Hintergrund:
Necla Kelek setzt sich in ihrem Buch "Die fremde Braut" gegen Zwangsheiraten im türkisch/islamischen Milieu ein. Migrationsforscher warfen ihr deshalb vor, sie verbreite "billige Klischees". Rahel Volz verteidigt Kelek in einem offenen Brief an die Forscher.
Erschienen am 14.02.2006 in der Frankfurter Rundschau.
Sehr geehrte Frau Karakasoglu,
sehr geehrter Herr Terkessidis,
es hat mich bestürzt und verärgert, Ihren Aufruf "Gerechtigkeit für die Muslime!" in der Wochenzeitung Die Zeit vom 3. Februar zu lesen. Die Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES, die ich als Leiterin der Kampagne "Stoppt Zwangsheirat" vertrete, setzt sich seit Jahren gegen Zwangsheirat und Ehrenmorde ein. Zwar weisen auch wir in Veröffentlichungen darauf hin, dass Zwangsehen in allen stark traditionell geprägten Gesellschaften vorkommen. Beispielsweise auch bei jungen Frauen der christlichen Minderheiten in der Türkei. Fakt ist aber auch, dass in Deutschland vor allem muslimische Migrantinnen davon betroffen sind. Der Islam wird dabei leider allzu oft benutzt, um patriarchale Strukturen zu festigen. Er wird - wie Necla Kelek sich ausdrückt - "als Waffe eingesetzt, um verloren geglaubte Söhne und Töchter zu disziplinieren."
Besonders betroffen hat mich gemacht, auf welch zynische Art und Weise Sie über die Schicksale einzelner Frauen schreiben. Sie sprechen von "reißerischen Pamphleten". Doch hinter jeder "Boulevardstory" (wie Sie sich ausdrücken) stehen Frauen, die den Mut aufgebracht haben, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Mit ihren Büchern wollen sie jungen Frauen in derselben Situation Mut machen und verhindern, dass anderen dasselbe Unrecht geschieht. Was muss noch passieren, bis diese Frauen auch von Ihnen die Unterstützung erfahren, die sie verdienen?
Es gibt keine genauen Zahlen über das Ausmaß von Zwangsehen. Die Arbeit von Terre des Femmes macht jedoch deutlich, dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelt. Es ist an der Zeit, dass auch die Migrationsforschung diese Problematik anerkennt und nicht damit abtut, dass es dafür "bekanntlich Gesetze gibt." In unserer Arbeit mit der Polizei hat sich gezeigt, dass Gesetze oft wirkungslos sind. Erst vor kurzem hat ein Polizist von einem kurdischen Mädchen berichtet, das mit ihrem Freund vor drohender Zwangsheirat geflohen war. Die Eltern des jungen Mannes wurden massiv von der Familie des Mädchens unter Druck gesetzt, den Aufenthaltsort des Paares preis zu geben. Hier kommen wir an die Grenzen unserer Gesetze, denn so lange nichts Schlimmeres passiert, kann die Polizei nicht eingreifen. Wenn aber etwas passiert, ist es zu spät. Um Zwangsehen und Ehrenmorde zu verhindern, müssen wir in Aufklärung und Präventionsarbeit investieren. Dazu trägt Necla Kelek in beispielhafter Weise bei.
TERRE DES FEMMES teilt nicht alle Positionen, die Necla Kelek vertritt. So ist ihr Eintreten für den Gesetzentwurf des Innenministeriums, der eine Anhebung des Ehegattennachzugs auf 21 Jahre vorsieht, in unseren Augen kein geeignetes Mittel, um Zwangsehen zu verhindern. Aber wir sehen sehr wohl den großen Verdienst von Frauen wie Necla Kelek oder Seyran Ates. Die unerschrockene Art, ihre Anliegen vorzubringen, hat bewirkt, dass diese Themen in der Öffentlichkeit und in der Politik diskutiert werden.
Es reicht eben nicht, nur Argumente abzuwägen und Motive zu verstehen. Wir brauchen auch Frauen, die sich leidenschaftlich gegen Menschenrechtsverletzungen an Frauen einsetzen und öffentlich machen, welch unglaubliches Unrecht diesen Mädchen widerfährt. Es ist unsere Pflicht, diese Frauen zu unterstützen, die nicht den Mund halten, obwohl sie selbst massiv bedroht werden. Wer sonst kann ein Vorbild sein für die jungen Migrantinnen, die frei und selbstbestimmt leben wollen?
Necla Kelek, Seyran Ates und Serap Cileli haben die ungeschriebenen Regeln der türkischen Community in Deutschland gebrochen, seit sie Tabuthemen wie Zwangsverheiratung und Ehrenmorde öffentlich anprangern. Sie werden als "Nestbeschmutzerinnen" gesehen. Mit einer Schmutzkampagne gegen die drei Frauen hat die türkische Zeitung Hürriyet Anfang vergangenen Jahres darauf geantwortet. Das Resultat war, dass die Frauen massiv bedroht wurden, Seyran Ates erhielt sogar Polizeischutz.
Es ist traurig, dass Sie mit Ihrer Petition in die gleiche Kerbe schlagen. Necla Kelek vorzuwerfen, dass sie nur einen Erfolg auf dem Buchmarkt landen wollte, ist zutiefst unlauter. War ihr Fehler vielleicht eher, dass sie gegen die jahrelange stillschweigende Übereinkunft der bundesdeutschen Migrationsforschung verstoßen hat, die Schuld für gescheiterte Integration nur auf Seiten der deutschen Gesellschaft zu sehen?
Sie werfen Kelek vor, dass sie noch vor fünf Jahren in ihrer Forschung zu völlig anderen Ergebnissen kam. Sie übersehen dabei, dass sich die Situation stark verändert hat. Das belegt eine Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien. Darin befürworteten im Jahr 2000 nur 27 Prozent der befragten türkischstämmigen Migrant/-innen das Tragen eines Kopftuches in der Öffentlichkeit, im Juni 2005 waren es bereits 47 Prozent.
Zu einem offenen Miteinander gehört auch, Veränderungen wahr zu nehmen, Wunschdenken von Tatsachen zu trennen und Probleme mit den politisch Verantwortlichen zu diskutieren, um Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Wir bitten Sie, sich an die Seite der türkischstämmigen Aktivistinnen zu stellen, die nicht zuschauen, wenn die Rechte von Frauen mit Füßen getreten werden.
Zur Autorin
Rahel Volz ist Politikwissenschaftlerin und Leiterin der Kampagne "Stoppt Zwangsheirat" bei der Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES. Der exklusiv für die FR verfasste offene Brief ist eine Reaktion auf eine "Petition", die unter dem Titel "Gerechtigkeit für die Muslime" in der "Zeit" abgedruckt war. Diese war von 60 als "Migrationsforschern" bezeichneten Persönlichkeiten unterzeichnet. Darin wurde Necla Kelek vorgeworfen, sie habe "unwissenschaftlich" gearbeitet.