TDF-Koordinatorinnen Dilek Okur und Birgitta Hahn im Gespräch mit Ibrahim Koseoglu. Foto: © YAKA-KOOP
Ibrahim Köşeoğlu empfängt uns in einem Industriepark am Rande des südosttürkischen Van. Der 57-jährige steht seit zehn Jahren an der Spitze der Vereinigung der DorfvorsteherInnen in der Region Van. Damit spricht er stellvertretend für 679 Dorfvorsteher, eine Dorfvorsteherin und 2.000 DorfbewohnerInnen. Außerdem steht er selbst seinem Heimatdorf Pirgarip Mahalleri vor. Im Büro sei es zu stickig, sagt er, und trägt prompt ein paar Stühle und einen Beistelltisch nach draußen. Wir sind gekommen, um über Frauenrechte mit ihm zu sprechen, und was sie in „seinen“ Dörfern gelten.
Ibrahim schmunzelt: „Frauenrechte spielen schon in meiner eigenen Familie eine Rolle. Ich habe 11 Töchter und einen Sohn. Alle meine Töchter haben Bildung genossen. Eine ist beruflich ein hohes Tier. Ihr Mann kümmert sich um die Kinder. Keiner aus unserem Dorf hat dieses Modell je blöd kommentiert. Das liegt aber vermutlich an meiner Stellung“.
Was sind die größten Herausforderungen für Mädchen und Frauen in Van?
Ibrahim: Das sind vor allem Frühehen, Suizide, (Ehren)morde und Scheidungen. Manche Mädchen werden auch nicht zur Schule geschickt, sondern müssen früh arbeiten.
Warum verheiraten viele Familien ihre Töchter immer noch so jung?
Ibrahim: Gerade für die ältere Dorfbevölkerung sind Frühehen ganz normal. Sie kennen es einfach nicht anders. Meist wurden sie selbst minderjährig verheiratet und haben es seit Jahren als etwas Selbstverständliches erlebt, dass Mädchen vor ihrem 18. Lebensjahr in die Ehe gehen. Deshalb sind ihnen die negativen Folgen von Frühehen auch nur selten bewusst oder aber schwer zu vermitteln.
Wie schaffen Sie es, die ältere Dorfbevölkerung, die ja gerade im ländlichen Raum ein hohes Ansehen genießt, ins Boot zu holen?
Die DorfvorsteherInnen von Van arbeiten eng mit YAKA-KOOP zusammen. Foto: © YAKA-KOOP Ibrahim: Bewusstseinsbildung und Aufklärungsarbeit spielen hier die Hauptrolle. Wir DorfvorsteherInnen stellen den Menschen z.B. gerne Fragen, die sie zum Nachdenken bringen. Einem Vater sagte ich mal: „Deine Tochter ist jetzt 16. Wenn sie in diesem Alter schon heiratet, ist sie noch nicht reif für die Ehe und wird sich in zehn Jahren wieder scheiden lassen. Wer trägt dann die Schuld für eure zerrüttete Familie? Du!“ Mittlerweile bezieht auch der türkische Staat Position gegen Frühehen. Ich habe vor kurzem ein Schreiben vom Ministerium bekommen, in dem stand, dass Frühehen in der Türkei verboten sind und unter Strafe stehen. Das hilft natürlich auch bei der Argumentation. Ich persönlich glaube, dass es eine Frage der Zeit ist, bis es keine Frühehen mehr gibt. Für mich steht fest, dass diese Tradition enden wird.
Was machen Sie konkret, wenn Ihnen eine geplante Frühverheiratung zu Ohren kommt?
Ibrahim: Ich besuche die Familie und versuche, sie mit Worten von ihrem Vorhaben abzubringen. Gleich zu drohen oder gar Gewalt anzuwenden würde nirgendwohin führen. Vielmehr diskutiere ich mit den Eltern und mache ihnen bewusst, was es für ihr Kind und sein späteres Leben bedeuten würde, wenn es jetzt schon heiraten müsste. Auch erläutere ich ihnen die Vorteile von Bildung für ihre Töchter.
Arbeiten Sie eigentlich auch mit Imamen und anderen Religionsvertretern zusammen?
Ibrahim: Oh ja, ich arbeite mit Imamen, Hodschas und Muftis zusammen. Das ist auch sehr wichtig. Es gibt Familien, die ihre Kinder rein religiös trauen lassen wollen und das in der Regel in jugendlichem Alter. Ich persönlich finde das nicht richtig, aber gerade in besonders mächtigen Sippschaften spielt die rein religiöse Trauung noch eine große Rolle. Das Problem ist, dass Imame oft von außen kommen, also z.B. von der staatlichen Religionsbehörde geschickt werden. Damit haben sie keine starke Lobby im Dorf und können dem Druck einflussreicher Großfamilien oft Nichts entgegensetzen. Hier versuche ich einzulenken.
Woher kannten Sie YAKA-KOOP und wie arbeiten Sie genau zusammen?
Ibrahim: YAKA-KOOP kam auf unsere Vereinigung zu, nachdem sie auf einem Seminar in Van zum ersten Mal von uns gehört hatten. Ich musste nicht lange überlegen, als YAKA-KOOP mich fragte, ob wir zusammenarbeiten wollen. Ihr Ansatz und ihre Kampagnen haben mich begeistert. Die Kooperation sieht so aus, dass YAKA-KOOP zu uns in die Dörfer kommt und wir dann gemeinsam Hausbesuche machen oder Aktionen wie z.B. Seminare in Moscheen oder Mehrzweckhallen veranstalten. Für die Menschen hier ist es wichtig, zu sehen, dass wir als DorfvorsteherInnen hinter den Themen stehen, die YAKA-KOOP vorbringt, und dann auch handeln.
Unterstützen denn alle DorfvorsteherInnen die Kampagne „STOP Frühehen!“?
Ibrahim: Die allermeisten DorfvorsteherInnen in Van wollen Frühehen verhindern und setzen sich mit Gesprächen und Aktionen für dieses Ziel ein. Manche, vor allem auch die älteren unter uns, haben nach wie vor Probleme, die Konsequenzen von Frühehen in all ihrer Tragweite zu erfassen. Sie sind diese Praktik seit vielen Jahrzehnten gewöhnt, da kann es einfach dauern, bis ein Gesinnungswandel eintritt. Aber steter Tropfen höhlt den Stein.
Wie reagiert die Bevölkerung auf die Gespräche und Aktionen mit YAKA-KOOP?
Ibrahim: Die überwiegende Mehrheit sieht die Arbeit von YAKA-KOOP positiv. Aber es gibt auch Verunsicherung: Viele Männer haben Angst, dass sie durch die Aufklärung und das Empowerment von Frauen ihre eigene Macht verlieren. Sie fürchten konkret, dass ihre Frauen dann nicht mehr auf sie hören könnten. Sie bringt das vielleicht zum Lachen, aber Männer haben hier bislang das letzte Wort zu Hause. Davon hängt viel für sie ab. Wenn Frauen z.B. Bildung haben, dann wollen sie bestimmt auch arbeiten. Sie sollen ja aber die Hausarbeit und Kindererziehung übernehmen, sagen die Männer. Ich kenne Fälle, in denen allein die Frau einer bezahlten Arbeit nachgeht und der Ehemann trotzdem ihre Bankkarte verwaltet. Hier auf den Dörfern gibt es auch keine Frauengruppen. Die Männer haben diesbezüglich Bedenken. Manche entrüsten sich auch während der Veranstaltungen mit YAKA-KOOP: „Könnt ihr mal aufhören, unseren Frauen von ihren Rechten zu erzählen? Die machen uns nicht mal mehr Essen!“
YAKA-KOOP im Gespräch mit Männern aus der Region Van. Foto: © YAKA-KOOP
Auch das Thema Gewalt spielt eine große Rolle bei der Aufklärungsarbeit. Wie reagieren die Menschen darauf?
Ibrahim: (Häusliche) Gewalt ist leider immer noch verbreitet in der Region Van. Es gibt ein türkisches Sprichwort, das besagt: „Er kann schlagen und er kann lieben“. Gewalt gehört für viele Männer, aber auch Frauen immer noch zur Bandbreite eines normalen Beziehungsverhaltens. Eine Ohrfeige hier und da sei ja auch vertretbar, so die Auffassung. Deshalb wird Gewalt selten als Problem erkannt oder aber geleugnet. Wobei nicht immer... In einer Dorfversammlung beharrte kürzlich ein Vorsteher: „So etwas wie Gewalt gegen Frauen gibt es doch gar nicht“. Daraufhin bat eine Frau aus dem Dorf um das Mikro und zählte einzeln auf, was ihr alles an Gewalt schon widerfahren war. Sie sparte nicht an Details. Damit brachte sie den Dorfvorsteher zum Schweigen. Auch YAKA-KOOP unterstützte die Frau und ergänzte, dass laut Statistik zwei von drei Frauen in der Türkei bereits Gewalt erlitten hätten.
Wie viele Mädchen gehen in der Region Van zur Schule und schließen sie auch ab?
Ibrahim: Ich habe die Zahlen für die ganze Region nicht im Kopf, aber in meinem Heimatdorf gehen alle Mädchen zur Schule. Es gibt zwei Schulen, eine Grund- und eine weiterführende Schule. Die meisten Mädchen gehen im Anschluss auch zur Universität und studieren. Mädchenbildung liegt mir ganz besonders am Herzen. Ich will, dass alle Mädchen aus Van etwas lernen und die Welt sehen. Manchmal fragen mich andere Väter aus den Dörfern mit Unverständnis: „Wieso gibst du Geld für die Ausbildung deiner Töchter aus? Sie werden doch ohnehin heiraten und dein Haus verlassen“. Darauf blaffe ich zurück: „Wie kannst du nur so finanziell denken? Es geht hier um mein Kind. Meine Tochter wird später arbeiten und ihren Mann unterstützen“.
Wie viele Frauen gehen in der Region Van einer bezahlten Arbeit nach?
Ibrahim: Etwa 10%, würde ich schätzen. In zukünftigen Generationen mag das anders aussehen, aber aktuell sind es noch nicht so viele. Auch in diesem Punkt gibt es Vorbehalte. In meinem Heimatdorf biete ich z.B. Näh- und Alphabetisierungskurse für Frauen an, deren Finanzierung ich beim türkischen Bildungsministerium beantragt habe. Der Imam meines Dorfes kam kurz nach Beginn des ersten Kurses auf mich zu und stichelte: „Jetzt laufen die Frauen schon mit Stiften und Heften herum. Ist es nicht unmoralisch, dass sie in diesem hohen Alter noch lernen?“ Daraufhin entgegnete ich: „Du bist Imam und auch alt, ist es nicht unmoralisch, dass du mir so eine Frage stellst?“
Was hat sich durch die Kooperation mit YAKA-KOOP in den Dörfern von Van verändert?
Ibrahim: Die Zahl der Frühverheiratungen ist zurückgegangen. Das ist sicher der größte Erfolg. Den Menschen ist nun stärker bewusst, welche Folgen Frühehen haben können. Auch Mädchenbildung hat heute einen größeren Stellenwert. An einem Zeugnistag im Winter, es hatte gerade frisch geschneit, kamen die Kinder nach Schulende auf mich zu gerannt und hielten stolz ihre Zeugnisse in die Luft. Ich erkundigte mich nach ihren Zensuren. Später kamen mehrere Eltern auf mich zu und dankten mir, dass ich mich auch nach den Zeugnissen der Mädchen erkundigt hatte und wie viel ihnen das bedeuten würde. Meine Frau würde außerdem ergänzen, dass ich mich jetzt auch an der Hausarbeit beteilige.
Wie sehen Sie die Zukunft für Frauen und Mädchen in der Region Van?
Ibrahim: Ich bin überzeugt davon, dass sich Ideale wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau auch durch den Einzug der neuen Medien stärker durchsetzen werden. Die Menschen sind heute selbst hier viel stärker miteinander vernetzt und holen sich die Welt auf ihr Smartphone. Aber unsere Arbeit mit YAKA-KOOP bleibt weiter wichtig, denn althergebrachte Strukturen verändern sich nicht über Nacht.
Würden Sie sich selbst als Feminist bezeichnen?
Ibrahim: Frauen sind Menschen. In unserer Religion treten Frauen allein, als Mütter, Schwestern und Töchter in Erscheinung. Daran denke ich immer, wenn ich von einem Unrecht gegen eine Frau höre. Nur weil Frauen physisch schwächer sind, darf kein Mann sie unterdrücken!
YAKA-KOOP diskutiert mit Mädchen und Frauen über Frühehen. Foto: © YAKA-KOOP
*Alle Namen wurden geändert.
Stand: 07/2018