Corona kann sie im Einsatz für ihre Bildung und gegen FGM nicht stoppen – so geht es den Mädchen im Schutzhaus des TDF-Partners AIM

Mädchen aus dem Schutzhaus von AIM. Foto: © TERRE DES FEMMES Mädchen aus dem Schutzhaus von AIM. Foto: © TERRE DES FEMMES Auch Sierra Leone blieb dieses Jahr nicht vom Corona-Virus verschont, die Regierung ordnete von Februar bis Ende Juni 2020 einen landesweiten Lockdown an. Wie in den meisten Ländern weltweit gelten auch jetzt noch Beschränkungen und zeitweise Ausgangssperren.

Eine für AIM und TDF erfreuliche Nachricht ist, dass mit Beginn des Lockdowns im Februar auch das traditionelle Initiationsritual, durch das Mädchen offiziell zu Frauen werden und welches weibliche Genitalverstümmelung (engl. Female Genital Mutilation bzw. FGM) vorsieht, unterbunden wurde. Bis jetzt sind keine Informationen oder Zahlen zu einer offiziellen Wiederaufnahme von FGM bekannt. Trotzdem hat sich die Lage für Mädchen und Frauen in Sierra Leone nicht entspannt: Wie in vielen Ländern weltweit hat während des Lockdowns geschlechtsspezifische Gewalt gegen Mädchen und Frauen und v.a. die Häufigkeit von Vergewaltigungen zugenommen.

Den Mädchen, die bei  AIM Schutz gesucht haben, geht es jedoch gut: In den letzten sechs Monaten waren 12 Mädchen, die vor FGM oder häuslicher Gewalt von zu Hause geflüchtet sind, im Mädchenschutzhaus in Lunsar (PDF-Datei) untergebracht. 10 weitere junge Frauen lebten in dieser Zeit in geschützten Unterkünften in Freetown oder Port Loko, um dort u.a. am WASSCE (West African Senior School Certificate Examination) teilnehmen zu können, sprich an der Abschlussprüfung der weiterführenden Schule. Keines der Mädchen und auch niemand aus dem AIM-Team hat sich mit dem Corona-Virus infiziert. Natürlich hielten sich alle an die erforderlichen Schutzmaßnahmen und feilten trotzdem fleißig weiter an ihren Zukunftsplänen. So kompensierten die Mädchen im Schutzhaus mit Unterstützung der Sozialarbeiterin den Schulausfall durch Homeschooling und gemeinsames Lernen.

Frauen aus dem AIM-Team brechen zur Aufklärung über Corona in den Dörfern auf. Foto: © AIM Frauen aus dem AIM-Team brechen zur Aufklärung über Corona in den Dörfern auf. Foto: © AIM Im Vordergrund stand, sich auf das NSPE (National Primary School Examination), die Abschlussprüfung für die Grundschule, und reguläre Jahresabschlussprüfungen vorzubereiten – bislang mit großem Erfolg: Die Schülerinnen wurden alle in ihre jeweils höheren Klassen versetzt. Bei der NSPE-Prüfung liegen die Ergebnisse der Mädchen aus dem Schutzhaus sogar unter den landesweit besten! Die meisten Mädchen, die an externen Prüfungen teilnahmen, warten noch auf ihre Ergebnisse. Bei manchen ist allerdings schon klar, wie es beruflich weitergehen wird: Kadie* wurde z.B. als staatlich registrierte Krankenschwester zugelassen und Adama* absolviert nun bereits ihr zweites Jahr am Milton Margai University College in Freetown.

Auf dem Land des Schutzhauses pflanzten die Mädchen in den letzten sechs Monaten gemeinsam mit den AIM-MitarbeiterInnen Sorghum, Reis und Süßmais an und warten aktuell darauf, Maniok und Bananen aussähen zu können. Was sie sich zur Zeit am meisten wünschen? Natürlich, dass die Pandemie bald vorbeigeht, und sie vielleicht doch noch die lang ersehnten Fahrräder bekommen, die ihnen den täglichen, z.T. sehr beschwerlichen, Schulweg erleichtern.

Wie sich die Situation in den nächsten Monaten entwickeln wird, ist schwierig abzuschätzen: Wie uns ein Mitarbeiter von AIM schrieb, treffen die Corona-Schutzmaßnahmen besonders die Menschen in den ländlichen Regionen, da sie nicht im selben Ausmaß Landwirtschaft betreiben können wie vorher üblich und eigentlich nötig. Er befürchtet daher, dass viele SchülerInnen die Schule abbrechen werden, um sich mit um die Existenzsicherung ihrer Familien zu kümmern. Mädchen werden für solche Nothilfeaktionen i.d.R. zuerst herangezogen, da Eltern in Sierra Leone nach wie vor eher in die Schulbildung ihrer Söhne investieren.

Mariamas* Geschichte

Eines der Mädchen, das im Schutzhaus von AIM untergebracht ist, hat uns ihre Geschichte erzählt und erlaubt, sie zu veröffentlichen:

Mein Name ist Mariama* und ich bin 19 Jahre alt. Wir sind 17 Geschwister von demselben Vater. Niemand von uns ist zur Schule gegangen. Mein Vater bestreitet seinen Lebensunterhalt mit einfacher Landwirtschaft und hat uns sieben Töchtern nie vorgeschrieben, an einer Beschneidung teilzunehmen und so Teil des Frauengeheimbundes (Bondo Society) zu werden.

Eines Tages besuchte meine Tante uns und bat mich, sie in ein fremdes Gebäude zu begleiten. Ich wusste nicht, was die Absicht hinter ihrem Besuch war.  Als wir ankamen, warteten einige Frauen im Inneren des Gebäudes, packten mich gewaltsam und mit der Erlaubnis meiner Tante wurde ich initiiert [beschnitten, Anm. d. Red.].

Nach der Zeremonie erwartete ich, nach Hause zu meinen Eltern zurückzukehren, aber überraschenderweise wurde mir gesagt, dass ich noch einige andere Riten durchlaufen müsse, um eine Sowei (traditionelle Beschneiderin im sierra-leonischen Kontext) zu werden. Ich lehnte vehement ab und sagte, dass sie mich freilassen sollen, damit ich zu meinen Eltern zurückkehren kann, aber sie ließen mich nicht los. Mein Vater hörte, dass ich festgehalten werde, und bat die Polizei um Unterstützung. Da die Einheit der Polizei zur Familienunterstützung auch mit AIM zusammenarbeitet, wurde AIM direkt kontaktiert. So konnte ich zum Glück befreit werden, ohne zu einer Sowei ausgebildet zu werden.

Als wir nach Hause kamen, hatte mein Vater Angst, dass ich wieder festgenommen werden könnte, wenn die Polizei und AIM nicht an meiner Seite sind. Er beriet sich deswegen mit AIM und bat darum, dass ich im Schutzhaus sicher untergebracht würde. Nachdem man mir erklärt hatte, wofür es das Schutzhaus gibt, wurde ich auch gefragt, welchen Beruf ich gerne ausüben möchte und worin ich mich ausbilden will. Ich entschied mich für den Friseurberuf, da er keine akademischen Anforderungen hat. Am nächsten Tag wurde ich in einer Ausbildungseinrichtung angemeldet. Schon bald kann ich ein anderes Leben beginnen und mein Lebensunterhalt wird nicht davon abhängen, andere Mädchen zu beschneiden und ihnen Leid zuzufügen. Dafür bin ich sehr dankbar.

*Name wurde redaktionell geändert.

 

Auch bleibt offen, wann und wie weibliche Genitalverstümmelung wieder aufgenommen wird. AIM und TDF werden sich in jedem Fall dafür einsetzen, dass das „ritual without cutting“, also die traditionelle Initiation von Mädchen ohne FGM, die AIM erstmals Anfang 2020 öffentlich durchgeführt hatte, auch nach der Pandemie in aller Munde bleibt und sich flächendeckend durchsetzt!

Unterstützen auch Sie die wichtige Arbeit von AIM in Sierra Leone – zum Schutz von Mädchen und Frauen vor weiblicher Genitalverstümmelung!

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Stand: 10/2020

 

* Die Namen wurden redaktionell geändert.