Unsere Leseempfehlungen

Koschka Linkerhand und Azadiya H.: Um mein Leben

Ein biografischer Bericht
Querverlag, Berlin, 2022. 232 Seiten, 18;- €

Azadiya bedeutet auf Kurdisch „Freiheit“. Es ist das Pseudonym, unter dem sich die junge Jesidin der Autorin Koschka Linkerhand anvertraut, um ihr die Geschichte ihrer Flucht zu erzählen.

Azadiya erlebt ihre Kindheit und Jugend als Hölle. Ihr Vater ist gewalttätig und verprügelt regelmäßig seine Frau und seine Kinder. Über viele Jahre hinweg wird Azadiya teilweise täglich von ihren beiden Brüdern sexuell missbraucht. Eine ihrer wenigen Vertrauten, ihre Cousine Berxwedan, flieht mit 18 Jahren in ein Frauenhaus. Ihr Vater spürt sie auf und ermordet sie, um die Ehre der Familie wieder herzustellen. Ab diesem Zeitpunkt ist für Azadiya klar, sie muss weg, denn als lesbische Frau muss auch sie sich vor ihrer Familie in Acht nehmen.

Noch vor ihrem 21. Geburtstag kann sie mithilfe einer Beratungsstelle in einer anonymen Mädchenzuflucht Unterschlupf finden. Die Unterstützung vom Jugendamt und von der Polizei, erhält sie erst, als sie ihren Familiennamen nennt, denn die Stadt konnte sich – so Azadiya - keinen zweiten Ehrenmord leisten. Azadiyas Berichte offenbaren, wie schwer sich die Behörden mit einer adäquaten Unterstützung von bedrohten jungen Frauen tun

Mit der erfolgreichen Flucht endet das Buch allerdings nicht. Azadiya baut sich, trotz der anhaltenden Bedrohung durch ihre Familie und des mangelnden Beistands durch die Behörden, mühsam ein neues Leben auf. Die Angst, sie könnte jedes Mal, wenn sie aus dem Haus geht, ermordet werden, wird zur ständigen Begleitung. In ihrer Ausbildungsstelle in einer Autowerkstatt wird sie täglich mit Homophobie konfrontiert.

Behutsam thematisiert Linkerhand sensible Themen, wie Rassismus, Homophobie oder Suizid, reflektiert gemeinsam mit Azadiya die verwendete Begriffe und Annahmen.

Als praktizierende Jesidin, die sich viel mit ihrer Religion auseinandergesetzt hat, ist für Azadiya klar, dass die Gewalt, die sie erfahren hat, nicht im Glauben begründet ist, sondern in den fest verankerten patriarchalen Strukturen.
Koschka Linkerhand ist es wichtig hervorzuheben, dass mit dem Buch nicht die Geschichte einer Parallelgesellschaft erzählt wird. Es geht nicht darum, mit dem Zeigefinger auf „die Jesiden“ zu zeigen. Um zu verdeutlichen, dass Gewalt gegen Frauen und Mädchen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, überall in der Gesellschaft anzutreffen ist, hat Linkerhand ihre eigenen Erfahrungen als Frau in das Buch miteinfließen lassen. So können wir zwischen Azadiyas Erzählungen in kursiven Passagen die Fragen und Gedanken der Autorin lesen. Entstanden ist daraus eine Art Dialog zwischen Azadiya und Linkerhand. Ein Dialog, der uns deutlich macht, dass Gewalt und Unterdrückung an und von Frauen, sich – dank patriarchaler Strukturen - auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft wiederfinden lassen.

Mit ihrer Lebensgeschichte möchte Azadiya  auch anderen von Gewalt im Namen der Ehre bedrohten Frauen helfen. Das Schwierigste dabei ist nicht die Planung, sondern, dass die Frauen dauerhaft ihre Familien verlassen müssen: „Man muss mit der Sehnsucht nach der Familie leben, wie eine trockene Alkoholikerin“. Die Töchter und Mütter sind gefangen in einem sozialen System, dem sie nur schwer entkommen können: „Als Frau ist man Teil der Familie, Teil der Gemeinschaft, und bezieht daraus sein ganzes Selbstbewusstsein. Die Macht über die Töchter, ist die einzige Macht, die die Frauen haben. Darum haben die Töchter auf keinen Fall etwas Besseres verdient als das, was ihre Mütter erlitten haben“.

Über einen Instagram-Account teilt Azadiya ihre persönliche Lebensgeschichte und hilft so Betroffenen bei ihrer Befreiung.

Djaïli Amadou Amal: Die ungeduldigen Frauen

Roman
Orlanda Verlag, Berlin 2022, 172 Seiten, 18,00 €

In ihrem Roman „Die ungeduldigen Frauen“ erzählt Djaïli Amadou Amal die Geschichten von Ramla, Hindou und Safira – drei Frauen aus dem Norden Kameruns. Die Autorin, als Jugendliche selbst zwangsverheiratet, setzt sich mit ihrem 2012 gegründeten Verein „Femmes du Sahel“ für die Rechte von Frauen ein.
Auch ihr Roman ist eine Form des Widerstands: Die fiktiven Geschichten, beruhend auf wahren Begebenheiten, schaffen einen Einblick in die unterschiedlichen Formen von Gewalt an Frauen. Sie handeln von Zwangsheirat, häuslicher Gewalt und Polygamie – von Verzweiflung, Frustration und Wut. Jede Geschichte steht für sich und doch sind sie miteinander verbunden.

Die 17-jährige Ramla wird gezwungen, mit Alhadji, der viel älter als sie und bereits verheiratet ist, eine Ehe zu schließen. Eigentlich war sie bereits mit ihrem Freund Aminou verlobt und träumt davon, mit ihm nach Tunesien zu ziehen und dort Apothekerin zu werden. Doch die Eltern entscheiden sich für Alhadji, den wichtigsten Mann der Stadt, der sich mit der jungen, schönen und gebildeten Frau schmücken will. Vergeblich versucht die tieftraurige Ramla ihre Eltern umzustimmen.
Safira, die erste Frau von Alhadji, ist entsetzt, als sie von der Heirat ihres Ehemannes mit einer Zweitfrau erfährt. Wird ihr Mann jetzt sie und ihre Kinder vernachlässigen? Safira würde alles dafür tun, um ihre Rivalin aus ihrem Leben zu verbannen.

Auch Hindou, Ramlas jüngere Schwester, wird gegen ihren Willen mit ihrem Cousin Moubarak verheiratet. Der drogenkonsumierende Moubarak hat ein Dienstmädchen sexuell missbraucht und soll nun durch die Ehe auf die richtige Bahn gelenkt werden. Seine zukünftige Ehefrau Hindou hat er bereits vor der Verlobung beinahe vergewaltigt. In ihrer Ehe wird sie Moubaraks ausgeliefert sein.

Als Frauen sind Ramla, Hindou und Safira dem Druck der streng patriarchalischen Strukturen und der damit verbundenen Traditionen ausgesetzt. Diese verlangen Unterordnung, Zurückhaltung und Unaufdringlichkeit sowie Respekt, Gehorsam und Dankbarkeit gegenüber ihren Familien, aber vor allem gegenüber ihren Vätern, Brüdern, Onkeln, Cousins und Ehemännern. Mit jedem kleinsten Widerstand gegen diese Traditionen gefährden sie die Ehre ihrer Familien.

Den verzweifelten Frauen wird immer wieder geraten, sich in Geduld zu üben. Munyal, Geduld in der Sprache Ful, ist eine bedeutende Tugend in ihrer Kultur.
Jede der Geschichten lässt mehr als erahnen, wie schwer es ist, geduldig zu sein; das eigene Leben als Schicksal hinzunehmen, ein ungerechtes Schicksal, das Selbstverleugnung und Ohnmacht bereithält.
„Ich habe das Gefühl zu ersticken, vergeblich nach Luft zu ringen und nicht mehr zu wissen, wie man atmet. Ich lebe, ohne zu leben,“ bekennt Hindou in ihrer Not.

Djaïli Amadou Amal lässt ihre Protagonistinnen in der Ich-Form erzählen, gibt ihnen dadurch eine eigene Stimme. So eröffnen sich uns drei unterschiedlichen Perspektiven auf gesellschaftliche Strukturen und Mechanismen. Durch die prägnante und verständliche Sprache tauchen wir schnell ein in die Welt von Ramla, Hindou und Safira. Eine literarisch geschaffene Welt, welche die noch immer von allgegenwärtiger geschlechtsspezifischer Gewalt geprägte Realität von Frauen aufdeckt.

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Amal in Zusammenarbeit mit Arno Becker: Wie ein Schmetterling

Mein Weg aus dem Kokon der Traditionen
Selbstverlag, 2021, 91 Seiten. ISBN 9798764727325, 13,90 €

Eine Marokkanerin wird im Alter von 16 Jahren mit ihrem in Deutschland lebenden Cousin verheiratet, der ihr vorher völlig unbekannt war. Auf das Eheleben und das Leben in einem fremden Land war sie in keiner Weise vorbereitet, als sie allein in ein Flugzeug nach Deutschland gesetzt wurde.

Ein Einzelschicksal? Keinesfalls. Wie viele „Kinderbräute“ wurden auf diese Weise nach Deutschland exportiert? Selbst wenn es Statistiken dazu gäbe, würden sie die Bedeutung dieses Phänomens nicht erfassen. Denn bei jeder genannten Zahl müsste stets mitgesagt werden: „Dunkelziffer unbekannt.“ Was allerdings das Ausmaß dieser seit 2018 in Deutschland gesetzeswidrigen Handlung erahnen lässt, ist die Tatsache, dass sowohl die Eltern als auch die Schwiegereltern es völlig normal fanden, wenn eine Tochter, ohne gefragt zu werden, in einem eiligen Abkommen zwischen Vater und ihrer zukünftigen Familie (das Auto der Besucher versperrte die Straße und das Müllauto hupte) den Besitzer wechselt.

Ist das zu drastisch ausgedrückt? Amal hat es so empfunden. Bei der Hochzeit ihres Bruders wurden sich ihr Vater und der Vater ihres Cousins einig. „Für unsere beiden Papas war klar, dass man diesen Hauptpersonen ja später immer noch sagen kann, dass und wen sie heiraten würden. Man informiert ja auch nicht ein Schaf darüber, wenn es verkauft werden soll. Und nicht ein Huhn, wenn man es schlachten will. … Es war mein Papa, der etwas unterschrieben hat. Ich war ja erst sechzehn. Auf der anderen Seite hat mein Cousin unterschrieben, genauer gesagt, er hat gemacht, was sein Vater ihm sagte.“

Gab es eine Alternative für Amal? „Ich weiß, man kann immer „nein‘ sagen. … Aber ich fühlte es als sei es meine ‚Bestimmung‘. Wenn Allah mich also für ein solches Leben bestimmt hatte, wieso hätte ich etwas anderes wollen sollen?“


Für Amal selber war also ihre Verheiratung normal, auch, dass sie nicht aufgeklärt wurde, was sie als Ehefrau erwartete, und auch, dass sie mit 22 schon 3 Kinder hatte. “Wie kommt es zur Schwangerschaft? Was ist mit dem monatlichen Zyklus?  Wie soll ich eine Schwangerschaft bewältigen? Wie erzieht man ein Kind? Ich wusste nicht einmal, wie das Baby aus mir herauskommen soll!“

Und dennoch ist Amals Geschichte eine besondere. Sie findet nach 26 Ehejahren den „Weg aus dem Kokon ihrer Tradition“, wie es im Titel ihres Buches heißt.

Was bedeutet Tradition für Amal und was meint sie mit „Weg aus dem Kokon“?

Die Tradition sind Erwartungen an eine Tochter: „früh das Nest verlassen, denjenigen heiraten, den die Eltern mir aussuchen, Kinder gebären, gehorchen, wie es sich für eine marokkanische Frau gehört“. Und resigniert fügt sie hinzu: „Wenn man weiß, dass diese Dinge sowieso von einem erwartet werden, was soll man da noch mitreden?“

Amal macht andererseits deutlich, dass Tradition auch Schutz und Zugehörigkeit bedeutet. Warum fällt es Frauen so schwer sich aus der Tradition zu befreien, auch wenn sie in Deutschland andere Lebensläufe aus nächster Nähe kennen lernen und sehen, dass Frauen über ihren Werdegang selber bestimmen?  Amal erklärt das am Beispiel des Kopftuches: „Ob ein Kopftuch ‚passt‘, wenn man in Deutschland lebt? In dieser Frage bin ich mit meinen Überlegungen noch nicht fertig. … In meiner Jugend habe ich das Kopftuch ab dem Moment getragen, wo ich meine Tage bekam. ... Später in Deutschland habe ich es weggelassen. Nach Papas Tod habe ich es wieder getragen. … Eine ‚anständige Frau‘ verbirgt ihre Haut. … Zuletzt habe ich jahrelang Kopftuch getragen. Mehr aus Gewohnheit. Es gehört einfach dazu. … Ich kann nicht einfach weglassen, woran ich mich gewöhnt habe.“
Amal ist sich auch nicht schlüssig, ob sie eine marokkanische Deutsche oder eine deutsche Marokkanerin ist. In jedem Fall fühlt sie sich nicht ganz dazu gehörig. „Sowohl als auch“ bedeutet gleichzeitig „weder noch“. Da hilft manchmal ein äußeres Zeichen wie das Kopftuch, sich zu positionieren. Aber dann entspricht es wiederum auch nicht mehr der gelebten Wirklichkeit.

An einem denkwürdigen Datum – den 27. November 2017 nennt Amal – hat sie erstmals die Initiative ergriffen und die Änderung ihres Lebens eingeläutet: Sie hat es wahrgemacht, was sie hundertmal zuvor angekündigt hatte, nämlich die Polizei zu rufen, als ihr Ehemann ihr wieder einmal Gewalt antat. Von da an war sie es, die ihr Leben gestaltete – nach 26 Ehejahren! Sie verließ die Tradition, die sie wie ein Kokon eingeschlossen hatte. Sie war erstarkt, so dass sie jetzt auf eigenen Füßen stehen, wie ein Schmetterling davonfliegen konnte.

Amals Geschichte ist lesenswert für alle, die eine andere Sozialisation als Amal erfahren haben, um verstehen zu lernen, was es bedeutet, wenn jemand in dem Bewusstsein aufwächst, nur der gottgegebenen „Bestimmung“ zu folgen, wenn sie gehorcht. Es ist erst recht lesenswert für alle Mädchen und Frauen, die sich noch in ihrem Kokon befinden und die durch diese langwierige, aber letztendlich erfolgreiche Lebensgeschichte ermutigt werden, ihren Kokon zu verlassen, wenn der Leidensdruck groß genug ist. Sie ermutigt vor allem auch dazu, nach einem ersten oder zweiten missglückten Versuch, es ein drittes oder auch viertes Mal wieder anzugehen.
Amals Geschichte zeigt: Es lohnt sich!

TDF-Vorstandsvorsitzende Prof. Dr. Godula Kosack

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