Interview mit Godula Kosack – Vorstands-Vorsitzende von TERRE DES FEMMES, Soziologin, Initiatorin und langjährige ehrenamtliche Projektkoordinatorin des Projekts „Selbstbestimmung durch Bildung“ in Nordkamerun
Stolze Stipendiatinnen aus M'lay, Huva und Ldama © TDFDer Verein „Association d’Appui aux Filles de M’lay, Huva et Ldama“ - Verein zur Unterstützung von Mädchen aus M’lay, Huva und Ldama (AAFMHL) - fördert Mädchen aus drei Bergdörfern im „Mandara-Gebirge“ mithilfe von Stipendien. LehrerInnen, Eltern und EinwohnerInnen entscheiden je nach Bedürftigkeit und Leistung über die Vergabe. Die Stipendiatinnen werden von der Grundschule bis zum Abschluss einer Ausbildung oder eines Studiums gefördert.
TERRE DES FEMMES (TDF) - Referat für Internationale Zusammenarbeit (IZ): Godula, du begleitest das Projekt seit 2012 und hast die Fortschritte vor Ort miterlebt. Ab dem Jahr 1981 warst du immer wieder für längere Forschungsaufenthalte in Nordkamerun. Inwiefern konnte unsere Partnerorganisation AAFMHL im Laufe des Projektzeitraums die Bildungssituation der Mädchen verbessern?
Godula Kosack zu Besuch bei Berufsschülerinnen im Mandara-Gebirge © Jürgen KunzeGodula: Vor Projektbeginn gab es kein einziges Mädchen in diesen Dörfern, das Abitur machen konnte. Nur einige wenige besuchten die Grundschule und sehr selten ging ein Mädchen zur Sekundarschule. Die Schule kostet die Eltern Gebühren und Schulmaterialien. Außerdem fehlt ihnen die Arbeitskraft der Töchter auf den Feldern. Ein Schulbesuch war in dieser streng patriarchalen Gesellschaft also, wenn überhaupt, nur für Jungen gedacht. Dies hat sich mittlerweile wesentlich verbessert: der Prozentsatz von Mädchen an Schulen ist deutlich gestiegen. An Grundschulen lernen nahezu 50 Prozent Mädchen und in Sekundarschulen 10 bis 20 Prozent. Es gibt bereits vier Stipendiatinnen , die die Universität besuchen. TDF fördert 12 Mädchen an einer Berufsfachschule. Folgender Effekt hat stattgefunden: Die Bevölkerung weiß jetzt - Mädchen können was. Vorher galt, dass Frauen nur Kinder kriegen und Haus- und Feldarbeit verrichten können. Jetzt ist offensichtlich: Mädchen können alles, was Jungen können - auch intellektuell! Es ist eine enorme Veränderung im Frauenbild eingetreten. Darüber hinaus sind Familienmitglieder stolz, wenn ein Mädchen die höhere Schule besucht. Dieses Umdenken ist ein großartiges Projektergebnis.
TDF - Referat IZ: Inwiefern sind die Stipendiatinnen ein Leitbild für andere Mädchen und Frauen vor Ort?
Stipendiatinnen mit ihren Englisch-Büchern kurz vor dem Unterricht © AAFMHLGodula: Ein weiteres Projektergebnis ist, dass Mädchen von einem eigenen Bildungsweg und einer Berufstätigkeit träumen können. Am Anfang habe ich Gespräche mit den geförderten Mädchen geführt und sie gefragt, was sie denn später einmal werden wollen. Da fiel ihnen erst gar nichts ein, weil sie auch nur Frauen als Mütter und Bäuerinnen kannten. Sie hatten keine Vorstellung, was sie als Frau einmal erreichen könnten. Als ich dann fragte, ob sie vielleicht von etwas träumen, antwortete ein Mädchen: „Ich möchte Pilotin werden.“ Sie war noch nie in einem Flughafengebäude gewesen, aber sie sah Flugzeuge über ihr Land hinweg fliegen – ihre Wünsche sind also einfach in den Himmel gestiegen. Das Projekt erlaubt Mädchen Vorstellungen bezüglich ihres eigenen Lebens abseits der vorgegebenen Frauenrolle der Gesellschaft zu entwickeln. Und das färbt auch auf andere Mädchen ab.
TDF - Referat IZ: Konnten einige der Eltern, die ihre Töchter trotz nicht beendeter Schullaufbahn zwangsverheiraten wollten, durch AAFMHL vom Gegenteil überzeugt werden?
Frauen feiern die erste Abiturientin aus ihrem Dorf – eine TDF-Stipendiatin © TDFGodula: In Kamerun gilt eine gesetzliche Ehemündigkeit von 18 Jahren. Dennoch konnte früher ein Vater frei über seine Tochter verfügen. Jetzt schreiten die VertreterInnen des Vereins ein, wenn ein Vater oder Onkel plant, ein von dem Projekt unterstütztes Mädchen zu verheiraten. Ich kenne aktuell keine Einzelfälle, aber ich weiß, dass die Heirat von Minderjährigen heute gesellschaftlich weniger akzeptiert wird. Wenn Mädchen gegen ihren Willen verheiratet werden sollen, haben sie den Verein hinter sich, Den Eltern wird mit einer Anzeige gedroht. Es ist mittlerweile verpönt, eine Schülerin zu verheiraten. Allerdings brechen manche Mädchen dennoch die Schule vorzeitig ab, um zu heiraten. Warum? Sie leben in großer Armut, und wenn dann ein Bewerber kommt, der schöne Geschenke und Versprechungen macht, stellen sie sich vor, dass das Eheleben einfacher ist als die mühsame Schularbeit. Die Stipendiatinnen bekommen nämlich nur das Schulgeld, die Schulmaterialien und Schulkleidung. Die Dinge des täglichen Bedarfes sind nicht abgedeckt. Wenn ein Mädchen in großer Armut lebt, sind solche Versprechungen natürlich verlockend.
Zusätzlich üben die Väter häufig Druck aus, weil sie einen Brautpreis bekommen, den sich die Bewerber sauer in den Städten verdienen müssen. Allerdings merken die jungen Frauen bald, wie hart das Eheleben bei den Mafa ist. Deshalb hat die eine oder andere ihre Entscheidung schon bereut und gesagt: „Ach, wäre ich doch weiter zur Schule gegangen!“ Es gibt also Mädchen, die vermeintlich aus freien Stücken früh heiraten. Sie sind dann aber ein Art Negativbild für die anderen Mädchen, die mitbekommen, dass mit der Heirat ihr Leben nicht einfacher wird .
TDF - Referat IZ: Was sind die größten Herausforderungen unserer Partnerorganisation?
Godula: Endlich abends Hausaufgaben machen können - eine Solarlampe macht das für Stipendiatin Monique möglich © AAFMHLDie generelle dörfliche Struktur ist eine große Herausforderung: in den Dörfern gibt es keinen Strom. Deshalb haben wir in diesem Jahr die Initiative „Spendet Licht!“ gestartet und zwei wirklich sehr sinnvolle Sendungen in Auftrag gegeben: 100 Mädchen haben Solarlampen bekommen, die ihnen ermöglichen, abends nach der Haus- und Feldarbeit noch lernen zu können. Denn nicht einmal über eine Petroleumlampe verfügt jeder Haushalt. Das ist eine immense Erleichterung für ihre schulische Arbeit. Erst abends haben sie Zeit dafür, aber eben kein Licht. Zum anderen haben wir sechs „Turbo-Charger“ nach Kamerun gesendet; also eine Solaranlage für jede am Projekt beteiligte Schule und für die Gesundheitsstation. So sind die Räumlichkeiten der Schulen auch abends benutzbar, zum Beispiel für Erwachsenenbildung oder für Meetings.
Klimawandel ist ein weiteres großes Problem. Subsistenzwirtschaft ist immer prekär. Wenn der Regen nicht zum richtigen Zeitpunkt fällt, vertrocknet die Saat, und wenn nicht genug geerntet werden kann, hungern die Menschen. Der Klimawandel hat die Herausforderung, den richtigen Zeitpunkt der Saat vorauszusehen, verkompliziert. Aufgrund des unregelmäßigen Wetters können nun nicht einmal die erfahrensten Menschen mehr den Zeitpunkt der Aussaat zuverlässig richtig wählen.
Wasser ist auch eine große Herausforderung: In der viermonatigen Regenzeit fällt es heftig und verursacht Erosion und Überschwemmungen. Das Wasser fließt viel zu schnell ab. Die Deutsch-Afrikanische Gesellschaft, die ebenfalls die Mädchenbildung vor Ort fördert, unterstützt deshalb den Bau von Überlaufdämmen, die die Abflussgeschwindigkeit reduzieren, so dass mehr Wasser versickern kann und die Brunnen länger im Jahr Wasser haben.
TDF - Referat IZ: Die Zusammenarbeit mit unserer Partnerorganisation endet 2021. Wie werden die Mädchen weiterhin unterstützt? Wie wird die Partnerorganisation zukünftig weiterarbeiten?
Zum Dank für ihr Engagement für Mädchenbildung erhält Godula von der Elterninitiative in Kamerun zwei Hühner © Jürgen KunzeGodula: 2011 wurde das Projekt von der Deutsch-Afrikanischen Gesellschaft (DAFRIG) initiiert und seitdem mitbetreut. So wird das auch in Zukunft weiterlaufen. Die DAFRIG finanziert sich ausschließlich auf Spendenbasis, die zu fast 100 Prozent bei den Menschen ankommen, für die sie bestimmt sind. Seit 1985 habe ich eine enge Verbindung zu der Region, mit einem ganz großen Vertrauensverhältnis zu den Menschen. Wir haben zusammen mit der DAFRIG auch schon andere Projekte durchgeführt, wie zum Beispiel ein Corona-Präventionsprojekt. Die Zusammenarbeit hat immer optimal funktioniert. Aufgrund dieser Loyalität zwischen Projektpartnern hat auch das Mädchenbildungsprojekt Zukunft.
Ich möchte den SpenderInnen noch mitgeben, dass es viele Projekte gibt, die Schulen bzw. Schulbesuche in Afrika fördern. Schön und gut, aber was passiert, wenn die Schullaufbahn der Kinder zu Ende geht? Ich habe noch von keinem Projekt gehört, das über die Schulzeit hinaus fördert, obwohl es an dem Punkt erst interessant wird. Wenn die Mädchen einen Schulabschluss haben, müssen sie unbedingt eine Ausbildung machen. In diesen streng-patriarchalen Gesellschaften besitzen die Frauen kein Land, auf das sie eine selbständige Existenz aufbauen könnten. Die Ehe ist die einzig vorgesehene Lebensperspektive für eine Frau. Mit vollem Eifer dabei – TDF-Stipendiatinnen in der Schule © AAFMHLUm ein eigenständiges Leben zu führen, müssen sie Geld verdienen können. Aber dazu gehört eine Ausbildung. Und die müssen wir ermöglichen, sei es in Form eines Studiums oder einer Berufsausbildung. Allerdings haben die Ausgaben für ein Studium oder eine Berufsausbildung eine ganz andere Größenordnung als eine Schulausbildung. Da kommen die Lebenshaltungskosten in der Stadt und die Studiengebühren hinzu. Ein Schulbesuch kann per Patenschaft mit ein paar hundert Euro im Jahr gefördert werden, ein Studium geht in die Tausende. Trotzdem muss eine Ausbildung gewährleistet sein, wenn wir die Mädchen nicht im Stich lassen wollen. Ansonsten würde ich ein solches Bildungsprojekt weder fördern noch koordinieren wollen. Ich will auch anmerken: Die Loyalität der Stipendiatinnen ist groß; sie sind sämtlich entschlossen, nach ihrer Ausbildung in ihre Herkunftsdörfer zurückzukehren und als berufstätige Frauen der Gemeinschaft etwas zurückzugeben.