Gewalterfahrungen gehören zu den größten Problemen von Frauen in Nicaragua

Die Rate der Femizide, d.h. der Tötungen von Frauen aus geschlechtsspezifischen Gründen, nimmt stetig zu: 2018 wurden 57 Femizide in Nicaragua begangen, 2019 waren es 63 und 2020 sogar 71. Auch 2021 scheint sich diese erschreckende Tendenz fortzusetzen, allein in den ersten acht Monaten wurden bereits 42 Femizide registriert. Gleichzeitig nimmt die Brutalität dieser Verbrechen zu und kann z.B. von Folter und Verstümmelungen begleitet sein. Femizide sind die Spitze des Eisbergs. Alltagsgewalt, in aller Regel innerhalb der Familie verübt, zeugt von der strukturellen Diskriminierung von Frauen.

Laut einer Studie der panamerikanischen Gesundheitsorganisation ist jede dritte Frau in Nicaragua von häuslicher Gewalt betroffen, nach einer Studie der Nationalen Universität Managua bis zu 67 Prozent. In ihrer Partnerschaft muss sich fast jede zweite Frau Beschimpfungen oder Beleidigungen anhören. Von sexualisierter Gewalt sind in Nicaragua v.a. minderjährige Mädchen betroffen: Auswertungen rechtsmedizinischer Gutachten zeigen, dass 82 Prozent aller Sexualdelikte gegen Mädchen unter 18 Jahren verübt werden. Nicaragua ist das Land mit der höchsten Rate an Teenager-Schwangerschaften in ganz Lateinamerika und der Karibik - 42 Prozent der Mädchen werden aufgrund von sexuellem Missbrauch schwanger. Nicaragua ist zudem eines der wenigen Länder weltweit, das per Gesetzgebung Abtreibung unter allen Umständen verbietet, d.h. auch nach einer Vergewaltigung oder bei Gefahr für das Leben der werdenden Mutter (was gerade bei Teenager-Schwangerschaften häufig der Fall ist, da der Körper noch nicht weit genug entwickelt ist).

Der jüngste Polizeibericht über Gewalt an Frauen aus den Jahren 2016/17 legte 1.080 angezeigte Vergewaltigungen offen. Die Dunkelziffer gilt als weit höher. Das Fehlen aktuellerer Polizeiberichte oder Statistiken anderer staatlicher Behörden zeugt vom Umgang der nicaraguanischen Regierung mit diesen Verbrechen – der Verzicht auf die Veröffentlichung und oft bereits Erfassung entsprechender Daten macht Gewalt an Frauen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung unsichtbar und verleugnet sie als systemisches Problem, das nicht zuletzt staatliches Handeln erforderlich machen würde.

„Machismo“ fördert Gewalt

Hintergrund für diese alarmierenden Zahlen ist vor allem der unverändert fest verwurzelte „Machismo“ in Nicaragua, demzufolge Frauen als das „schwache Geschlecht“ und Männern untergeordnet gelten. Die Akzeptanz und beständige Reproduktion patriarchal-konservativer Normen bringt es mit sich, dass den Tätern, oft aber auch den betroffenen Frauen, das Unrechtsbewusstsein fehlt. Verschiedene Formen von Gewalt werden nicht als solche erkannt und Wissen über die Rechte von Mädchen und Frauen ist kaum verbreitet. Viele Mädchen lernen in ihrer Sozialisation traditionelle geschlechtsspezifische und soziale Rollenmodelle als gängig und erstrebenswert kennen. Ein niedriger Selbstwert, die Wiederholung der Spirale von innerfamiliärer Gewalt und psychosomatische Erkrankungen prägen die Realität vieler Mädchen und Frauen.

Bildungsmangel verschärft die Situation: Bildung wird besonders in ländlichen Regionen von vielen Familien nicht als notwendig angesehen, da die Frau ohnehin heiraten und sich um die Familie kümmern soll. Es ist daher häufig üblich, dass Mädchen bereits die Grundschule abbrechen. Sie tragen anstelle dessen zum Einkommen der Familie bei oder übernehmen Arbeiten im Haushalt. Frühe Schwangerschaften führen ebenfalls zum vorzeiten Schulabbruch.

Familienharmonie auf Kosten von Frauenrechten

Das Rollenverständnis der Frau spiegelt sich auch in der Politik wider. Besonders negativ ins Gewicht fällt dabei der Schulterschluss mächtiger Institutionen wie Staat und Kirche, die die „natürliche Ordnung“ der traditionellen Familie und deren Erhalt um jeden Preis propagieren. Bei seiner Wiederwahl im Jahr 2006 war der Spitzenkandidat der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (span. Frente Sandinista de Liberación Nacional bzw. FSLN) und auch 2021 noch amtierende Präsident Daniel Ortega vor allem um Wählerstimmen aus dem einflussreichen Lager der katholischen Kirche bemüht. Im Gegenzug erließ er nach seiner Wahl zum Präsidenten eines der schärfsten Abtreibungsverbote weltweit. Neben Ortega rief auch seine Ehefrau und heutige Vizepräsidentin Rosario Murillo zur „Stärkung der nicaraguanischen Familie durch christliches und solidarisches Handeln“ auf. Dieser Maxime folgend sollen Frauen ihre individuellen Bedürfnisse und Interessen dem vermeintlich höheren Ziel des „Familienschutzes“ opfern. Daraus resultieren die Benachteiligung von Frauen und die Missachtung ihrer Rechte.

Gesetze allein helfen nicht

In Nicaragua gibt es zwar Gesetze und Einrichtungen zum Schutz der Frau, es mangelt aber an politischem Willen, diese adäquat umzusetzen bzw. finanziell auszustatten. So wurden in den 1990er-Jahren von der Polizei landesweite Kommissariate für Frauen, Kinder und Jugendliche (span. Comisarías de la Mujer, Niñez y Adolescencia) eingerichtet. Dahinter stand die Idee, dass speziell geschultes Personal Anzeigen gegen innerfamiliäre Gewalt entgegennehmen, die Retraumatisierung betroffener Frauen verhindern und diese an geeignete Stellen zur weiterführenden Betreuung verweisen sollte. Trotz anfänglicher Erfolge wurden die Erwartungen aufgrund fehlender finanzieller Mittel, häufig wechselnden Personals, mangelnder Rechtsdurchsetzung von staatlicher Seite und überwiegender Straffreiheit der Täter nicht erfüllt. Mittlerweile hat die Regierung die meisten spezialisierten Kommissariate geschlossen. Die wenigen, die noch existieren, sind kaum funktionsfähig.

2012 wurde das umfassendes Gesetz 779 zum Schutz von Frauen vor Gewalt erlassen, nur um durch zahlreiche Reformen ab 2013 wieder entkräftet zu werden. Eine der fundamentalen Errungenschaften des neuen Gesetzes war z.B. das Verbot der Mediation zwischen Täter und gewaltbetroffener Frau. Mittlerweile wurde sie für die meisten Fälle wieder eingeführt. Reformbefürwortende vertreten die Auffassung, dass Frauen eine Mitschuld an häuslicher Gewalt tragen und Familien zerstören, wenn sie den Täter anzeigen. Ziel der Mediation ist, dass sich die Frau mit ihrem Aggressor aussöhnt und auf eine Strafanzeige verzichtet. Auch hat sich der Rechtsweg für gewaltbetroffene Frauen geändert: anstelle in ein spezialisiertes Kommissariat zu gehen, muss sich die Frau nun an eine so genannte „Nachbarschaftsberatung“ wenden, in der einflussreiche Personen aus ihrem Wohnviertel sitzen. Wird ihr Fall dort als „schwer“ eingestuft, darf sie zur Polizei und Strafanzeige stellen. Wird er aber als „minder schwer“ eingestuft, muss die Frau zur Mediation. Dort wird ihr Fall weder polizeilich noch statistisch erfasst. Betroffene Frauen werden so nicht nur unter Druck gesetzt, den „Familienzusammenhalt“ über ihre Rechte und Sicherheit zu stellen, sondern auch völlig unzureichend vor (weiterer) Gewalt geschützt.

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