Hintergrund

Im November 2016 unterzeichneten die kolumbianische Regierung und die FARC-Guerilla nach 52 Jahren des bewaffneten Konflikts mit rund 220.000 Toten und über acht Millionen Binnenvertriebener und Geflüchteter einen Friedensvertrag. Dieser sieht die Überwindung wesentlicher Konfliktursachen vor. Dazu gehören die ungleiche Landverteilung, die mangelnden Möglichkeiten politischer Teilhabe und die Drogenökonomie, die eine wichtige Einnahmequelle für die FARC und andere bewaffnete Gruppen darstellte oder noch darstellt.  Die Umsetzung des Friedensvertrags ist jedoch mit erheblichen politischen Widerständen verbunden.

Mehr als 50 Jahre bewaffneter Konflikt

Gegen die Umsetzung des Friedensvertrags von 2016 gibt es noch starken politischen Widerstand.
© Alejandro Turola/Pixabay

Bäuerliche Guerillagruppen mit marxistischen und befreiungstheologischen Idealen begannen in den 1960er Jahren, sich gegen die ungleiche Verteilung von Landbesitz, Landraub sowie die Übergriffe der kolumbianischen Armee und paramilitärischer Kommandos im Dienst von GroßgrundbesitzerInnen zu wehren. Aus diesem Widerstand gingen 1966 die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – FARC) hervor. Die FARC entwickelte sich zur größten, wenn auch nicht einzigen, Guerillabewegung des Landes. Ihr Ziel bestand in der Übernahme der politischen Macht im Land, um die Politik in Richtung der Überwindung sozialer Ungerechtigkeiten zu verändern. Ihre Aktionen richteten sich hauptsächlich gegen die staatlichen Sicherheitskräfte und die oft mit diesen verbundenen Paramilitärs. Bis heute besteht in der kolumbianischen Gesellschaft eine extreme Kluft zwischen Arm und Reich. Die wirtschaftliche und politische Macht konzentriert sich in den Händen weniger Familien, während es großen Teilen der Bevölkerung an Möglichkeiten zur langfristigen Existenzsicherung bzw. Verbesserung des Lebensstandards und politischer Teilhabe mangelt.

Regierung von Präsident Duque

Mit Iván Duque hat seit August 2018 ein Kritiker des Friedensprozesses das Präsidentenamt inne. Er kündigte „Anpassungen“ bei der Umsetzung des Friedensvertrags an und verweigerte einer vom Kongress verabschiedeten gesetzlichen Grundlage für die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden seine Unterschrift. Auch die Ermordung zahlreicher Ex-KombattantInnen der FARC sowie von sozialen Führungspersonen werden innerhalb wie außerhalb der Landesgrenzen als verheerend für den Friedensprozess angesehen.

Mit Iván Duque hat seit August 2018 ein Kritiker des Friedensprozesses das Präsidentenamt inne. Er kündigte „Anpassungen“ bei der Umsetzung des Friedensvertrags an und verweigerte einer vom Kongress verabschiedeten gesetzlichen Grundlage für die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden seine Unterschrift. Auch die Ermordung zahlreicher Ex-KombattantInnen der FARC sowie von sozialen Führungspersonen werden innerhalb wie außerhalb der Landesgrenzen als verheerend für den Friedensprozess angesehen.

Proteste der Bevölkerung

Vor allem gegen die zunehmende Militarisierung der kolumbianischen Polizei, aber auch gegen erneute Steuererhöhungen zu Lasten der bereits wirtschaftlich benachteiligten Bevölkerung gehen seit November 2019 Hunderttausende von v.a. jungen KolumbianerInnen auf die Straßen. Sie fordern u.a. die Auflösung der Polizeieinheit ESMAD zur Kontrolle von Unruhen und Massenansammlungen. Diese ist für ihre Brutalität bekannt. Nach UN-Angaben wurden seit Beginn des Jahres 2020 bereits 33 Massaker in Kolumbien verübt. Hintergrund ist, dass bis heute viele Elemente des Friedensabkommens, u.a. die Reorganisation und Reduzierung der Streitkräfte, aber auch essentielle Landreformen, noch nicht umgesetzt worden sind. In den einst von der FARC kontrollierten Gebieten, wo Polizei und Militär auch heute noch nicht präsent sind, übernehmen v.a. Drogenbanden, Kriminelle, BetreiberInnen illegaler Bergwerke, rechtsextreme Milizen oder abtrünnige Guerilla-KämpferInnen die Macht. Wer dies zu ändern versucht, und sei es auch nur durch soziales Engagement, wird als Bedrohung angesehen und massiv bedrängt oder „ausgeschaltet“. Die Corona-Pandemie und deren wirtschaftliche Folgen verschärfen die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft noch zusätzlich.

Morde an AktivistInnen

Morde an Personen, die sich in den von der organisierten Kriminalität beherrschten Gebieten für soziale Belange und den Schutz der Menschenrechte einsetzen, nehmen stark zu. Seit Inkrafttreten des Friedensabkommens wurden laut dem kolumbianischen Institut für Entwicklungs- und Friedensstudien „Indepaz“ mindestens 1.358 AktivistInnen und Ex-KombattantInnen gezielt getötet. 2020 galt dabei als das bislang gewaltvollste Jahr: 309 soziale AktivistInnen und MenschenrechtsverteidigerInnen sowie 64 ehemalige FARC-KämpferInnen wurden ermordet. Nach einem Bericht von Front Line Defenders kamen 2020 von den 331 weltweit ermordeten AnführerInnen sozialer Bewegungen mit Abstand die meisten – 117 – aus Kolumbien. Nach Berichten der New York Times kollaborierten kriminelle Täter(banden) in mehreren Fällen mit Polizei und Militär, um die Morde zu organisieren. UN-Angaben zufolge bleiben 87 Prozent der politisch motivierten Morde in Kolumbien ohne juristische Konsequenzen. Betroffen sind neben AktivistInnen jedoch auch BürgerInnen, die weder politisch aktiv noch zivilgesellschaftlich organisiert sind, zu Verbrechen oder Menschenrechtsverletzungen in ihrer Region aber nicht geschwiegen haben, wie z.B. Indigene, Gesundheitspersonal, Bergleute, Mitglieder von Landwirtschaftskooperativen, religiöse Führungspersonen, Studierende, SozialarbeiterInnen und WächterInnen von Nationalparks.

Seit April 2021 kommt zu diesen Morden die gewaltvolle Niederschlagung der weitgehend friedlichen BürgerInnen-Proteste durch die amtierende Regierung bzw. deren Streifkräfte oder die mit diesen verbundenen Paramilitärs.

Frauenrechtliche Lage

Auch wegen ihres Einsatzes für Frauenrechte werden AktivistInnen verfolgt und getötet.
© Anette Bratteberg/Unsplash

Auch die frauenrechtliche Lage in Kolumbien bereitet Sorgen. Die Beobachtungsstelle für Femizide in Kolumbien berichtete von 630 Femiziden, das heißt Morden an Frauen aufgrund ihres Geschlechts, im Jahr 2020. Darunter waren Fälle, in denen Frauen aufgespießt, angezündet, sexuell missbraucht, gefoltert und zerstückelt wurden.

Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung

Vor allem ist aber das Ausmaß sexueller Ausbeutung von Minderjährigen und Jugendlichen in Kolumbien erschreckend hoch. 34 Prozent der Menschen in Kolumbien leben unter der Armutsgrenze. In ländlichen Gebieten gelten sieben Millionen KolumbianerInnen als arm und zwei Millionen als extrem arm. Die Arbeitslosenquote ist eine der höchsten in Lateinamerika und der Karibik. Fast 30 Prozent aller Familien haben kein menschenwürdiges Dach über dem Kopf, fünf Prozent sind obdachlos. Weltweit steht Kolumbien an siebter Stelle der am stärksten von sozialer Ungleichheit betroffenen Länder. Viele Familien sehen keinen anderen Ausweg, als ihre Töchter und Söhne an Prostitutionsringe zu verkaufen. Gewalt und Vernachlässigung in den Familien, organisierte Kriminalität, sexualisierte Gewalt und Drogenhandel verschärfen häufig die Lage. Auch die humanitäre Krise in Venezuela seit 2010 und die Flucht von rund 1,5 Millionen Menschen nach Kolumbien in diesem Zusammenhang haben zu einem Anstieg der Fälle von Menschenhandel geführt. 2019 wurden offiziell 124 Betroffene von Menschenhandel identifiziert, die Dunkelziffer gilt jedoch als wesentlich höher. Die überwiegende Mehrzahl der Betroffenen - 109 - war weiblich. In 65 Prozent der Fälle ging es um sexuelle Ausbeutung.

Zudem wurden zwischen 2012 und 2018 laut UNICEF über 48.000 Fälle von sexuellem Missbrauch und Ausbeutungen von Minderjährigen in Kolumbien im Internet gemeldet. Seit 2016 verbessern Hilfsorganisationen in Zusammenarbeit mit kolumbianischen Behörden die Meldesysteme im Internet, seitdem wurden allein über 13.000 Websites mit kinderpornographischen Inhalten gesperrt.

Beispiel Cartagena

Vor allem die Stadt Cartagena mit rund 915.000 EinwohnerInnen, aus der auch July Cassiani-Hernandéz stammt, gilt als Hotspot für sogenannten Sextourismus in Kolumbien. In Cartagena hatte die sexuelle Ausbeutung Minderjähriger und Jugendlicher bereits vor 15 Jahren derartige Ausmaße erreicht, dass die NRO Fundación Renacer / ECPAT Kolumbien 1996 die Strategie „La Muralla“ ins Leben rief, die mittlerweile auch von städtischen Behörden übernommen wurde. „La Muralla“ ist eigentlich der koloniale Schutzwall Cartagenas, der die Altstadt umschließt und mit dem die spanischen BesatzerInnen im 16. Jahrhundert Gold und Rohstoffe zu schützen versuchten.

Der heutige, symbolische Schutzwall gilt Kindern und Jugendlichen: Zivilgesellschaft, Tourismusverbände, Hotels, StrandverkäuferInnen, TaxifahrerInnen, Jugendorganisationen, Bildungseinrichtungen, Polizei und Staatsanwaltschaft werden geschult, Gefahrenanzeichen und -Situationen zu erkennen, um zu verhindern, dass Kinder und Jugendliche in die Fänge von MenschenhändlerInnen geraten.

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Externe Berichte zur Menschenrechtslage in Kolumbien:

Quellen

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