Ein halbes Jahr Taliban-Herrschaft: die erschreckende Bilanz der Folgen für afghanische Frauen

Schon ein halbes Jahr ist es nun her, dass die Taliban im August 2021 erneut die Regierungsmacht in Afghanistan an sich rissen. Die Entwicklungen seitdem haben die schlimmsten Befürchtungen afghanischer und internationaler FrauenrechtlerInnen bestätigt: Trotz gegenteiliger Versprechungen des Taliban-Regimes sehen sich afghanische Mädchen und Frauen mit massiven Beschneidungen ihrer Rechte und brutaler Repression konfrontiert. Alle Fortschritte, die in den vergangenen 20 Jahren mühsam erkämpft wurden, drohen zunichte gemacht zu werden.

Ausschluss von Arbeit, Bildung und aus dem öffentlichen Leben

Überall im Land haben Frauen ihre Arbeit verloren – viele von ihnen waren die einzigen Brotverdienerinnen in ihren Familien und stehen nun am Rande ihrer Existenz. Nur in wenigen Bereichen, etwa dem Gesundheitssektor, dürfen Frauen weiterhin arbeiten. Auch die Bildungssituation ist fatal: In 27 von Afghanistans 34 Provinzen sind die weiterführenden Schulen für Mädchen nach wie vor geschlossen. Die Schülerinnen sind verzweifelt – all ihre Zukunftspläne scheinen sich in Luft aufzulösen, es ist schwer, die Hoffnung zu bewahren. Die Grundschulen sind zwar weiter für Mädchen geöffnet, haben aber dennoch einen erheblichen Rückgang an Schülerinnen zu verzeichnen, weil Sicherheitsbedenken, wachsende Armut und die fehlende Perspektive auf weiterführende Bildung viele Familien davon abhalten, ihre jungen Töchter zur Schule zu schicken. Lehrkräfte werden seit Monaten nicht bezahlt, und die Qualität der Bildung leidet massiv darunter. Anfang Februar haben einige Universitäten – unter strikter Geschlechtertrennung – den Betrieb wieder aufgenommen, doch nur wenige Studentinnen besuchten die Vorlesungen, und die Angst vor einer erneuten Schließung bleibt groß.

Women waiting Herat Afghanistan WIKIMEDIASeit der Machtergreifung der Taliban werden die Rechte afghanischer Mädchen und Frauen immer stärker eingeschränkt © WikimediaDas Taliban-Regime schließt Frauen systematisch aus dem öffentlichen Leben aus und schränkt ihre Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit immer weiter ein. Ohne Begleitung eines männlichen Verwandten dürfen Frauen nicht weiter als 72 Kilometer reisen. Für kürzere Entfernungen und alltägliche Aktivitäten wie Einkäufe ist eine männliche Begleitung laut der offiziellen Linie des Regimes zwar nicht erforderlich, in der Praxis wird dies jedoch von vielen lokalen Taliban-Vertretern eingefordert. Ähnlich sieht es mit den neuen Kleidervorschriften für Frauen aus: auch wenn formal keine Burka-Pflicht für den öffentlichen Raum ausgesprochen wurde, sehen sich viele Frauen zur Vollverschleierung gezwungen, um nicht von den Taliban drangsaliert zu werden. Die unklaren Vorschriften schaffen eine Atmosphäre der Angst und beeinträchtigen afghanische Frauen de facto in allen Lebensbereichen.

Archaische Strafen, keine Hilfe für Gewaltbetroffene und Repression von FrauenrechtlerInnen

Im Jahr 2020 machten Frauen immerhin 27 Prozent der Abgeordneten des afghanischen Parlaments aus – in der neuen Regierung der Taliban ist dagegen keine einzige Frau vertreten. Ob Frauen wenigstens in grundlegender Form, zum Beispiel durch das aktive Wahlrecht, am politischen Leben beteiligt sein werden, bleibt ungewiss. Alle bisherigen Schritte der Taliban weisen in die entgegengesetzte Richtung: als eine der ersten Amtshandlungen schafften sie das Frauenministerium ab und ersetzten es durch das wiedereingeführte Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhinderung des Lasters – eine Institution, welche die von den Taliban propagierte radikale Auslegung der Scharia bereits während der ersten Taliban-Herrschaft mithilfe drakonischer Strafen durchsetzte, vom Abhacken der Hände im Fall von Diebstahl bis hin zur Steinigung von vermeintlichen EhebrecherInnen. Auch diesmal gibt es bereits Berichte über die Anordnung archaischer und brutaler Bestrafungen durch lokale Taliban-Kommandeure, wie die Steinigung eines unverheirateten Paares aufgrund ihrer außerehelichen Liebesbeziehung.

Bereits vor der Machtübernahme der Taliban war die Gewaltrate gegen Frauen in Afghanistan extrem hoch, bis zu 87 Prozent der afghanischen Mädchen und Frauen haben in ihrem Leben Gewalt erfahren. Mit der Machtergreifung des Taliban-Regimes sind die ohnehin unzureichenden Hilfsangebote für von häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffene Frauen noch weiter eingeschränkt worden, viele Einrichtungen, die Frauen im Gewaltfall bislang Zuflucht und Unterstützung gewährt haben, werden von den Taliban bedroht oder gezwungen, ihre Dienste einzustellen. Hinzu kommt die zunehmende Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Frauen in den eigenen vier Wänden einsperrt und damit oft unmittelbar den Tatpersonen ausliefert.

Foto Demo41Der Gefahr zum Trotz: Mutige Afghaninnen fordern öffentlich ihre Rechte ein © Family Support & Welfare OrganizationIn besonders großer Gefahr schweben diejenigen, die sich in der Vergangenheit für Frauenrechte engagiert und öffentlich die Stimme für sich und andere Frauen erhoben haben, und nun die brutale Verfolgung durch die Taliban fürchten. Eine Vielzahl von Aktivistinnen musste außer Landes fliehen, andere halten sich innerhalb Afghanistans versteckt. Immer wieder bringen mutige Demonstrantinnen ihre Wut und Verzweiflung über die untragbaren Zustände auch auf der Straße zum Ausdruck – doch das Risiko ist enorm, die Reaktion des Taliban-Regimes brutal. Friedliche Kundgebungen werden gewaltsam niedergeschlagen, AktivistInnen und JournalistInnen verprügelt und verhaftet. Erst Mitte Januar wurden zwei Frauen, die kurz davor an mehreren Protesten in Kabul teilgenommen hatten, aus ihren Wohnungen verschleppt, ihr Aufenthaltsort ist bis heute unbekannt.

Humanitäre Krise bringt noch mehr Leid

Die dramatische humanitäre Krise verschärft die Lage für Mädchen und Frauen noch weiter. Armut und Hunger sind allgegenwärtig, Millionen AfghanInnen stehen am Rande der Existenz und wissen nicht, wie sie sich und ihre Familien weiter ernähren sollen. Viele wissen sich nicht anders zu helfen, als ihre Töchter – oft noch im Grundschulalter – in die Ehe zu verkaufen. Auch die ohnehin defizitäre Gesundheitsversorgung ist noch weiter eingebrochen. Frauen mit komplexeren Gesundheitsbedürfnissen, wie z. B. schwangere Frauen, haben oft große Probleme, die benötigte Unterstützung zu erhalten – auch deshalb, weil die Taliban männlichen Ärzten nicht gestatten, Frauen zu behandeln.

Die repressive Taliban-Herrschaft in Verbindung mit der gravierenden humanitären Krise zeichnet ein sehr düsteres Bild für die Frauen Afghanistans. Umso wichtiger ist es, sie in dieser schwierigen Zeit nicht allein zu lassen! TERRE DES FEMMES steht fest an der Seite der afghanischen Mädchen und Frauen und wird sie auch zukünftig in ihrem mutigen Kampf für ihre Rechte unterstützen – helfen auch Sie mit einer Spende mit!