Mit der ersten öffentlichen Digitalveranstaltung am 6. Juli 2021 zum Thema „Weibliche Genitalverstümmelung in der Beratungsarbeit: Wie können Mädchen und Frauen geschützt werden?“ startete die Veranstaltungsreihe von TERRE DES FEMMES (TDF) über weibliche Genitalverstümmelung (engl. FGM) in Burkina Faso und Deutschland. Die Nachfrage war erheblich: über 250 Fachkräfte und interessierte Aktive nahmen an dem Austausch mit den Expertinnen Rakieta Poyga und Dr. Eiman Tahir teil.
Organisiert wurde die Veranstaltung von der Städtegruppe München von TDF und dem Katholischen Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit IN VIA. Die Trainerin und Konfliktmediatorin Julia Legge moderierte den Abend.@Walter Korn / Frauenrechtsaktivistin Rakieta Poyga
Die Menschenrechtsverteidigerin Rakieta Poyga ist Gründerin und Leiterin der TDF-Partnerorganisation Association Bangr Nooma (ABN) in Burkina Faso. Sie ist in Burkina Faso geboren und aufgewachsen, studierte später allerdings mehrere Jahre in der ehemaligen DDR Wirtschaft. Seit vielen Jahren ist Rakieta Poyga sehr erfolgreich im Einsatz gegen die schädliche traditionelle Praktik FGM in ihrem Heimatland. Sie ist selbst Betroffene und gründete 1996 mit ABN eine eigene Hilfsorganisation, die sich für die Aufklärung, Verhinderung und Beendigung von FGM in Burkina Faso einsetzt.
Dr. Eiman Tahir ist Frauenärztin, Geburtshelferin und Homöopathin mit eigener Praxis in München. Sie ist im Nordsudan geboren und aufgewachsen. Schon im jungen Alter von sechs Jahren wusste sie, dass sie Ärztin werden wollte, was sie nach einem Medizinstudium an der Fakultät Charité der Humboldt-Universität zu Berlin auch verwirklichte. Später kehrte sie in den Sudan zurück und arbeitete dort in der größten Entbindungsklinik des Landes. Seit 2011 ist sie als Fachärztin in München niedergelassen. Dort berät und behandelt sie häufig Frauen, die von FGM betroffen sind, und kennt daher nicht nur die körperlichen Herausforderungen, mit denen diese oft konfrontiert sind, sondern auch ihre inneren Konflikte.
@Walter Korn / Gynäkologin Dr. Eiman TahirUm eine gemeinsame Grundlage für alle Teilnehmenden zu schaffen, wurde zunächst kurz erläutert, was weibliche Genitalverstümmelung genau beinhaltet und welche verschiedenen Formen nach der Klassifizierung der Weltgesundheitsorganisationen bekannt sind. FGM wird in den meisten Fällen vor der Pubertät durchgeführt, manchmal aber auch schon an Kleinkindern.
Dr. Tahir berichtete von den physischen und psychischen Beschwerden, mit denen Patientinnen sie aufsuchen. Konsequenzen des Eingriffs, der zumeist unter unhygienischen Bedingungen stattfindet, können von starken und sehr schmerzhaften Regelblutungen sowie Inkontinenz über schwerwiegende Fistelbildung bis hin zu einer erhöhten Morbidität der Betroffenen reichen. Dr. Tahir’s Ziel ist es, den Betroffenen so gut wie möglich zu helfen und Operationen anzubieten, die Schmerzen lindern und Lebensqualität wiederherstellen.
Poyga’s Ansatz als Menschenrechtsverteidigerin in Burkina Faso besteht darin, die gesamte Community in die Aufklärungsarbeit über FGM einzubinden: die Beschneiderinnen, religiösen Anführer, Dorfälteste und Chiefs, HeilerInnen sowie alle weiteren direkt und indirekt Beteiligten. Um möglichst viele Menschen zu erreichen, werden Kinofilme und Theatervorstellungen organisiert, ebenso wie Seminare und Hausbesuche. Auch werden im Sinne der Nachhaltigkeit MultiplikatorInnen ausgebildet und Schulclubs gegründet, sodass sich die Aufklärungsarbeit weiter verbreitet und bis zu einem gewissen Grad „verselbstständigt“. Außerdem bietet ABN Beschneiderinnen, die bereit sind, FGM aufzugeben, eine alternative Berufsausbildung an, sodass sie sich eine neue Existenz aufbauen können. Wenn die Aufklärungsarbeit in einem Dorf wirksam greift, feiert die ganze Community ein Fest zur rituellen „Beerdigung“ der Beschneidungswerkzeuge und offiziellen Erklärung der Beendigung von FGM. Bisher fanden vier dieser „Beerdigungszeremonien“ statt.
@Walter Korn / Ein unschlagbares Team im Kampf gegen FGMWährend des gesamten Online-Seminars, das inklusive einer kurzen Pause zwei Stunden dauerte, fand im Chat ein reger Austausch statt. Es wurden sehr viele Fragen gestellt - zu viele, um sie alle umfassend beantworten zu können. Es wurde jedoch zugesichert, den Teilnehmenden im Nachgang der Veranstaltung relevante Zusatzinformationen, Kontaktadressen und das Chatprotokoll zur Verfügung zu stellen. Zudem bemühten sich die Moderatorin und ihr Team, möglichst viele Fragen direkt zu klären. Neben der Diskussion über die Wirksamkeit des neuen Schutzbriefes gegen FGM der deutschen Bundesregierung wurde z.B. auch über den Begriff der „Säuberung“ gesprochen, welcher anstelle des Begriffs „Beschneidung“ in einem Beratungsgespräch verwendet worden war. Diesbezüglich betonte eine der Teilnehmenden, dass es sich um einen verharmlosenden Begriff handele, der FGM gleichbedeutend sei und vor allem im arabischsprachigen Raum verwendet werde. Er spiegele u.a. die starke Tabuisierung, aber auch die Glaubenssätze hinter der Befürwortung von FGM wider – nämlich, dass FGM angeblich die „Reinheit“ von Frauen sichere. Auch darüber hinaus wurde viel über die vermeintliche Rechtfertigung von FGM in unterschiedlichen Kontexten diskutiert. Letztlich wurde immer wieder festgestellt, dass FGM kontextunabhängig zur Kontrolle und Drosselung der weiblichen Sexualität diene.
Doch nicht nur mit den beiden Fachreferentinnen, sondern auch untereinander kommunizierten die Teilnehmenden eifrig. Es ging dabei u.a. um den Austausch von mehrsprachigem Aufklärungsmaterial für Beratungsstellen und Schulen, Listen spezialisierter ÄrztInnen, zum Beispiel im Bereich der rekonstruktiven Chirurgie, Anlaufstellen in den verschiedenen Bundesländern und Schwangerschaftsbegleitung für Frauen, die aufgrund von FGM von Geburtskomplikationen betroffen sind.
Trotz dessen, dass nicht alle Themen in der Tiefe behandelt werden konnten, war die Veranstaltung ein voller Erfolg. Der große Bedarf an Vernetzung, gut zugänglichen Beratungs- und Unterstützungsdiensten für Betroffene sowie Fortbildungsveranstaltungen für Fachkräfte und die interessierte Öffentlichkeit wurde deutlich. Ein besonderer Dank gilt den beiden Fachreferentinnen, die auch sehr persönliche Erfahrungen mit den Teilnehmenden teilten und das schwere Thema so deutlich greifbarer machten.