Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz eines Gesetzes zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt

Berlin, den 24.08.22


Sehr geehrter Herr Bundesminister Buschmann,


TERRE DES FEMMES begrüßt den Entwurf eines Gesetzes zur Überarbeitung der Strafzumessung.
Die Zahl der geschlechtsspezifisch motivierten Gewalttaten gegen Frauen, insbesondere
innerhalb von (Ex-)Partnerschaften, sind seit Jahren sehr hoch und steigen jährlich. Bezogen
auf das Strafrecht schreibt das „Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats vom
11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“
(Istanbul-Konvention) vom 17. Juli 2017 in Artikel 46 a vor, dass Straftaten strafschärfend
zu berücksichtigen sind, wenn sie aus geschlechtsspezifischen Motiven heraus gegen
Frauen begangen werden. Der geplante Zusatz im Strafgesetzbuch ist längst überfällig und
wir befürworten, dass die Bundesregierung diese notwendige Änderung umsetzen möchte.

Die Ergänzung um „geschlechtsspezifische“ Beweggründe schafft eine rechtliche Grundlage,
um Gewalt an Frauen als solche zu benennen und angemessener zu bestrafen. Das eigentliche
Problem ist dadurch nicht behoben.

Die aktuelle Rechtsprechung in Deutschland zeigt
leider immer noch eine hohe Akzeptanz für strafmildernde Umstände und ein überdurchschnittlich
stark ausgeprägtes Verständnis für männliche Täter. Deutschland hat sich im Rahmen
der Istanbul-Konvention verpflichtet, die erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen
zu treffen, um sicherzustellen, „dass die nach diesem Übereinkommen umschriebenen Straftaten
mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktionen bedroht werden, die
ihrer Schwere Rechnung tragen“. Zum Schutz von Mädchen und Frauen benötigen wir neben
umfassenderen Maßnahmen und Präventionskonzepten eine Anpassung der vorhandenen
Gesetze, die im Folgenden weiter ausgeführt wird


TERRE DES FEMMES befürchtet, dass einzig die Ergänzung im §46 (2) StGB mit dem Begriff
„geschlechtsspezifisch“ zu keiner zufriedenstellenden Rechtsanwendungspraxis führen wird.


Bezugnehmend auf die aktuelle Rechtsprechung fordern wir weitere Maßnahmen, die für
eine gelingende Rechtsanwendungspraxis zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen notwendig
sind:


• Der §46 a StGB gibt Tätern durch den sogenannten Täter-Opfer-Ausgleich die Möglichkeit,
dass die zu erwartende Strafe von Gerichten gemildert wird. Wir fordern, dass eine Schadenswiedergutmachung bei geschlechtsspezifischer Gewalt,
sofern nicht ausdrücklich von der betroffenen Frau gewünscht, unberücksichtigt
bleibt.
Gemäß Artikel 30 der Istanbul-Konvention fordern wir, dass
Schadensersatz, sowie Entschädigungsansprüche der Betroffenen davon
unberührt bleiben.

• Die Rechtsprechung geht bei sexuellen Übergriffen innerhalb oder nach einer vorherigen


intimen Beziehung regelmäßig von einem minder schweren Fall aus (z.B.: BGH
vom 21.07.2015 3 StR217/15), was zu einer Strafminderung führt. Das Bestehen einer
intimen Beziehung zwischen Täter und Betroffene darf bei der Rechtsanwendung
nicht strafmildernd berücksichtigt werden, vgl. Istanbul-Konvention Artikel 43 sowie
46 a. Wir fordern eine deutliche Formulierung in § 177 StGB Abs. 9, dass
strafmildernde Umstände nicht durch eine vorherige oder aktive intime Beziehung
begründet werden können.

• Bei Straftaten, bei denen sich eine Frau im Vorfeld getrennt hat, bzw. eine Trennungsabsicht
bestand, muss dieser Umstand in den Urteilsgründen und der Strafzumessung
berücksichtigt werden (§267 Abs. 2 S.1 StPO). Das deutsche Rechtssystem
verkennt die strukturelle Dimension, die hinter der Ermordung von Frauen steht. Tötungsdelikte
an Frauen, insbesondere wenn das Motiv die Trennungsabsicht der Frau
oder eine bereits vollzogene Trennung ist, werden häufig nur als Totschlag oder gar
ausschließlich als Körperverletzung mit Todesfolge und nicht als Mord eingestuft. Das
ist eine höchstrichterliche Auslegung, die als Verharmlosung geschlechtsbezogener
Gewalt ausgelegt werden kann. Wir fordern, dass das Mordmerkmal des niederen
Beweggrundes bei Tötungsdelikten nach erfolgter Trennung bzw.
Trennungsabsicht gemäß Art. 46 Istanbul-Konvention festgestellt wird.

• Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein zunehmend innenpolitisches Sicherheitsproblem
in Deutschland. Immer mehr Gewalttaten finden im öffentlichen Raum statt. Daher
fordern wir, die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren
in Nr. 86 (2) RiStBV
mit dem Zusatz zu versehen, dass bei geschlechtsspezifischer
Gewalt von Amts wegen, ein öffentliches Interesse besteht. Sofern dies im Einklang
mit der Sichtweise der Betroffenen ist, sollten Verweisungen auf den Privatklageweg
gemäß Artikel 48 und 49 der Istanbul-Konvention durch Gerichte ausgeschlossen
werden. Für Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt ist es eine unzumutbare
und finanzielle Zusatzbelastung auf dem Privatklageweg, Recht und Unterstützung
einfordern zu müssen.

• Derzeit stehen keine verlässlichen und adäquaten rechtlichen Möglichkeiten zur Verfügung,
um einen gewalttätigen Mann dauerhaft von der gefährdeten (Ex-) Partnerin
fernzuhalten. Näherungs- und Kontaktverbote nach dem bisherigen Gewaltschutzgesetz
reichen oft nicht aus. Trotz bestehender Gewaltschutzanordnung ist es für Täter
möglich, Umgang mit gemeinsamen Kindern zu erwirken. Gerade in schwerwiegenden
Fällen von häuslicher Gewalt kommt es immer wieder bei Übergabesituationen zu
einer erneuten Gefährdung der Frau. Gewalt zwischen den Eltern ist für Kinder eine
schwere psychische Belastung. Zusätzlich sind Kinder oft selbst von der Gewalt betroffen.
Es muss im Interesse des Staates sein, Gewalt gegen Kinder zu verhindern
und psychischen Schaden abzuwenden. Das Kindeswohl muss stärker in den Vordergrund
rücken. Daher fordern wir § 1666 BGB gemäß Artikel 31 und 45 Istanbul-Konvention zu ergänzen und als Maßnahme bei Gefährdung des
Kindeswohls das Sorge- und Umgangsrecht des gewalttätigen Elternteils
auszusetzen, sobald ein Kontakt- und Näherungsverbot gegen die Mutter
besteht.


• Gewaltbereite Männer setzen sich regelmäßig über polizeiliche und gerichtliche Anordnungen
hinweg, wodurch für betroffene Frauen eine hochgradige Gefährdungslage
besteht. Es besteht eine oft langanhaltende Bedrohungslage, bevor es zu Tötungsdelikten
an Frauen kommt. Diese Tötungsdelikte könnten von Seiten der Behörden
mit entsprechenden Maßnahmen ggf. verhindert werden. Diesbezüglich fordern
wir eine Überarbeitung der Strafvorschriften des Gewaltschutzgesetztes
in § 4 Abs. 1 GewSchG gemäß Artikel 45 Abs. 2 Istanbul-Konvention.
In
Hochrisikofällen, bei denen der Verdacht auf weitere Gewaltbereitschaft besteht oder
wenn bereits gegen das Kontakt- und Näherungsverbot verstoßen wurde, sollten
elektronischen Fußfesseln oder andere geeignete Überwachungsformen durch Gerichte
im Eilverfahren ermöglicht werden. Der Gesetzgeber muss die dafür notwendige
personelle und technische Ausstattung schaffen (Spanien verwendet zum Beispiel
eine eigens entwickelte Software zur Risikoermittlung bei häuslicher Gewalt, Polizeischutz
für besonders gefährdete Frauen und die elektronische Überwachung von
gewaltbereiten Männern).

• Die bisherige Rechtsprechung stellte mehrfach das Vorliegen niederer Beweggründe
bei Tötungsdelikten an Frauen in Frage, bagatellisierte Sexualdelikte bei vorherigem
Bestehen einer intimen Beziehung und zeigt insgesamt keine geschlechtergerechte
Handhabung. Es ist daher dringend erforderlich, dass verpflichtende Teilnahmen
an Fortbildungen für Zugehörige der Staatsanwaltschaft und Richterschaft
umgesetzt werden.
Die Istanbul-Konvention sieht in Artikel 15 Abs. 1 ein Angebot
an geeigneten Aus- und Fortbildungen für Angehörige der Berufsgruppen, die mit Betroffenen
und Tätern von geschlechtsbezogener Gewalt zu tun haben, vor. Inhalte
der Fortbildungsmaßnahmen sollten sein: Ursachen und Auswirkungen von geschlechtsspezifischer
Gewalt, Geschlechterstereotypen und Sexualitätsmythen, Verhütung
und Aufdeckung von geschlechtsspezifischer Gewalt, die Bedürfnisse und Rechte
der Betroffenen, und die Verhinderung der sekundären Viktimisierung. Solche verpflichtenden
Fortbildungen können im Deutschen Richtergesetz (DRiG) verankert
werden.


• Derzeitige Regelungen schreiben vor, dass immer das Familiengericht des aktuellen
Aufenthaltsorts der Frau bzw. des gemeinsamen minderjährigen Kindes zuständig ist.
Konkret bedeutet dies: Flieht eine Frau mit ihrem Kind in ein Frauenhaus oder wechselt
den Wohnort, um vor dem gewalttätigen Partner bzw. Vater Schutz zu suchen,
fällt bei familiengerichtlichen Angelegenheiten die Zuständigkeit immer auf das Gericht,
welches sich im Bezirk des Frauenhauses bzw. neuen Wohnortes von Frau und
Kind befindet. Durch die Weitergabe der Information, welcher Gerichtsbezirk für die
Angelegenheit zuständig ist, wird der gewalttätige Partner bzw. Vater gleichzeitig
auch zwangsläufig über den aktuellen Aufenthaltsort von Frau und Kind informiert.
Insbesondere in kleinen Gerichtsbezirken und im ländlichen Raum ermöglicht dies
den Tätern, Wohnort der Frau und des Kindes ausfindig zu machen. Für die Betroffenen
bedeutet dies oftmals akute Gefahr und sie sind gezwungen, erneut umzuziehen.
Wir fordern daher gemäß Artikel 56 f Istanbul-Konvention die Abschaffung der örtlichen Zuständigkeit des Familiengerichts (§122 FamFG) und die
Einführung einer Wahlzuständigkeit der Familiengerichte.
Die Betroffene
sollte wählen dürfen und dabei finanziell unterstützt werden, ob das Familiengericht
des jetzigen Aufenthaltsorts des Kindes oder des letzten gemeinsamen Aufenthaltsorts
der Familie zuständig ist.

TERRE DES FEMMES begrüßt, dass mehr Schutzmaßnahmen durch das Bundesjustizministerium
gegen Gewalt an Frauen umgesetzt werden und sich durch zivilgesellschaftliches Engagement
vieler Organisationen, Vereine und AktivistInnen etwas in der politischen Auseinandersetzung
zum Thema Gewalt an Frauen bewegt. Welche politischen Reformen nötig und
möglich sind, zeigt ein Blick in unsere Nachbarländer Spanien, Österreich, Frankreich und
Großbritannien. Dort gibt es seit Jahren Gesetze gegen Gewalt an Frauen.

Am Beispiel von Spanien zeigt sich, was mit umfangreichen Gesetzesänderungen und Reformen
möglich ist.1 Spanien hat bereits mit dem Gesetz 1/2004 über umfassende Schutzmaßnahmen
gegen geschlechtsspezifische Gewalt, sowie mit dem Gesetz 3/2007 für die Gleichstellung
von Frauen und Männern einen Rahmen für besondere Maßnahmen zur Verwirklichung
der Geschlechtergleichstellung und zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt
etabliert. Die meisten Anforderungen der Istanbul-Konvention, welche von Spanien am
10.04.2014 ratifiziert wurde, sind bereits in diesen Gesetzen reguliert.2
Das Gesetz 1/2004 sieht zum Beispiel die Errichtung von eigenen Gerichten für geschlechtsspezifische
Gewalt vor.3 Die in Spanien eingerichteten Gerichte zur Verfolgung von Gewalt
gegen Frauen sind nicht nur für strafrechtliche, sondern auch zivilrechtliche Angelegenheiten
wie beispielsweise die Einhaltung von Kontakt- und Näherungsverboten zuständig. Das Gesetz
1/2004 regelt in Artikel 64 und Artikel 65 Kontakt- und Näherungsverbote, sowie die
Aussetzung des Sorge- und Umgangsrechts bei häuslicher Gewalt.4 Laut Art. 64 Abs. 3 kann
die Richterschaft eine elektronische Überwachung eines gewaltauffälligen Mannes anordnen,
um die Sicherheit der betroffenen Frau zu gewährleisten. Ebenso kann einem gewalttätigen
Mann laut Art. 65 bereits bei einem Verdacht auf häusliche Gewalt das Sorge- und Umgangsrecht
für Kinder entzogen werden.
Mit dem Gesetz 1/2015 vom 30.03.2015 führte Spanien zudem eine weitreichende, wichtige
Reform im Strafgesetzbuch durch. Unter den zahlreichen Änderungen im Strafgesetzbuch
sind besonders die härteren Strafen für sexualisierte Gewalt hervorzuheben und dass das
Geschlecht als Grund für Diskriminierung bei Strafschärfungsgründen mit einbezogen
wurde.5

Am 12.10.2017 hat Deutschland die Istanbul-Konvention ratifiziert, am 01.02.2018 ist die Istanbul-
Konvention in Kraft getreten. Seit über vier Jahren erfolgt die Umsetzung schleppend
und unzureichend. Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen kostet Deutschland 148 Millionen
Euro täglich.6 In Zeiten der Wirtschaftskrise aufgrund der Covid-19 Pandemie und des Krieges in

der Ukraine ist es wichtiger denn je, den Mehrwert von Präventionsmaßnahmen zu
erkennen. Bereits 2010 belegte die französische Studie „An economic evaluation of intimate
partner violence in France“, dass jeder Euro, der in die Prävention von geschlechtsspezifischer
Gewalt gegen Mädchen und Frauen investiert wird, zu Einsparungen von 87 Euro
führt.7

Ein konsequentes Vorgehen gegen Täter und angemessene Strafen sind ein wichtiger Bestandteil,
um geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen zu bekämpfen. Die politische Verantwortung
beginnt schon weitaus früher: Frauen müssen vor geschlechtsspezifischer Gewalt
geschützt werden. Um Maßnahmen zur Gewaltprävention wirkungsvoll umsetzen zu können,
benötigen wir eine bundesweite Datenerhebung zu geschlechtsspezifischer Gewalt. Derzeit
gibt es beispielsweise keine zusammenhängende Auswertung der polizeilichen Kriminalstatistik
und der Statistik der Strafverfolgung durch das Bundesjustizministerium. Aufgrund der
fehlenden Daten, Rückschlüsse und Zusammenhänge lässt sich das gesamte Ausmaß von
geschlechtsspezifischer Gewalt nicht erfassen.


TERRE DES FEMMES fordert eine schnelle und umfassende Überarbeitung der Strafvorschriften
des Gewaltschutzgesetzes, verpflichtende Teilnahmen an Fortbildungen für Zugehörige
der Staatsanwaltschaft und Richterschaft, die Abschaffung der örtlichen Zuständigkeit des
Familiengerichts, die Feststellung eines Mordmerkmales bei Trennungstötungen, sowie die
Aussetzung des Sorge-und Umgangsrechts bei bestehendem Kontakt- und Näherungsverbot.
Wir fordern Sie als Bundesjustizminister auf: Bitte setzen Sie sich persönlich dafür
ein, Frauen vor Gewalt zu schützen. Bitte schaffen Sie die notwendigen
Rechtsgrundlagen und Präventionsmaßnahmen, damit Frauen frei von Gewalt in
Deutschland leben können.


Mit freundlichen Grüßen
Christa Stolle
Bundesgeschäftsführerin TERRE DES FEMMES


1 https://www.coe.int/de/web/portal/-/spain-action-against-violence-against-women-and-domestic-violence
2 Vgl. Rebeca Moragues Muszynski, Schutz der Frauen- Opfer häuslicher Gewalt, eine Studie des internationalen und europäischen
Rechts am Beispiel von Spanien und Deutschland, 2019, S. 148 (https://media.suub.uni-bremen.
de/bitstream/elib/4255/4/Dissertation_Rebeca%20Moragues%20Muszynski.pdf)
3 Gesetz 1/2004 vom 28.12.2004, Spanien, Art. 44 des Gesetzes 1/2004 vom 28.12.2004 über umfassende Schutzmaßnahmen
gegen geschlechtsspezifische Gewalt, S. 23
4 Ebd. Art. 64 und Art. 65, S. 31
5 Vgl. Rebeca Moragues Muszynski, Schutz der Frauen- Opfer häuslicher Gewalt, eine Studie des internationalen und europäischen
Rechts am Beispiel von Spanien und Deutschland, 2019, S. 154
6 https://eige.europa.eu/news/gender-based-violence-costs-eu-eu366-billion-year

7 Nectoux, M., Mugnier, C., Baffert, S., Albagly, M., & Thélot, B. (2010). [An economic evaluation of intimate partner violence in
France]. Santé Publique (Vandoeuvre-Lès-Nancy, France), 22(4), 405-416.