ergebnissen des Pew Research Center eine vorsichtig positive Bilanz ziehen: die Studie zeigt, dass die Diskriminierung von Frauen in Indien an gesellschaftlicher Sichtbarkeit zunimmt und ein Normenwandel stattfindet, der hoffnungsvoll in die Zukunft blicken lässt.

Unterstützen Sie unsere Partnerorganisation BHUMIKA Women’s Collective in Indien, die Einstellungen zu den Rechten, dem Stellenwert und möglichen Rollen von Frauen in der indischen Gesellschaft weiter positiv zu verändern. BHUMIKA setzt sich für gesellschaftliche Aufklärung und umfassenden Gewaltschutz ein. Wir freuen uns über jede Spende!

Stand: 03/2022