Wie ist es nach der Anzeige weitergegangen?

Ferda: Fatma wurde von der Polizei, der Armee (die in Çaldiran, der Kreisstadt, in der wir Anzeige erstattet haben, für die Sicherheit zuständig ist) und von einer Gerichtsbeamtin befragt. Meine Tochter wurde auch medizinisch untersucht. Die Polizei bekam dann alle wichtigen Informationen von der Ärztin. Die Polizeibeamten brachten den Täter nach der Befragung wieder in unser Dorf und sagten zu den Leuten: „Macht mit ihm, was ihr wollt“. Normalerweise hätte er verprügelt oder auch getötet werden können, aber die Dorfbewohner ließen ihn in Ruhe. Vielleicht lag das daran, dass sich die Familie des Täters schon von ihm abgewandt hatte. Sie waren bereits aus dem Dorf weggezogen. Später sind sie auch nicht zu den Gerichtsterminen erschienen.

Ihr seid nach der Tat selbst aus eurem Dorf weggezogen. Was waren die Gründe?

Ferda: Wir hatten große Angst, dass sich andere Männer aus unserem Dorf an Fatma „bedienen“ könnten, weil sie bereits „geschändet“ worden war und es (aus Sicht der Männer) für Fatma und uns „Nichts mehr zu verlieren“ gab. Der Bruder meines Mannes wollte außerdem, dass Fatma den Täter nach Absitzen seiner Strafe heiratet, um die Familienehre wiederherzustellen. Das kam für mich und meinen Mann keinesfalls in Frage. Eigentlich war mein kleiner Bruder der Einzige, der uns von den beiden Familien beigestanden hat. Es waren aber auch die Scham und die Angst um unseren Ruf, die uns fortgetrieben haben. Niemand aus dem Dorf hatte bislang böse Worte an uns gerichtet, Fatma und wir hätten nach der Tat aber trotzdem kein normales Leben mehr führen können. Vielleicht hätten die Dorfältesten verfügt, dass Fatma eingesperrt wird, oder ihr sogar etwas angetan. Deshalb haben wir entschieden, in die Stadt Çaldiran zu ziehen. Unser Dorf ist etwa drei Fahrtstunden entfernt. Das schien uns weit genug weg.

Wie seid ihr mit YAKA-KOOP in Kontakt gekommen und wie hat YAKA-KOOP euch geholfen?

"Wir schaffen das!" - Gemeinsam gegen Gewalt an Mädchen und Frauen. Foto: © Birgitta Hahn

Ferda: YAKA-KOOP wurde von einer befreundeten Journalistin auf unseren Fall aufmerksam gemacht. Sie sind dann auch unmittelbar auf uns zugekommen und haben sich erkundigt, wie es uns geht und ob wir Unterstützung brauchen.

Ohne YAKA-KOOP wäre der Prozess sicher anders ausgegangen. Gülmay (die Leiterin von YAKA-KOOP) beauftragte einen Anwalt, der uns kostenfrei vor Gericht vertrat. Auch sprach sie mit der Staatsanwaltschaft und Personen aus dem Familienministerium, die eng an unserem Prozess beteiligt waren. YAKA-KOOP trat zudem als Nebenklägerin auf und wurde in dieser Funktion zum Glück auch vor Gericht zugelassen. Sie machten in der Presse Furore, damit über unseren Fall berichtet würde. Ohne YAKA-KOOP hätten wir die Schreiben, die uns das Gericht schickte, nicht lesen können, da mein Mann und ich AnalphabetInnen sind. Wir hätten uns auch die Fahrten zum Gericht nicht leisten können, weil es 120 Kilometer von Çaldiran entfernt tagte und unser Geld nicht reichte, mit öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin zu fahren. Meine Kinder würden heute vermutlich nicht zur Schule gehen, wenn YAKA-KOOP nicht gewesen wäre. Gülmay sprach mit der Schule, an der unsere Kinder in Çaldiran angemeldet werden sollten und die sie nicht aufnehmen wollte, weil wir keine Geburtsurkunden vorweisen konnten. YAKA-KOOP half uns auch bei der nachträglichen Registrierung unserer Kinder. Gülmay führte außerdem mit den LehrerInnen von Fatma Gespräche und sorgte dafür, dass sie behutsam mit Fatma umgehen und das, was ihr angetan wurde, nicht öffentlich machen. Heute kann Fatma dank YAKA-KOOP mit einer Psychologin sprechen, wenn sie das möchte. Besonders wertvoll aber war, dass YAKA-KOOP uns von Anfang an Kraft und Mut gespendet hat. Wir haben ihnen auch gleich vertraut. Das hat uns am Leben gehalten und uns den Prozess durchstehen lassen.

Was wäre deiner Einschätzung nach ohne YAKA-KOOP passiert?

Ferda: Der türkische Staat stellt ärmeren Leuten kostenfrei eine Anwältin oder einen Anwalt zur Seite. Das wäre auch ohne YAKA-KOOP passiert. Allerdings muss diese Person Alles dafür tun, dass der Täter dann auch wirklich bestraft wird und sich nicht mit fadenscheinigen Entschuldigen aus der Affäre zieht. Es wäre auch gut möglich gewesen, dass der Täter oder seine Familie Geld angeboten hätten, damit wir unsere Anzeige zurückziehen und es zu keinem Gerichtsverfahren kommt. Vielen Gerichten geht es darum, „den Deckel möglichst schnell zuzumachen“. Der Druck und die öffentliche Aufmerksamkeit, die YAKA-KOOP erzeugt haben, waren entscheidend, um den Prozess erfolgreich zu Ende zu bringen. 

Hat der Täter vor Gericht Reue gezeigt?

Ferda: Ganz im Gegenteil! Er hat behauptet, Fatma hätte ihn mit ihren damals 7 Jahren verführt. Als er damit nicht durchkam, hat er verbreitet, von mir für die Tat bezahlt worden zu sein. Als auch das nicht wirkte, meinte er, er sei bei der Tat geistig wohl nicht ganz „beisammen“ gewesen. Zum Glück hat das Gericht ihm nicht geglaubt und ihn rechtmäßig bestraft.

Wie ist das Urteil ausgefallen?

Ferda: Der Täter wurde zu 38 Jahren Gefängnis verurteilt. Bei guter Führung kann er allerdings früher entlassen werden. YAKA-KOOP will dagegen Einspruch einlegen. Das wollen wir auch.

Wie geht es Fatma heute?

Ferda: Direkt nach der Tat hat Fatma mit niemandem gesprochen. Sie hat sich ganz in sich zurückgezogen, war antriebslos und apathisch. Heute geht es ihr besser. Sie hat manchmal noch Bauchschmerzen und Phasen, in denen sie still und traurig wird. Trotzdem ist sie insgesamt viel lebensfroher als noch letztes Jahr.

Wie geht es dir und der restlichen Familie heute?

Ferda: Ich versuche mein Möglichstes, um Alles zusammenzuhalten. Die Tat hat unser Leben beeinflusst: Manchmal ereilen mich seitdem Schwäche-Attacken und ich werde plötzlich ohnmächtig. Meine Kinder haben das zum Glück noch nicht oft mitbekommen und ich versuche dann auch, mir keine Vorwürfe zu machen, sondern mir Ruhe zu gönnen. 

Glaubst du, dass euer Fall Signalwirkung für die Verhandlung ähnlicher Taten in Zukunft haben wird?

Ferda: Ich hoffe es, bin mir aber nicht sicher. Bisher wurden Sexualstraftaten in unserer Region mit sehr niedrigen Strafen geahndet, wenn es überhaupt zu einem Gerichtsverfahren kam. YAKA-KOOP macht sich auch deshalb stark dafür, dass die Strafe möglichst hoch ausfällt. Sie wollen potentielle Täter abschrecken.

Was wünschst du dir für eure Zukunft?

Ferda: Ich will, dass alle meine Kinder etwas lernen und ihren Abschluss machen. Sie sollen ein Leben ohne Gewalt führen. Ohne YAKA-KOOP wäre ich nicht an diesem Punkt. Nach der Tat wollte der türkische Staat Fatma aus unserer Familie nehmen, weil sie Angst hatten, dass sie einem Ehrverbrechen zum Opfer fallen könnte. Mein Mann und ich haben uns dagegen gewehrt und gesagt: „Wir schaffen das!“ YAKA-KOOP hat an uns geglaubt. Heute glaube ich selbst an uns.