Vizepräsidentin und Ehefrau Rosario Murillo gemeinsam mit Präsident Daniel Ortega (2017), Bildrecht (CC): Wikimedia CommensAm 7. November wird in Nicaragua ein neuer Präsident oder eine Präsidentin gewählt – eine freie und demokratische Wahl wird es allerdings nicht geben. Der sandinistische Präsident Daniel Ortega, der zusammen mit seiner Ehefrau, Vizepräsidentin Rosario Murillo, in dritter Amtszeit regiert, geht hart gegen KritikerInnen und GegenkandidatInnen vor. Schon über 30 potentielle HerausforderInnen befinden sich in Haft, darunter viele ehemalige MitstreiterInnen von Ortega. Im Verlauf seiner Amtszeiten haben sich die Bedingungen für Frauen gerade in Bezug auf häusliche und sexualisierte Gewalt verschlechtert, statt verbessert. Viele der frauenrechtlichen Errungenschaften wurden v.a. 2006 und 2013 wieder rückgängig gemacht – u.a. zur Sicherung der Unterstützung Ortegas durch die katholische Kirche und konservative Kader.
- Entstehung der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront
Die linke Partei Sandinistische Nationale Befreiungsfront (span. Frente Sandinista de Liberación Nacional bzw. FSLN) ist aus der gleichnamigen Guerillabewegung hervorgegangen, die in den 1970er Jahren Guerillakrieg gegen den von den USA gestützten Diktator Anastasio Somoza Debayle führte. Am 19. Juli 1979 stürzte die FSLN die Somoza-Dynastie nach 43 Jahren Herrschaft. Die darauffolgende erste demokratisch gewählte Regierung mit Ortega als Präsident symbolisierte in der internationalen Linken eine hoffnungsvolle sozialistische Bewegung, die die Armut im Land drastisch reduzierte, die Alphabetisierung weiter Bevölkerungsteile erwirkte und eine grundlegende Gesundheitsversorgung aufbaute. Nachdem die sandinistische Regierung in den 1980er Jahren durch den von der USA unterstützten Contra-Krieg geschwächt war, wurde sie 1990 von der antisandinistischen Präsidentschaftskandidatin Violeta Barrios de Chamorro geschlagen.
- Pakt mit der Kirche auf Kosten der Frauen
16 Jahre später, 2006, wurde Ortega nach mehreren Wahlniederlagen erneut zum Präsidenten gewählt. Um eine Wiederwahl zu erreichen, paktierte er mit der katholischen Kirche. In seiner Fraktion setzte er die Unterstützung eines Totalverbots von Schwangerschaftsabbrüchen, selbst nach einer Vergewaltigung oder bei Gefahr für das Leben der Frau, durch – ein herber Rückschlag für Mädchen- und Frauenrechte, der ihm jedoch die Stimmen der Kirche und der Konservativen sicherte. So war es kein Zufall, dass sich Murillo und Ortega erst kurz vor der Wahl von dem einflussreichen Erzbischof von Managua trauen ließen, obwohl sie schon lange vorher ein Paar waren und eine Familie gegründet hatten. Nun könnte Ortega bald seine vierte Amtszeit in Folge antreten, da er im Jahr 2020 das verfassungsrechtlich verankerte Verbot einer erneuten Wiederwahl von dem ihm hörigen Verfassungsgericht aushebeln ließ.
- Repression von Opposition und Menschenrechtsarbeit
Schon im April 2018 protestierten große Bevölkerungsteile gegen den zunehmenden Autoritarismus des Familienclans Ortega, was zu 300 Toten, Hunderten Festnahmen und der Flucht von Tausenden ins Exil führte. Seit Juni 2021 verhaftet die sandinistische Regierung politische GegenkandidatInnen und schließt konkurrierende Parteien wie die Oppositionspartei „Allianz BürgerInnen für die Freiheit" (span. Alianza Ciudadanos por la Libertad bzw. CXL) von der Wahlteilnahme aus, um den eigenen Sieg zu sichern. Das „Gesetz zur Verteidigung der Rechte des Volkes auf Unabhängigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung für den Frieden“ stellt meist die gesetzliche Grundlage der Verhaftungen dar. Frühere MitstreiterInnen von Ortega wie Hugo Torres oder Dora María Téllez, die in den 1970er Jahren gemeinsam mit ihm im Kampf gegen Somoza ihr Leben riskierten, sind nun erneut mit Autoritarismus konfrontiert – aus den eigenen Reihen.
„Bewegung der Mütter des Aprils. Keine weiteren Morde! Keine weiteren Massaker! Wir fordern Gerechtigkeit!“, Banner bei einem Protestmarsch gegen die Regierung Ortega im April 2018. Bildrecht (CC): Wikimedia Commens
In einem 2021 erschienen Bericht belegt Amnesty International, dass die Ortega-Regierung das Verschwindenlassen von KritikerInnen zunehmend als Repressionstaktik einsetzt. In mehreren Fällen haben Behörden den Aufenthaltsort inhaftierter DemonstrantInnen oder AktivistInnen gegenüber Angehörigen verschwiegen.
- Unterdrückung qua Gesetz
Die Repression gegen die politische Opposition und Zivilgesellschaft, insbesondere gegen Menschenrechtsorganisationen, wird seit 2018 zunehmend gesetzlich verankert. Das im Oktober 2020 in Kraft getretene „Gesetz zur Regulierung ausländischer AgentInnen“ (Ley 1040) betrifft Organisationen, die z.B. im Rahmen internationaler Entwicklungszusammenarbeit finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, und verpflichtet sie, sich in einem Zeitraum von 60 Tagen als „ausländische AgentInnen“ zu registrieren. Scheitern sie an den hohen bürokratischen Hürden, müssen sie Strafzahlungen oder sogar eine Konfiszierung ihrer Rechtspersönlichkeit und ihres Eigentums befürchten. Eine Nichtanerkennung muss die Regierung nicht an vorab feststehenden Kriterien festmachen. Das Gesetz soll vorgeblich Einmischung aus dem Ausland und Destabilisierung verhindern, dient jedoch primär der Verdrängung kritischer zivilgesellschaftlicher Stimmen aus der Öffentlichkeit.
Auf der Grundlage eines Gesetzes gegen Terrorakte und Geldwäsche (Ley 977) können auch MitarbeiterInnen von (Menschenrechts-)Organisationen und Einzelpersonen wie beispielsweise JournalistInnen inhaftiert werden. Ähnlich funktioniert das neue Gesetz zur Verhinderung der Cyberkriminalität (Ley 1042) und die Reform an Artikel 37 der nicaraguanischen Verfassung, die lebenslange Haftstrafen für sogenannte Hassverbrechen ermöglichen. Dies ist insbesondere für frauenrechtliche Organisationen fatal, die im Zuge der breiten Protestwelle gegen die Regierung Ortega im April 2018 wiederholt öffentlich als „Putschistinnen“ und „Terroristinnen“ verunglimpft wurden. Frauenrechtsaktivistinnen berichten landesweit von zunehmender Einschüchterungspolitik, Arbeitseinschränkungen, rechtlicher Verfolgung und Diskreditierungen in den Medien.
- Gewalt gegen Mädchen und Frauen
In Nicaragua wurden offiziellen Polizeistatistiken zufolge 63 (2019) bzw. 69 (2020) Mädchen und Frauen aufgrund ihres Geschlechts von ihrem (Ex-)Partner getötet. Im internationalen Vergleich erscheinen diese Zahlen relativ niedrig – in Deutschland wurden etwa 2019 nach Angaben des BKA 301 Frauen durch Paargewalt getötet. In Argentinien, dem Land, in dem die „Ni una menos“-Bewegung (dt. „Nicht Eine Weniger“) gegen Femizide entstand, fielen 251 Frauen 2020 einer gewaltsamen Tötung aufgrund ihres Geschlechts zum Opfer. In Nicaragua wurde der Straftatbestand „femicidio“ (dt. Femizid) in seiner Definition mittlerweile jedoch auf die Tötungen von Frauen in Partnerschaften begrenzt – entgegen der damals im Gesetz 779 enthaltenen, umfassenden Definition, die alle Tötungen von Frauen aus geschlechtsspezifischen bzw. misogynen Gründen umfasste. ExpertInnen gehen von einer deutlich höheren Dunkelziffer bei dieser extremen Form von Gewalt an Mädchen und Frauen aus.
„Ni una menos“-Demonstration gegen Femizide in Managua (2017). Bildrecht: TERRE DES FEMMES
Das Problem der häuslichen und sexualisierten Gewalt gegen Frauen zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten in Nicaragua, auch wenn Haushalte mit niedrigeren Einkommen überdurchschnittlich betroffen sind. UN Women zufolge sind 23 Prozent aller nicaraguanischen Frauen zwischen 15 und 49 Jahren mindestens einmal in ihrem Leben von häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt durch ihren (Ex-) Partner betroffen, wobei auch hier von einer deutlich höheren Dunkelziffer auszugehen ist. Die nationale autonome Universität von Managua nennt deutlich höhere Zahlen: Laut einer Studie sind über 70% aller Frauen regelmäßig physischer oder psychischer Gewalt durch ihren Partner ausgesetzt.
Im Gegensatz zu vorher veröffentlicht die nicaraguanische Regierung seit rund fünf Jahren keine offiziellen Statistiken zu häuslicher und sexualisierter Gewalt mehr.
Auch unternimmt die Regierung kaum etwas gegen die immense Gewalt an Mädchen und Frauen – im Gegenteil. Sie schwächt die frauenrechtlichen Errungenschaften seit 2013 durch Reformen, und brüstet sich auch noch damit, so den Wert der „traditionellen Familie“ zu schützen und deren Zusammenhalt zu stärken. Ende der 1990er Jahre wurden z.B. spezialisierte Polizeieinheiten zum Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt gegründet, die gezielt geschult waren, Fälle eingehend zu verfolgen und betroffene Frauen adäquat zu unterstützen. Bis 2013 mussten fast alle dieser Einheiten schließen. Auch in der Strafverfolgung gibt es enorme Rückschritte: beispielsweise kann jetzt wieder (auch im wiederholten Gewaltfall) eine Mediation zwischen Täter und Betroffener verordnet werden. So werden Gewaltfälle nicht aktenkundig, Täter gehen straffrei aus und Betroffene sind erneuter Gewalt ausgesetzt, die schlimmstenfalls in einem Femizid endet
- Indizes zu Demokratie, Menschenrechten und Geschlechterverhältnis
Im Atlas der Zivilgesellschaft, einem von Brot für die Welt und Civicus entwickelten Messinstrument zur Lage und zum Handlungsspielraum der organisierten Zivilgesellschaft weltweit und damit auch zum Grad der Demokratie, wird Nicaragua als unterdrückt eingestuft. Hauptgrund dafür ist die politische Verfolgung von AktivistInnen, JournalistInnen und DemonstrantInnen.
Auf Platz 121 von 180 liegt Nicaragua in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen, da JournalistInnen unter anderem auf Grundlage des Gesetzes gegen Terrorakte und Geldwäsche inhaftiert werden, Drohungen erhalten und auf Demonstrationen angegriffen werden. Auch internationale KorrespondentInnen müssen sich als „ausländische AgentInnen“ registrieren und sind so staatlicher Kontrolle und Willkür ausgesetzt. Im Vergleich zu 2019 ist Nicaragua 2020 vier Ränge abgestiegen.
Der Index zur geschlechtsspezifischen Ungleichheit (engl. Gender Inequality Index bzw. GII) des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen platziert Nicaragua auf Rang 101 von 189, was u.a. an einer Müttersterblichkeit von 98 je 100.000 Lebendgeburten und an einem hohen Anteil minderjähriger Mütter liegt: fast jedes zehnte Mädchen bekommt in Nicaragua vor ihrem 18. Lebensjahr ein Kind, in vielen Fällen aufgrund von sexualisierter Gewalt. Nicaragua weist eine der höchsten Raten an Teenager-Schwangerschaften in ganz Lateinamerika und der Karibik auf.
- Reaktion der internationalen Gemeinschaft
Die USA und die EU haben Sanktionen gegen mehr als 20 Einzelpersonen aus Nicaragua verhängt, darunter z.B. die Vizepräsidentin Murillo. In Nicaragua sind sich viele Menschen einig, dass letztlich Murillo die eigentliche Macht im Land innehat und ihren Mann in wesentlichen Fragen steuert. So verkündet sie in einer täglichen Talkshow Regierungsbeschlüsse und formulierte den omnipräsenten Regierungsslogan „Christlich. Sozialistisch. Solidarisch.“ Die deutsche Bundesregierung zeigt sich angesichts der Verhaftungswelle in Nicaragua seit Juni 2021 besorgt: „Die ohnehin schon prekäre Menschenrechtslage hat sich im Vorfeld des Wahltermins im November 2021 dramatisch verschlechtert“, so die Bundesregierung in einer Antwort (19/32194) auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (19/31537).
- Ausblick
Dora María Téllez, nicaraguanische Politikerin, Historikerin und ehemalige Guerilla-Kämpferin der sandinistischen Befreiungsfront, ist eine von Ortegas größten KritikerInnen, Bildrecht (CC): Wikimedia CommensEin „Wahlsieg“ Ortegas gilt als wahrscheinlich, da die politische Opposition im Vorfeld bereits ausgeschaltet wurde und es voraussichtlich keine oder nur Alibi-GegenkandidatInnen geben wird. Davon abgesehen wird Ortega nicht nur von KirchenvertreterInnen, Konservativen und diversen ProfiteurInnen des Systems unterstützt, sondern auch von ärmeren Schichten. Dies hat vor allem mit sogenannten „Null-Hunger“-Programmen zu tun. In ihrem Rahmen erhalten arme Haushalte und v.a. Frauen Investitionspakete – etwa Nutztiere, Saatgut und Baumaterial. Die Entscheidung, wer in das Programm aufgenommen wird, treffen allerdings die von der FSNL eingesetzten und kontrollierten Bürgerräte. KritikerInnen werfen Ortega entsprechend Klientelismus und Stimmenkauf vor.
Vor der Wahl ist nach der Wahl in Nicaragua: der Zivilgesellschaft und ganz besonders Frauenrechtsverteidigerinnen drohen fünf weitere dunkle Jahre.