Die Sections Chiefs Plamami Bangura (l.), John Gul (m.) und Pazanze Kamara (r.) mit IZ-Referentin Birgitta Hahn. Foto: © TERRE DES FEMMES
PolitikerInnen in der eigenen Gemeinde oder Stadt spielen in Deutschland eine große Rolle. Für manchen Bürger kann eine Partei, die vorher nicht in Frage gekommen wäre, plötzlich wählbar werden, weil eine Lokalpolitikerin besonders patent oder zugewandt auftritt. Oft geben Menschen PolitikerInnen ihre Stimme, weil sie sie persönlich kennen, ihnen vertrauen und wollen, dass sie sich mit echter Hingabe für die eigene Heimat einsetzen.
Wie ist das in Sierra Leone? Wie wichtig sind dort LokalpolitikerInnen? Welchen Einfluss hat ihre Haltung zu weiblicher Genitalverstümmelung (FGM) auf die Bevölkerung? Ist ihre Zustimmung oder Ablehnung von Initiationsritualen Gradmesser für den gesellschaftlichen Wandel? Spannende Fragen, die IZ-Referentin Birgitta Hahn im November drei Section Chiefs aus dem Distrikt Port Loko in Sierra Leone gestellt hat. Interviewt wurden John Gul, seit sechs Jahren Chief der Sander Section und dabei für rund 6.000 Menschen verantwortlich; Plamami Bangura, seit sieben Jahren Chief der Palaba Section und für 8.000 Menschen zuständig; sowie Pazanze Kamara, seit fünf Jahren Chief der Sindugu Section, der größten Section im Distrikt Port Loko, und dabei Repräsentant und kommunalpolitischer Ansprechpartner für mindestens 10.000 Menschen.
Vorab ein Exkurs zur Kommunalpolitik in Sierra Leone
Straßenszene in Port Loko, Hauptstadt des gleichnamigen Distrikts, und Heimat der drei Section Chiefs. Foto: © TERRE DES FEMMESIn dem westafrikanischen Land greift die folgende Hierarchie mit Blick auf politische Verantwortung und Befugnisse: Headmen von Dörfern und Gemeinden sind ganz nah an den Menschen dran und stehen in der Verwaltungshierarchie an unterster Stelle. Im Kontext von Deutschland würde man sie als BürgermeisterInnen bezeichnen. Dann kommen die Section Chiefs, bei uns mit RegionalpolitikerInnen oder BezirkspolitikerInnen in Städten vergleichbar. Ihnen in der Hierarchie ebenbürtig sind sogenannte Ceremonial Chiefs. Ein entsprechendes Äquivalent existiert in Deutschland nicht. Ceremonial Chiefs haben eine eher repräsentative Funktion und treten bei größeren Feierlichkeiten und anderen offiziellen Anlässen gesellschaftlicher Natur in den Vordergrund. Section und Ceremonial Chiefs stimmen sich an ihren Schnittstellen eng miteinander ab – wenn etwa Feste oder Rituale einer behördlichen Genehmigung bedürfen, d.h. wenn Zeremonielles auf Verwaltungsrecht trifft. An höchster Stelle stehen die Paramount Chiefs, die unseren PolitikerInnen auf Bundeslandebene entsprechen. All diese VolksvertreterInnen werden gewählt. Es gibt auch Frauen unter ihnen, allerdings sind sie bislang die Ausnahme.
Aus welchen Gründen wenden sich die Menschen und v.a. Frauen meist an euch?
John Gul:
Kämpfe, unflätige Sprache, also verbale Entgleisungen wie Beschimpfungen, und Schulden. Blutige Kämpfe sind Angelegenheit der Polizei, darum kümmern wir uns nicht.
Plamami Bangura:
Frauen kommen vor allem zu uns, wenn ihr Ehemann ihnen oder ihren Kindern Unterhaltszahlungen verweigert. Auch Schulden spielen im Fall von Frauen eine Rolle.
Wie oft trefft ihr euch mit RepräsentantInnen eurer Section?
Mitglieder der Gemeinde Rolal bei einer Aufklärungsveranstaltung von AIM. Foto: © TERRE DES FEMMESJohn Gul:
Nicht sehr oft mit Ausnahme der Headmen der jeweiligen Gemeinden: davon gibt es z.B. acht in Sander und 23 in Palaba. Wir werden für die Arbeit der Headmen verantwortlich gemacht, deshalb müssen wir sichergehen, dass sie sich ihrem Amt entsprechend verhalten und insbesondere fair entscheiden.
Welche Beziehung unterhaltet ihr zu den soweis, also den traditionellen Beschneiderinnen?
John Gul:
Das Verhältnis zu ihnen ist sehr gut. In manchen Sections fordern die Menschen eine bestimmte Anzahl an soweis für soundsoviele EinwohnerInnen. Wir müssen also immer mal wieder geeignete soweis ausfindig machen und manchmal auch aus anderen Sections holen, damit die Gemeinden zufrieden sind.
Was denkt ihr selbst über den Bondo-Kult?
Einstellungen ändern sich nicht von heute auf morgen. Dafür braucht es Zeit und Überzeugungskraft. Foto: © TERRE DES FEMMES John Gul:
Wir haben schon an mehreren Trainings von AIM teilgenommen. Wir wissen, dass weibliche Genitalverstümmelung schädlich ist. Der Punkt ist nur: wenn die Leute sie fortsetzen wollen, können wir sie nicht aufhalten. Immerhin sind Beschneidungen bei Minderjährigen jetzt nicht mehr erlaubt. Wenn wir erfahren, dass eine sowei sich nicht daran gehalten und trotzdem ein Mädchen unter 18 Jahren verstümmelt hat, leiten wir rechtliche Schritte gegen sie ein.
Plamami Bangura:
Uns ist auch klar, wie viel Armut Initiationen schaffen. Wir wissen, dass wir der Bevölkerung in unseren Sections nicht verbieten können, weiter Initiationen durchzuführen, was wir aber tun können ist das Wissen, das AIM uns vermittelt hat, an die Leute weitergeben. Weibliche Genitalverstümmelung birgt so viele Risiken und hat schlimme Folgen für die Gesundheit von Frauen. Ich als Section Chief von Palaba bringe meine 23 Headmen regelmäßig zusammen und briefe sie über das, was ich selbst von AIM gelernt habe. Die Menschen hier sollen sich ändern aber dazu müssen sie erst bereit sein.
Pazanze Kamara:
Seit ich meinen ersten Workshop bei AIM besucht habe, ist mir völlig klar, dass ich die Praktik der weiblichen Genitalverstümmelung nie mehr unterstützen kann.
Wie erfahrt ihr davon, ob ein Initiationsritual in eurer Section geplant ist?
John Gul:
Als Section Chiefs müssen wir unsere Erlaubnis zu Initiationsritualen geben. Wenn wir das nicht tun und die Zeremonie findet trotzdem statt, werden wir dafür belangt und müssen bis zu 500.000 Leones (ca. 46 Euro) Strafe zahlen.
Plamami Bangura:
AIM möchte diese Regelung ändern und durchsetzen, dass wenn wir als Section Chiefs unsere Erlaubnis zu einem Initiationsritual nicht geben und es dann trotzdem stattfindet, die sowei eine höhere Strafe entrichten muss als wir. Das wäre gut, denn dann hätten wir die Möglichkeit, Initiationsrituale auch zu verbieten. Wobei es letztlich natürlich so ist, dass wir als Section Chiefs den Paramount Chiefs unterstehen und daher nicht ganz unabhängig handeln können.
Pazanze Kamara:
Ich als Chief der größten Section in Port Loko lasse mir immer die Teilnehmerinnen-Liste für Initiationsrituale vorab geben. Wenn minderjährige Mädchen dabei sind, erteile ich keine Erlaubnis. Diese Prüfung ist mir ganz wichtig und mittlerweile auch allen soweis bekannt.
Würde ein gesetzliches Verbot von FGM helfen, die Praktik in Sierra Leone zu beenden?
Schulkinder in Port Loko. Die Zukunft der Mädchen hängt auch an der Politik Foto: © TERRE DES FEMMESJohn Gul:
Die Regierung ist die Supermacht in unserem Land. Was immer sie für richtig hält ist auch für die Bevölkerung richtig. Wenn die Regierung FGM verbieten würde, würden sich die Menschen daran halten und der eingeschlagenen Richtung folgen.
Wie viele Initiationsrituale finden pro Jahr in euren Sections statt?
John Gul:
In keiner unserer Sections hat 2019 ein Initiationsritual stattgefunden. Zumindest keines, für das vorher eine Genehmigung eingeholt worden wäre, was ja verpflichtend ist.
Plamami Bangura:
Vielleicht ist das aber auch nicht verwunderlich. Die meisten Bondo-Zeremonien finden im Dezember oder Januar eines Jahres statt. Jetzt ist es erst Anfang November. Es ist damit zu rechnen, dass noch Initiationsrituale angemeldet werden. Die meisten Menschen hier sind immer noch der Überzeugung, dass es sich um eine wichtige Tradition handelt. Zumindest ist es heute aber so, dass nur noch ein bis zwei Initiationsrituale pro Jahr stattfinden.
John Gul:
Viele Menschen denken heute außerdem, dass der Bondo-Kult eine große Ressourcen-Verschwendung ist. Die Kraft und der Wert, die Bondo in der Vergangenheit beigemessen wurden, sind in den letzten 10 Jahren stark zurückgegangen. Früher war es in meiner Section so, dass vier von acht Headmen Bondo sehr ernst genommen und es intensiv und häufig praktiziert haben. In den letzten vier bis fünf Jahren ist kaum mehr jemand zu mir gekommen, um eine Zeremonie anzumelden.
Pazanze Kamara:
Bondo ist für mich eine Tradition aus den 60er Jahren, obwohl es streng genommen noch viel älter ist. In den 60ern wurde es aber mit großem Eifer landesweit verbreitet. Es dauert, bis Ansätze zur Überwindung einer solchen Tradition greifen. Warum es wichtig ist, weibliche Genitalverstümmelung aufzugeben, muss den Menschen erklärt werden. Wenn wir wollen, dass sich die Menschen so verhalten, als ob es ein Gesetz gäbe, müssen wir mit ihnen reden. Für soweis bleibt FGM aber nach wie vor die Haupt-Einnahmequelle und ihre Lebensgrundlage. Trotzdem werde ich aus meiner Section sechs Mädchen zum ersten alternativen Initiationsritual von AIM schicken. Dabei werden alle Traditionen beibehalten, die einem Mädchen den Übergang zum Frausein erleichtern – außer FGM.
Plamami Bangura:
Ich bin der Meinung, dass wir im Kampf gegen FGM schneller vorankommen würden, wenn es von Regierungsseite Unterstützung für soweis gäbe, sich eine alternative Existenz aufzubauen.
Was sind die größten Herausforderungen für Mädchen und Frauen in euren Sections?
John Gul:
Mädchen kommen hier nicht so schnell im Leben voran wie Jungen, weil sie in ihrer Freizeit Dinge tun, die ihnen schaden: Mittwochs und Samstags trifft man in meiner Section weibliche Teenager in den Nachtclubs, wo sie sich für Geld Sexpartnern anbieten. Die Schule spielt für sie dann keine Rolle mehr. Hauptsache, sie kommen an Geld.
Plamami Bangura:
Ein anderer Grund, warum Frauen in meiner Section gesellschaftlich das Nachsehen haben, ist der Bondo-Kult. Frauen können ihr volles Potential nicht leben, weil alle Ressourcen der Familie in die Initiation der Töchter fließen. Nach der Beschneidung bleibt den Familien oft gar Nichts mehr. Die erste Person, die dann aus der Schule abgemeldet wird, ist die initiierte Tochter. Manche Eltern schicken ihre Töchter sogar in die Prostitution, z.B. in die Nachtclubs. Am Abend steht dann immer nur eine Frage im Mittelpunkt: wie viel Geld hast du heute gemacht?
Was müsste eurer Meinung nach getan werden, um die Situation von Mädchen und Frauen zu verbessern?
John Gul wünscht sich ein Trainingszentrum für das Empowerment von Mädchen. Foto: © TERRE DES FEMMESJohn Gul:
Ich würde mir wünschen, in meiner Section ein Trainingszentrum für Mädchen zu eröffnen. Sie könnten dort lernen, ein Leben zu führen, das ihnen guttut, sie stark macht und ihre Ziele verwirklichen lässt. Vielleicht könnten sie auch lernen, wie sie selbst zu guten Müttern werden. In jedem Fall könnten sich die Mädchen dort aufhalten, miteinander wetteifern und würden keine Nachtclubs mehr frequentieren.
Plamami Bangura:
Viele Mädchen können ihre Schulbildung nicht abschließen. Sie brechen die Schule irgendwann ab. Ein technisches Ausbildungszentrum fände ich daher hilfreich. Dort könnten die Mädchen praktische Berufe lernen, mit denen sie sich finanziell versorgen und die Abhängigkeit von ihren Partnern reduzieren könnten, wenn sie die Schule frühzeitig verlassen.
John Gul:
Aus meiner Sicht machen v.a. familiäre Armut bzw. fehlende Rücklagen es den Mädchen schwer, selbstbestimmt zu leben. Etliche Mädchen schlendern jeden Tag mit kurzen Röckchen und tiefem Ausschnitt zum Stadtmarkt, um sich dort Sexkäufern anzubieten. Sex mit Teenagern ist in Sierra Leone illegal. Einmal habe ich eines der Mädchen angesprochen und ihr gesagt: „Du weißt schon, dass ich ins Gefängnis kommen kann, wenn ich deine Dienste in Anspruch nehme? Warum bleibst du in deiner Freizeit nicht zu Hause?“ Das Mädchen antwortete mir: „Wenn du mir Geld gibst, vergessen wir einfach das Gesetz. Wenn du mir kein Geld gibst, verpfeife ich dich bei der Polizei. Entscheide, was dir lieber ist!”
Wie könnten Jungen und Männer zum Empowerment von Mädchen und Frauen beitragen?
Pazanze Kamara:
Wenn Männer Frauen endlich mal helfen würden, könnten Frauen besser auf eigenen Beinen stehen.
John Gul:
Vor allem muss sich das schlechte Image, das Frauen hier angehängt wird, ändern. Seminare und Workshops könnten evtl. Abhilfe schaffen. Männer sollten also am besten auch ein Trainingszentrum bekommen. Sie müssen lernen, ihre Finger von Frauen zu lassen und nicht immer mit Hintergedanken zu ihnen in Kontakt zu treten. In Sierra Leone gelten Frauen in der Regel als weniger wert als Männer. Das wird gerne mit ihrer Kleidung begründet, wenn sie etwa halb nackt durch die Gemeinde laufen. Männer werden dann von den unbedeckten Frauenbeinen erregt. Jungen und Männer kleiden sich aber oft auch nicht besser. Nur ohne Konsequenzen für ihren Ruf. Das ist nicht fair!
Plamami Bangura:
Wenn Mädchen die Schule abbrechen und keine gute Bildung haben, stellt das ein größeres Problem für die Familie dar als wenn Jungen betroffen sind. Frauen unterstützen ihre Herkunftsfamilien in der Regel mehr als Männer. Wenn sie selbst kein Geld verdienen, hat das auch für ihre Angehörigen Konsequenzen. Das gilt natürlich auch für die eigenen Familien von Frauen, vor allem für ihre Kinder. Ungebildete Frauen gebären außerdem mehr Kinder. Auch das kann den Haushalt extrem belasten. Zudem sind vor allem ungebildete Frauen in einer vulnerablen Position: Männer missbrauchen sie, um ihre sexuellen Gelüste zu stillen. Sie wissen, dass diese Frauen auf Geld angewiesen sind. Mit einer guten Bildung können Frauen einen Beruf erlernen und ihr eigenes Geld verdienen. Dann sind sie unabhängig und weniger angreifbar.
John Gul:
Auch der Bondo-Kult verstärkt das “Objektifizieren” von Frauen in unserem Land: nach einem Initiationsritual werden die Mädchen in ihren schönsten neuen Kleidern aus dem Busch herausgeführt. Sie kosten jetzt eine Unsumme an Mitgift, wenn ein Mann sie heiraten will. Wie Trophäen werden sie den Männern feilgeboten. Wenn ein Mann besonders hervorstechen und mit seiner angehenden Braut angeben will, wird er mit Geld um sich werfen. Er wird den Eltern anbieten, die neuen Outfits für das Mädchen zu bezahlen, was ihn locker bis zu 800.000 Leones (ca. 73 Euro) kosten kann. Dazu kommt dann noch die eigentliche Mitgift, die bei einem frisch initiierten Mädchen 200 US-Dollar (ca. 180 Euro) betragen kann. Für hiesige Verhältnisse ist das unglaublich viel Geld.
Vielen Dank für das Gespräch!
Unterstützen Sie die wichtige Aufklärungsarbeit von AIM! Nur so können einflussreiche Führungspersonen wie Section Chiefs erreicht und für ein Ende der weiblichen Genitalverstümmelung gewonnen werden. Wenn KommunalpolitikerInnen klar Position für den Schutz und das Empowerment von Mädchen beziehen, ist es um ein Vielfaches leichter, auch andere Menschen aus den ländlichen Sierra Leone, die sich oft stark mit Traditionen identifizieren und an FGM festhalten, ins Boot zu holen. Gemeinsam können wir es schaffen! Spenden Sie jetzt – damit Mädchen unversehrt und selbstbestimmt aufwachsen können. Weltweit, vor allem aber in Sierra Leone!