Afghanistan: „Frauen hatten in den letzten 20 Jahren viele Möglichkeiten, sich ihrer Rechte bewusst zu werden“

Interview mit Sima Samar

Sima Samar war die erste Ministerin für Frauenangelegenheiten in Afghanistan. Sie begann ihre Arbeit vor 20 Jahren ohne Budget, Personal und Ministeriumsgebäude. Sie stellte ihren Stuhl und Schreibtisch in ein Privathaus, es herrschte eine große Aufbruchsstimmung. Heute macht sich Sima Samar große Sorgen um ihr Land – doch die Arbeit war für sie nicht umsonst.

Können Sie sich noch an die damalige Anfangszeit voller Hoffnung erinnern? 

Ja, im Dezember 2001 wurde ich in das Frauenministerium berufen. Mit viel Hoffnung auf eine bessere Zukunft und trotz vieler Hindernisse und finanzieller Probleme konnte ich das Ministerium aufbauen. Allerdings ist ein Frauenministerium allein nicht in der Lage, alle Probleme der Frauen in meinem Land oder in anderen Ländern zu lösen. Dennoch habe ich viel Zeit und Energie investiert, um die Einbeziehung der Frauen als Hälfte der Gesellschaft in allen Lebensbereichen voranzutreiben. Kein Land kann wohlhabend und demokratisch sein, wenn nicht die gesamte Bevölkerung eines Landes in die Entscheidungen über das tägliche Leben eines jeden Menschen einbezogen wird.

Ich konnte dazu beitragen, die Frauen zu ermutigen, in der Gesellschaft sichtbar zu werden und ihr Selbstbewusstsein als gleichberechtigte Bürgerinnen zu stärken. Wir Frauen haben außerdem gezeigt, dass wir in der Lage sind, Institutionen zu leiten. Und als Vorsitzende der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans habe ich dafür gekämpft, dass Frauen in alle sozioökonomischen, kulturellen und politischen Fragen des Landes einbezogen werden. In den letzten 20 Jahren hatten Frauen viele Möglichkeiten, sich ihrer Rechte bewusst zu werden.

Was geht Ihnen heute durch den Kopf, wenn Sie sehen, dass die Taliban das Frauenministerium in ein Tugend-Ministerium verwandelt haben?

Es tut mir im Herzen weh, wenn ich sehe, dass die Taliban die Tatsachen leugnen. Ihr Leugnen ändert nichts an der Realität: Es gibt Frauen, und kein Land der Welt kann Wohlstand und Entwicklung ohne die Beteiligung von Frauen erreichen. Wenn man eine Nation wirklich zerstören will, reduziert man die Bedeutung der Frauen für das Fortbestehen der Menschheit und der Menschlichkeit.

Die Diskriminierung beginnt zum Beispiel schon, wenn man die Bedeutung der Frau in der Familie vernachlässigt. Es verstößt gegen die Menschenrechte und die Menschenwürde, wenn ein Teil der Familie dem anderen überlegen sein soll. Ein Junge in der Familie, der von einem Menschen geboren wird, der ihm unterlegen ist, fördert das Patriarchat in der Familie, im Haus und außerhalb des Hauses.

Welches sind im Moment die größten Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen in Afghanistan?

Die Rechte, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert sind, sind miteinander verbunden und grundlegend. Sie haben direkte Auswirkung auf andere Rechte. So darf beispielsweise das Recht auf gute Bildung niemandem verweigert werden. Ich bin Muslima, und die erste Botschaft an den Propheten – Friede sei mit ihm – im Koran lautet „Iqra“, das bedeutet „Lies“. Es sollte keine Ausflüchte geben, um uns Frauen diese Rechte zu verweigern.

Als Medizinerin bin ich zudem über die Gesundheitssituation im Lande sehr besorgt, insbesondere über die reproduktive Gesundheit der Frauen. Die Sterblichkeit von Müttern und Kindern im Land könnte wieder zunehmen. Auch die Unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistans wurde von den Taliban abgeschafft.

Viele Menschen in Europa fragen sich, wie sie afghanischen Familien, Frauen und Kindern helfen können.

Afghanistan ist auf die Spenden der Menschen und Länder angewiesen. Um schlimmere humanitäre Katastrophen in Afghanistan zu vermeiden, sind wir alle in der Pflicht, Menschen in Not zu unterstützen.

Die Fragen stellte Sylvia Rizvi.

 

Ärztin und Menschenrechtlerin

Dr. Sima Samar war in Afghanistan von Ende 2001 bis Juni 2002 unter Präsident Hamid Karzai die erste Frauenministerin des Landes und eine von fünf VizepräsidentInnen. Die afghanische Ärztin, geb. 1957, gründete die Gesundheits- und Bildungsorganisation Shuhada mit Hilfsprogrammen für Frauen und Mädchen. Samar war von 2002 bis 2019 Vorsitzende der Unabhängigen Menschenrechtskommission, ein in Afghanistan hochgefährliches Engagement. 2012 erhielt sie den Right Livelihood Award („Alternativer Nobelpreis“). Sima Samar hielt sich bei der Übernahme des Landes durch die Taliban im August 2021 zufällig in den USA auf. Dort ist sie aus Sicherheitsgründen geblieben.

 

Setzen Sie sich gemeinsam mit uns für die Rechte und Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen in und aus Afghanistan ein! Jede Spende macht einen Unterschied. Vielen Dank!