Am 24. Mai 2007 wurde der geschäftige Terminal 1 des Stuttgarter Flughafens ein Ort des Innehaltens. TERRE DES FEMMES und das Frauenhaus Hohenlohekreis hatten zu einer Gedenkveranstaltung mit weißen Rosen für Suzana L. aufgerufen. Der geschiedene Ehemann hatte die junge Frau am 31. März 2007 am Flughafenschalter vor den Augen der Fluggäste erschossen. Sie war auf dem Weg zu ihren beiden Töchtern, die seit ihrer Scheidung im Kosovo, bei der Familie ihres Ex-Mannes lebten. Überkommene Ehrvorstellungen setzten einer von Gewalt geprägten Beziehung ein tragisches Ende.
Ein Leben in Angst
Im November 2000, kaum sieben Jahre davor, heiratete die damals 19-Jährige im Kosovo ihren in Deutschland lebenden Mann Avdyl, dem sie zwei Jahre später dorthin folgte. Gemeinsam mit dessen Eltern und einem seiner Brüder teilten sich das Paar eine 4-Zimmer-Wohnung. Mit der ersten Schwangerschaft sollte für Suzana ein Leben in Gefangenschaft beginnen, ausgesetzt der Willkür eines prügelnden Mannes, der auch vor sexueller Gewalt nicht zurückscheute. Von dessen Mutter unterschützt, hielt er sogar ihre Töchter von ihr fern.
In einem unbeaufsichtigten Moment gelingt ihr am 29. Mai 2006 die Flucht. Bei ihrer Schwester kann sie nicht unterkommen, zu sehr fürchtet deren Familie den Zorn Avdyls. Sie wendet sich an die Polizei. Diese protokolliert die Zeichen ihrer physischen Misshandlung und bringt sie ins Frauenhaus, das das Jugendamt kontaktiert. Als sie hier von ihrem Mann aufgespürt wird, flieht sie in Panik zu ihren Eltern in den Kosovo. Auf Druck von Avdyl- er drohte ihre Familie umzubringen - unterschreibt sie dort im Sommer 2006 die Scheidungspapiere und räumte damit fatalerweise ihrem Mann das alleinige Sorgerecht für die Kinder ein.
Die Behörden schauen weg
Zurück in Deutschland schildert sie im Frauenhaus minutiös die von Gewalt und Erniedrigung geprägten Etappen ihrer Ehe. Sie nimmt Kontakt zum Jugendamt auf. Obwohl auch die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses das Wohl der Kinder gefährdet sehen, wird der Fall verschleppt. Als am 11. Oktober 2006 schließlich der erste Termin vor dem Familiengericht stattfinden soll, erscheint ihr Ex-Mann dort nicht. Er hatte ohne Suzanas Wissen, die Mädchen (beide mit deutscher Staatsbürgerschaft) in den Kosovo gebracht. Und damit Tatsachen geschaffen.
Suzana kämpfte – auch bei den deutschen Behörden – auf verlorenen Posten. Trotz Avdyls Strafregister, trotz der von der Polizei dokumentierten Körperverletzungen und das Wissen um dessen Waffe, wird sie nicht gehört, bleibt schutzlos.
„Du wirst deine Kinder nie sehen. Vorher bringe ich dich um!“ - Avdyl konnte seine Drohung in die Tat umsetzen.
Mit der Gedenkveranstaltung am Stuttgarter Flughafen wurde einer Frau gedacht, die Zeit ihres Lebens vergeblich versucht hat, aus der Gewaltspirale einer patriarchal dominierten Familie auszubrechen. Wenigstens nach ihrem Tod sollte ihr Schicksal öffentlich gemacht werden.
TERRE DES FEMMES hat den Strafprozess von Avdyl verfolgt und den „Fall“ publik gemacht.
Ihre Töchter konnten trotz hartnäckiger Bemühungen nicht aus der Familie des Täters gehollt werden.
Eine Mutter geht an die Öffentlichkeit
Im September 2003 wandte sich die aus dem Kosovo stammende Hanife G. an TERRE DES FEMMES. Ihr Mann Latif hatte im März ihre älteste Tochter umgebracht. Sie hatte sich seinen tradierten Wertvorstellungen widersetzt, einen eigenen Lebensstil gesucht, ja sogar einen Jungen geliebt, dessen Mutter Bosnierin war. Der Vater begeht einen „Ehren“-Mord. TERRE DES FEMMES nennt die brutale Tat beim Namen; Hanife G., die mit sechszehn zwangsverheiratet wurde, erkennt in TERRE DES FEMMES die für sie richtige Anlaufstelle. Sie möchte für ihre Tochter eine öffentliche Gedenkfeier, um an sie zu erinnern und um anderen Betroffenen Mut zu machen, sich rechtzeitig Hilfe zu suchen.
Am 22. November fanden sich in Tübingen etwa 300 Menschen zu einer berührenden Kundgebung ein.
Hanife G. ging noch einen Schritt weiter: In Kooperation mit TERRE DES FEMMES veröffentlichte sie im Januar 2005 ihre Lebensgeschichte von der Kindheit im Kosovo über die Zwangsehe mit Latif bis zu dem unfassbaren Mord an ihrer Tochter. Das Buch nennt sie „Mein Schmerz trägt deinen Namen“.
TERRE DES FEMMES begleitete sie bei Lesungen, bei Auftritten in Fernsehsendungen. Gemeinsam mit der Performancekünstlerin Dorothea Walter gestaltete Hanife G. eine Szenische Lesung mit, die im Rahmen der TDF-Kampagne „Nein zu Verbrechen im Namen der Ehre“ am 25. November 2005 im Theaterhaus Stuttgart gezeigt wurde.
Aylin K. - Überlebende eines Ehrenmordanschlags
Auch Aylin K. trat bewusst aus der Anonymität heraus, trotz der ihr zugefügten schweren Verletzungen. Im November 2007 stach ihr Ex-Mann 26 Mal auf ihren Körper und ihr Gesicht ein. Dass sie überlebte, grenzte an ein Wunder.
In ihrer Ehe führt sie ein von ihrem Mann kontrolliertes Leben, bar jeder Möglichkeit, eigenständig zu handeln, eigenständig aufzutreten. Sie lässt sich 2003 scheiden, lebt aber auf Druck ihrer Familie und aus finanzieller Not bis Juni 2007 wieder mit ihm zusammen. Als sie sich schließlich endgültig trennt, fühlt er sich in seiner Ehre verletzt. Er taucht an ihrem Arbeitsplatz auf und versucht, sie umzubringen. Auch in ihrem Fall versagten die Behörden: Das Verhalten des Jugendamtes sei für sie der 27. Messerstich gewesen, so Aylin K. in einem Interview mit TERRE DES FEMMES. Als sie ihre Kinder, die nach der Tat im Heim untergebracht wurden, nach ihrem Aufenthalt im Krankenhaus mit nachhause nehmen möchte, verlangt das Jugendamt die Erlaubnis des Vaters…
Ihr Ex-Ehemann wurde wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung zu einer Haftstrafe von 13 Jahren verurteilt. TERRE DES FEMMES veranstaltete zum Auftakt des Prozesses eine Solidaritätskampagne für Aylin K.
Das Buch, das sie verfasst, ist für sie Ausdruck des „Nicht-Schweigen-Wollens gegenüber einer grausamen und feigen Tat“. Es trägt den Titel: "Ich schrie um mein Leben".
Mit der Unterstützung von TERRE DES FEMMES hält Aylin K. zahlreiche Lesungen und nimmt an Veranstaltungen teil. So diskutierte sie 2010 mit Cem Özdemir auf einer Podiumsdiskussion zum Thema "Ehrenmorde und Zwangsheirat in Deutschland" in der Urania in Berlin.
Hanife G. und Aylin K. haben sich inzwischen aus Öffentlichkeit zurückgezogen. Ihr couragiertes Auftreten hat sie viel Kraft und Energie gekostet. Aber vor allem auch dank ihres Einsatzes sind Ehrverbrechen kein Tabu-Thema mehr in unserer Gesellschaft.
TERRE DES FEMMES wird weiterhin laut auf Gewalt im Namen der Ehre aufmerksam machen.
Am 25. November 2020 starten wir die Kampage #meinherzgehörtmir – Gegen Zwangsverheiratung und Frühehen.
Quellen und weiterführende Literatur
Rahel Volz: Weil sie ihre Kinder sehen wollte. In: Frauensolidarität 1/2008, Seite 22f.
Karin Miedler: Eine Demo für Ulrika. In: Menschenrechte für die Frau 1/2004, Seite 19
Myria Böhmecke; Ines Roth: Ein Ehrenmord in Deutschland – Eine Mutter geht an die Öffentlichkeit. In: Menschenrechte für die Frau 2/2005, Seite 6f.
Aylin Korkmaz im Gespräch über „Ehre“. In: Newsletter „Gewalt im Namen der Ehre/Internetportal zwangsheirat.de" 1/2010, Seite 2f.
Markus Krischer: Ihr viertes, letztes Leben. In: Focus 24/2007, Seite 36f.
Hanife Gashi mit Sylvia Rizvi: Mein Schmerz trägt deinen Namen. Ein Ehrenmord in Deutschland. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005, 256 Seiten.
Aylin Korkmaz: Ich schrie um mein Leben. Ehrenmord mitten in Deutschland. Fackelträger Verlag GmbH, Köln 2010, 224 Seiten.
Stand August 2020