Situation in Deutschland: Mein Leben – meine Entscheidung!

Frühehen und Zwangsverheiratungen sind überall auf der Welt zu finden.

Frühehen resultieren häufig aus der Angst der Eltern vor vorehelichen sexuellen Erfahrungen ihrer Töchter und dem damit verbundenen „Ehrverlust“ der Familie. Die Studie „Zwangsverheiratung in Deutschland“ des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2011 belegt, dass allein im Jahr 2008 3.443 von Zwangsverheiratung bedrohte oder betroffene Personen in Beratungseinrichtungen Hilfe suchten. 93 % der Betroffenen waren weiblich, knapp ein Drittel der Betroffenen unter 18 Jahre.

Bis zum Inkrafttreten des „Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen“ (22. Juli 2017) war es auch in Deutschland möglich, mit Zustimmung des Familiengerichts mit 16 Jahren zu heiraten. Seit Juli 2017 dürfen in Deutschland keine Ehen mehr mit Minderjährigen geschlossen werden. Ehen, die bereits im Ausland mit Minderjährigen geschlossen worden sind, sind in Deutschland entweder nichtig (bei einer Heirat unter 16 Jahren) oder aufhebbar (bei einer Heirat mit 16 oder 17 Jahren).

Auch ist es verboten, Minderjährige in sozialen oder religiösen Zeremonien zu verheiraten oder zu verloben.

Betroffene von Gewalt im Namen der Ehre leben in Spannungsfeldern

In streng patriarchalischen Familien sehen sich insbesondere Mädchen und junge Frauen zwei Welten ausgesetzt: Innerhalb ihres direkten sozialen Umfelds werden sie zumeist einseitig auf ihre zukünftige Rolle als Ehefrau und Mutter vorbereitet. Ihre Erziehung ist kollektivistisch geprägt und orientiert sich an den Interessen und der Ehre der Familie. Ihnen wird ein vermeintlich „richtiges weibliches“ Verhalten von früh an vermittelt, von dem es kaum oder gar keine Abweichungen geben darf. Oftmals wird starker Druck seitens der Familie ausgeübt, sich den Regeln und Vorstellungen der Gemeinschaft zu beugen.

In der Schule hingegen werden andere Lebensmodelle greifbar. Der Fokus liegt stärker auf individuellen Wünschen und Zielen für das eigene Leben. Die von einer Früh- oder Zwangsverheiratung bedrohten Personen sehen sich über einem längeren Zeitraum diesen gegensätzlichen Lebensvorstellungen ausgesetzt. Sie möchten auf der einen Seite ihre Familie als oftmals einzigen Bezugspunkt nicht verlieren. Auf der anderen Seite steht der persönliche Wunsch nach Freiheit.

Frühehen sind in Deutschland seit 2017 ohne Ausnahme verboten, finden aber trotzdem zumeist in sozialen oder zeremoniellen Kontexten, oder im Ausland statt. Solche „informellen“ Eheschließungen sind zwar rechtlich nicht bindend in Deutschland, haben für die Betroffenen aber trotzdem im sozialen/familiären Kontext die gleichen Folgen und die gleiche Verbindlichkeit wie eine staatliche geschlossene Ehe. „Informelle“ Eheschließungen mit Minderjährigen sind deswegen ebenfalls ohne Ausnahme in Deutschland verboten.


Hintergrund von Frühehen

Gewalt im Namen der Ehre kann von emotionaler Erpressung und psychischem Druck bis hin zu physischer und sexualisierter Gewalt und im schlimmsten Fall zu sogenannten Ehrenmorden führen. Frühehen und Zwangsverheiratungen zählen auch dazu. Diese Gewalt wird angewandt, um die vermeintliche Familienehre zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Sie betrifft mehrheitlich Mädchen und Frauen, aber auch Männer.

Die Ehre der Familie wird in vielen Kulturkreisen unterschiedlich definiert. Nach traditionellen Vorstellungen patriarchaler Gesellschaften hängt die Familienehre vom Verhalten der weiblichen Familienangehörigen ab. Mädchen und Frauen werden in diesen Strukturen als Besitz des Mannes angesehen. Verstößt eine Frau gegen die der Gemeinschaft zugrunde liegenden Moralvorstellungen und sexuellen Verhaltensnormen, ist das gesellschaftliche Ansehen der gesamten Familie in Gefahr. Sexualität wird nur innerhalb der Ehe toleriert. Dabei reicht in manchen Fällen der Verdacht oder das Gerücht, ein Mädchen sei mit einem fremden Jungen oder Mann gesehen worden, um die Familienehre nachhaltig zu beschädigen. Den Männern kommt die Aufgabe zu, ihre Ehefrau, Tochter oder Schwester streng zu überwachen. Die Jungen werden schon früh auf ihre Rolle als Familienoberhaupt und „Beschützer“ der weiblichen Familienmitglieder vorbereitet. An ihr Verhalten werden also auch Erwartungen geknüpft, wenngleich Jungen und Männer dennoch mehr (Bewegungs-)Freiheit genießen. In Gesellschaften, die Gewalt im Namen der Ehre ausüben, ist diese in einem hohen Maß akzeptiert. Die Ehre der Familie wiederherzustellen wird als „Familiensache“ angesehen, die man intern regelt. Ebenso gilt es als Tabu mit Außenstehenden über familiäre Konflikte zu sprechen. Dies macht es für betroffene Mädchen und Frauen zusätzlich schwer sich jemandem Außenstehenden anzuvertrauen und sich Hilfe zu holen.